Gottfried Keller
Züricher Novellen
Gottfried Keller

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Als sich Frauen und Männer wieder niedergelassen hatten, ergriff der Bischof abermals das Wort.

»Wir wollen nun«, sagte er, »nicht länger säumen, sondern so bald als möglich Ernst machen. Mir scheint am besten, wenn wir gleich eine junge Kraft für unser Vorhaben, das weit aussehend ist und Ausdauer heischt, heranziehen und unseren weißblauen Knaben dort zum Herold und Mareschalk des Feldzuges ernennen. In drei Tagen werde ich wieder auf meinem Hirtensitze sein; dann mag er sein zierliches Kleid ausziehen und sich in ein Reiterröcklein begeben, so es Euch recht ist, Freund Rüdiger, um das Liederbuch in Konstanz zu holen. Ich sage das, weil ich dieses sowohl als andere Sachen, die ich hervorsuchen will, ihm selbst übergeben und alle diese Dinge mit einiger Unterweisung begleiten möchte. Denn seit den Lebenstagen des Königs und in dem Trubel der letzten zwei Jahre überhaupt habe ich meine Mappen und Truhen, die noch manches bergen, nicht mehr geöffnet und gemustert. Habe ich dem Knaben dann meine Gedanken über dies und jenes mitgeteilt und hat er sie, wie ich hoffe und glaube, richtig erfaßt, so wird er Euch und Eurem Sohne, dem Kustos, alles zur weiteren Erwägung und Entscheidung vortragen, oder wie dünkt Euch?«

»Ganz vortrefflich scheint mir alles, was Ihr sagt,« erwiderte Rüdiger; »ist der junge Mann vom Berge und nicht minder sein Vater, mit welchem ich selber sprechen werde, damit einverstanden, daß er uns in dieser Sache diene oder vielmehr behilflich sei, so wollen wir gleich darangehen. Am besten wird sein, wenn er das Buch gleich selber schreibt, so haben wir die Aussicht, daß es ganz aus der gleichen Hand entstehen wird, auch wenn wir selbst darüber wegsterben sollten!«

Johannes befand sich wie in einem Traume, so wunderbar ging ihm alles durch den Kopf; er vermochte bloß freudig und verwirrt sich zu verneigen, als ihn der Kustos Johannes fragend ansah, und ging dann, als dieser ihm leise andeutete, daß es jetzt schicklich für ihn sei, sich zu entfernen, sich gegen alle abermals neigend, seine Fiedel unter dem Arme, schleunig davon.

So verwirrt und befangen er war, hatte er doch Geistesgegenwart genug, sich auf Flur, Treppen und Hof umzusehen, so gut es mit seinen raschen Schritten sich vertrug; allein er sah oder hörte nicht ein Stäublein und nicht einen Laut von der jungen Dame Fides, die sich in das entlegenste Gemach der weitläufigen Ritterbehausung zurückgezogen zu haben schien.

*

In etwa acht Tagen ritt er in der Tat nach Konstanz, und zwar auf einem Klepper, welcher zum Gebrauche der Chorherren diente und insbesondere von dem Kustos benutzt wurde, der unruhiger Natur war und immer seine Ausritte zu machen hatte. Der Bischof empfing Johannes mit unverminderter Leutseligkeit und ließ ihn sogleich gut verpflegen. Nachdem er seine Regierungsgeschäfte abgetan, nahm er den Jüngling in sein Kabinett und zeigte ihm das Liederbuch (dasselbe ist jetzt in Stuttgart und führt den Namen der Weingartner Handschrift, weil es sich eine Zeitlang im Besitze des Klosters Weingarten befunden hat); er zeigte ihm die Einrichtung, und da er bemerkte, daß Johannes den Bau der verschiedenen Sprüche, Lieder, Leiche usw. bereits kenne, machte er ihn nur aufmerksam auf die Notwendigkeit, die einzelnen Stücke wohl auseinander zu halten und sie daraufhin näher zu prüfen. Zugleich brachte er ein Paket kleinerer Handschriften herbei, welche teils solche Lieder enthielten, die von den Dichtern des größeren Buches herrührten, aber dort fehlten, zum anderen Teil aber Sänger aufwiesen, die in dem Buche gar nicht standen. Alle diese Sachen mit ihm durchgehend, zeigte er ihm an einer Anzahl Stellen, wo der Text durch die Schreiber verdorben worden und auf welche Weise die Fehler nach den Gesetzen der Kunst und der Sprache zu verbessern seien. In denjenigen Schriften, die sein Privateigentum waren, fanden sich eine Menge solcher Stellen von seiner Hand schon verbessert. Johannes bewunderte im stillen ehrerbietig das Wissen und die Kunstfertigkeit des großen Herrn und suchte womöglich kein Wort seiner lehrreichen Unterweisung zu verlieren. Endlich gab ihm der Bischof noch ein Verzeichnis von Dichtern, welche sich weder in den vorliegenden Pergamenten, noch, soviel er sich entsann, in denjenigen zu Zürich befanden, von denen er aber wußte, daß sie gelebt und gesungen hatten. Bei einigen Namen war angemerkt, wo ihre Lieder ziemlich sicher noch zu finden sein dürften, bei anderen angedeutet, wo allenfalls auf die Spur zu kommen wäre.

»Dies alles«, sagte er, »werden die Herren in Zürich vermehren und abklären. Sei nur fleißig und beginne bald mit der Abschrift. Nimm schönes großes Pergament, ohne Makel und Bortfehler; schneide eine große Zahl gleichförmiger Blätter gleich anfangs zu und lege für jeden Singer, den wir bereits haben, ein hinlänglich starkes Konvolut an, liniere es sauber, so kannst du auf allen Punkten zugleich beginnen und bei jedem Namen den nötigen Raum leer lassen für die künftigen Einträge! Natürlich mußt du den vorrätigen Raum nach Umständen bemessen. Von Kaiser Heinrich zum Beispiel werden wir schwerlich jemals mehr als die acht Lieder erhalten, die hier sind; da brauchst du also nur ein Blatt dafür herzurichten!«

Der Bischof warf bei diesen Worten einen Blick über die acht Lieder, wie sie auch in der Handschrift nun stehen, und blieb am letzten haften, das er laut vor sich hin las:

»Wohl dir, der Männer Blüte,
Daß ich je bei dir lag,
Du wohnst mir im Gemüte
Die Nacht und auch den Tag,
Du zierest meine Sinne
Und bist mir dazu hold,
Nun merkt, wie ich es meine:
Wie edeles Gesteine
Tut, so man faßt in Gold!«

»Wie schön läßt er eine Frau ihr Selbstbewußtsein ausdrücken; der geliebte Mann liegt ihr im Sinn und im Gemüte, ja in den Armen, wie der Edelstein im Golde!«

Der Bischof versank nach diesen Worten einige Augenblicke in Gedanken, wie wenn er vergangener Tage gedächte; dann zog er einen goldenen Ring vom Finger, steckte ihn dem Johannes an die Hand und sagte, ihm durch das Haar streichend: »Nimm das zum Zeichen, daß du der jugendliche Kanzler unserer guten Kompagnie seiest. Nun geh und nimm mir auch diese Briefe mit, die soeben in meiner Kanzlei gefertigt wurden. Du ersparst uns einen Reiter. Und dieser hier ist für Frau Kunigunde, die Äbtissin; es ist mir lieb, wenn du ihn ihr selber bringst, denn er betrifft keine Geschäftssachen!«

Den letzten Brief hatte er von seinem eigenen Schreibtische genommen, und er verschloß ihn selbst.

Ein vertrauter Verkehr zwischen ihm und der Äbtissin fand nur noch durch Briefe statt; persönlich trafen sie sich immer am dritten Orte und nie ohne mehr oder weniger zahlreiche Zeugen, sei es in öffentlichen oder in gesellschaftlichen Angelegenheiten. Auch in der Abtei empfing ihn Frau Kunigunde zuweilen, aber auch da nur in den öffentlichen Gemächern, wo meistens viele versammelt waren. Wenn sie bei solchen Anlässen sich einen unbefangen heiteren Ton erlaubten und wohl gar eine scherzhaft scheinende zärtliche Vertraulichkeit zur Schau stellten, so war das ein schwacher Ersatz für die Entsagung, die sie sich unverbrüchlich auferlegt, indem sie streng jedes Alleinsein vermieden, die stärkste Prüfung für Liebende, welche kein fremder Wille hindern könnte, sich zu sehen.

Das war nun nicht gerade Reue über das Vergangene; sie bereuten keineswegs, weil sie sich liebten; aber es war die Art, wie ihr Kind das Wissen von seiner Geburt und Stellung in der Welt aufgenommen hatte, welche sie zu jenem strengen Verhalten gegen sich selbst führte.

Die Geburt der Fides war ein öffentliches Geheimnis gewesen, welches dem Kinde nicht mehr verschwiegen werden konnte, sobald es herangewachsen war. Die erste Ahnung hatte man ihm werden lassen, als die Wirkung noch keine tiefe sein konnte, damit die Kenntnis ihrer Lage sich gewissermaßen von selbst ausbilde. Aber als die Jungfrau zum vollen Bewußtsein gekommen, nahm sie die Sache keineswegs so leicht, wie zu wünschen gewesen wäre. Aus einem raschen und leidenschaftlichen Kinde war ein tief und stolz fühlendes und nicht minder klar sehendes und verständiges Wesen geworden, dessen Neigungen vorzüglich nach Recht und Ehre gingen, und das nicht zum wenigsten durch das tägliche Beispiel ihres Pflegevaters, des alten Herrn Rüdiger.

Von dem Augenblick an, wo sie sich ihrer Stellung in der Welt klar bewußt war, klagte und fragte sie nicht mit einem Worte; aber ihre Heiterkeit war dahin, und keine Ehre, die man ihr erwies, keine vornehmen Sitten, welcher man sie teilhaftig machte, waren imstande, das Verlorene zurückzurufen.

Sie liebte und ehrte ihre Eltern, aber sie sprach sich nie gegen dieselben aus und schien nichts von ihnen zu hoffen. Nur einmal, ganz im Anfang, hatte sie gewünscht, sogleich zur Mutter ins Kloster zu gehen und dort lebenslang zu bleiben. Das war nun nicht tunlich gewesen; zudem wollten weder Kunigunde noch Heinrich, daß die Tochter eine Nonne würde, weil sie die Hoffnung nicht aufgaben, ihr Glück in der Welt zu gründen.

Das Wesen des Kindes wirkte aber auf sie selbst zurück, so daß sie nicht nur wegen ihrer hohen Ämter, sondern auch des Kindes wegen sich jene entsagende Lebensführung auferlegten, die sonst durch die Sitten der Zeit und der Vornehmen nicht unumgänglich geboten war.

Die Briefe, welche Johannes nach Zürich brachte, bezogen sich auf die Erwerbung der Stadt Kaiserstuhl und der Burg Röteln, die gegenüber auf dem rechten Rheinufer lag, von dem sinkenden Hause der Regensberger. Da diese Besitztümer mit dem Wasserstelzischen Erbe in gewissen Lehensverhältnissen verwickelt waren, so gewann der Bischof als teilweiser Lehensherr Einfluß auf dieselben, und er setzte sich in den Stand, Fides die Erbfolge zu sichern, indem er sie von den Standeshindernissen, die wegen ihrer unregelmäßigen Geburt erhoben werden konnten, dispensierte. Ihren Besitz dann zu vermehren und ihr so eine gedeihliche Stellung in der Welt zu schaffen, dazu dachte er die Gelegenheit später zu nehmen.

Nach seiner Rückkehr besorgte Johannes Hadlaub die verschiedenen Verrichtungen und begab sich auch in das Frauenkloster, wo er in die abgesonderte Wohnung der Äbtissin gewiesen wurde. In einem reichen Gemach, inmitten einiger Frauen, fand er die »große Frau von Zürich«; sie saßen im Halbkreise und stickten an einem großen Tapetenstücke, das ihnen gemeinschaftlich unter den Händen lag; zu ihren Füßen standen die Körbchen mit bunter Wolle und Seide. Mit ähnlichen Teppichwerken waren die Wände des Zimmers bis zu einer gewissen Höhe behangen; dieselben zeigten einen grünen Wald, in welchem die Legende von der Gründung des Klosters vor sich ging, wie die Töchter Ludwigs des Deutschen dem Hirsch nachgehen, wie der König ihnen von dem Bergschlosse Baldern aus zusieht, dann das Münster baut und wie die Gebeine der heiligen Märtyrer Felix und Regula nach diesem Münster getragen werden von Bischöfen und Königen. Im Hintergrunde unter den Bäumen aber bewegten sich noch viele Leute und Tiere, Diana und ihre Nymphen jagten nach Hirschen, Adonis nach dem Eber, Venus beweinte den toten Adonis, Siegfried lief nach dem Bären, und Hagen warf den Spieß nach jenem, es war gewissermaßen die Unruhe der Welt, von welcher sich die friedlichen Szenen des Vordergrundes abhoben. Über den Tapeten war die Mauer bemalt mit knienden Äbtissinnen, deren jede ihren Wappenschild mit Helm und Helmzierde zur Seite hatte. Die Decke des Zimmers samt den sie unterstützenden Balken war von bunten Blumenranken auf weißem Grunde bedeckt, und die kleinen Fenster bestanden aus Glasplatten, dick und ungefüge, in verschiedenen Farben zusammengesetzt. Noch höherer Farbenglanz leuchtete durch die offene Türe eines Nebengelasses, in welchem Betstuhl und Hausaltar der Äbtissin standen, letzterer mit Kleinodien aus karolingischer Zeit.

Von aller dieser Pracht überrascht wußte Johannes kaum, wo die Augen hinwenden, und geriet nur mit einiger Mühe dazu, der ausschauenden Frau Kunigunde den Gruß des Bischofs auszurichten und ihr seinen Brief zu übergeben; daß Fides unter den Frauen saß, bemerkte er wiederum nicht, obgleich er längst eine unschuldige kleine Anbetung für sie eingerichtet hatte in seinem Herzen.

Während er vor den Frauen stand und seine Blicke an den Wänden herumgehen ließ, ging die Äbtissin mit dem Briefe auf die Seite, um ihn zu lesen; sie schien aber über den Inhalt einigermaßen betroffen und schüttelte unmerklich den Kopf. Bischof Heinrich schrieb ihr nämlich seine Bedenken über das trübsinnige Wesen ihres Kindes Fides und teilte ihr zur reiferen Erwägung einen Gedanken mit, welcher in ihm entstanden sei: ob man dem Kinde nicht in allen Züchten und mit aller Vorsicht den gutartigen und unschuldigen Knaben Johannes zum Gespielen geben könnte, um sein dunkles Sinnen aufzuheitern und dem Leben zuzuwenden. Ein so lieblicher und unschädlicher Verkehr würde das Mägdlein aus seinen Träumen wecken, daß es die Menschenscheu verlöre und seine Tage besser verbrächte, bis die Zeit gekommen, es mit Glück und Vorteil zu vermählen.

Den Brief verwahrend ging sie fast unwillig auf und nieder und sagte bei sich selbst: »O Heinrich, königlicher Kanzler, gelehrter Bischof, wie töricht bist du!«

Die übrigen Frauen hatten inzwischen den Boten wohlgefällig ins Auge gefaßt und die eine oder andere ihn neckisch über seine Herkunft und Sendung verhört, bis eine rief: »Ei, und einen goldenen Ring trägt er am Finger, ein so junger Knabe! Was für ein Glück bedeutet das?«

Johannes verkündigte mit einigem Selbstvertrauen, daß der Herr zu Konstanz ihm den Ring verehrt habe. Plötzlich schaute jetzt Fides von ihrer Arbeit auf, und als er feierlich erklärte, daß er nämlich jetzt der Erzkanzler des ganzen Minnesanges und der Ring das Zeichen seines Amtes sei, ließ sie ein kurzes helles Gelächter ertönen, wendete jedoch sofort errötend die Augen wieder zu ihrer Arbeit. Sie konnte jedoch nicht umhin, noch einmal aufzublicken, gerade als der junge Minnekanzler sprachlos nach ihr hinsah, die er erst jetzt gewahrte in seiner selbstgefälligen Würde oder demütigen Befangenheit. Wie nun die sämtlichen Frauen das angeschlagene Gelächter aufnahmen und fortsetzten über den von einem Bischof kreierten zierlichen Minnekanzler, beugte sich Fides wiederum tiefer, wie niedergedrückt von der Last neuen Errötens und dem dunklen Leid ihres Lebens. Eine Träne entfiel ihren Augen, stille Verlegenheit verbreitete sich im Gemach, und die Äbtissin Kunigunde beeilte sich, selbst mit Rot begossen, den Jüngling zu entlassen, als sie zu spät der seltsamen Verhandlung innegeworden.

Für Johannes war Fides immer nur das Fröwelin von Wasserstelz gewesen, wie sie genannt wurde, ohne daß er über ihren Stand weiter etwas wußte oder dachte. Er begriff daher von dem Vorgange nichts, als etwa, daß er selbst die Ursache desselben sei und die Betrübnis des Fräuleins am Ende durch seine Nichtbeachtung hervorgerufen habe, was ihm bei seiner wichtigen Stellung nicht unmöglich schien.

*


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