Gottfried Keller
Züricher Novellen
Gottfried Keller

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Nicht lange saß nun die kleine Gesellschaft an dem steinernen Tische, als aus dem Walde drüben heller Gesang eines Kindes schallte und bald eine kleine Herde von Kühen erschien, welche von dem zehnjährigen Knaben des Bauern von der Weide heim und über die Brücke geleitet wurde. Nur mit einem langen blauen Leinenrocke bekleidet, barfuß, von reichem, blondem Goldhaar Gesicht und Schultern umwallt, ein hohes Schilfrohr in Händen tragend, gab das Kind mit den Tieren ein ungewöhnlich anmutiges Bild, welches zudem samt dem Waldesgrün vom Lichte der Abendsonne gestreift war, soweit sie durch die Belaubung dringen mochte. Mit Wohlgefallen folgten Konrads Augen der Erscheinung, bis der unbekümmert weiter singende und sich kaum umsehende Knabe die Kühe in den Stall gebracht hatte und nun zum Tische kam, um sein Abendbrot zu empfangen. Er gab dem alten Herrn ungeheißen die Hand; dann aber legte er erstaunt die Hände auf den Rücken und betrachtete unverwandt das Mägdlein Fides, welches eben sein Milchbecken am Munde hielt und darüber hinweg seine Äuglein gehen ließ. Einen Augenblick setzte es ab und sagte: »Du dummer Bub!« worauf es fertig trank und den Mund wischte.

Er schlug beschämt die Augen nieder und wendete sich seitwärts mit zuckendem Munde; denn eine so unhöfliche Anrede war ihm in seinem kurzen Leben noch nie zuteil geworden. Als nun aber Frau Richenza den Knaben an sich zog und beschwichtigte und der Kantor dem Mädchen seine Unart verwies, fing dieses seinerseits an zu weinen, so daß die Frau auch hier einschreiten und besänftigen mußte.

»Sieh, Johannes,« sagte sie zum Knaben, »das Schäppelein des Dämchens ist fast verwelkt, geh mit ihm an den Bach hinunter, wo die vielen Blaublümel stehen, und holet zusammen zu einem frischen Kranze, aber kommt bald wieder, eh' es zu kahl wird!«

Das Blumenkränzchen, womit das fliegende Haar des Herrenkindes geziert war, befand sich wirklich nicht mehr in bestem Zustande, und es wurde das Vornehmen auch von dem Kantor gebilligt. Die Kinder gingen also, leidlich versöhnt, den schmalen Pfad hinunter, wo der Wolfbach heute noch sich durch Steinblöcke von allen Farben, unterwaschene Baumwurzeln und andere Geheimnisse drängt, kleine Wasserfälle und hundert kleine Theater von Merkwürdigkeiten bildet. Sie gelangten auch bald an eine Stelle, wo das Bord länger von der Sonne beschienen und daher fast immer mit blühenden Pflanzen bedeckt war. Besonders von Vergißmeinnicht erschien alles blau, aber auch weiße Sternchen und rote Glöckchen gab's darunter, in jenem blumenliebenden Zeitalter eine Augenfreude nicht nur für Kinder.

Die kleine Fides machte sich auch gleich darüber her und band mit Behendigkeit einen Kranz, zu welchem Johannes ihr kaum genug Blumen reichen konnte, je nach Auswahl und Befehl. Ring und Faden hierzu nahm sie vom alten Kranz und ließ die Überreste desselben den Bach hinabschwimmen. Nachdem sie die neue Zierde aufgesetzt, sah sie sich im weiteren um und fing an auf den Steinen herumzuspringen, welche aus dem rinnenden Wasser hervorragten, bis sie auf einen kam, wo sie nicht mehr fort konnte, ohne durch das Wasser zu gehen. Das war aber wegen der feinen Schuhe und des Kleides untunlich; nach kurzem Besinnen befahl sie dem Knaben, der ihr nachgesprungen war und ratlos bei ihr auf dem Steine stand, sie ans Ufer zu tragen. Er glitt auch sofort ins Wasser und trug das angehende Frauenwesen auf dem Arme und mit schwerer Mühe über die eckigen und runden Bachsteine, indessen sie sich an seinem Halse hielt, aufs Trockene.

Inzwischen rückte Meister Konrad von Mure dem Ziele seines heutigen Ausganges näher. Er hatte, seit längerer Zeit mit den Leuten am Hadlaub in guter Freundschaft lebend, die zarte, aber auch aufgeweckte und gelehrige Beschaffenheit des Knaben Johannes bemerkt und wünschte denselben zu sich zu nehmen, um ihn zunächst zu einem Schreiberlein und Schüler heranzubilden, dessen er zu allerlei Aushilfe ermangelte, dann aber auch einem besseren Lebenslose entgegenzuführen, als er ihm auf dieser Berghöhe beschieden wähnte. Er begann daher von dem Singen des Knaben zu sprechen, wie er allerhand Singspiel in Worten und Weisen richtig aufgefaßt und, wenn auch nur stückweise, innehabe, ohne daß man wisse, wie es zugehe. Dann brachte er allmählich sein Anliegen vor, fand aber keine Zustimmung beim Vater. Der unterbrach ihn, als er im besten Zuge war, und sagte:«Lieber Herr! Wir wollen hierin nicht weiter gehen! Statt eines ehrlichen Christennamens, wie sie auf diesem Berge und rings im Lande altherkömmlich sind, Heinz, Kunz, Götz, Siz, Frick, Gyr, Ruoff, Ruegg, hat man dem Buben einen von den neumodischen Pfaffennamen verschafft, Johannes, ohne daß ich weiß, wie es eigentlich gekommen ist. Aber weiter soll es nun mit dem Pfaffwerden nicht gehen. Es ist mein einziges Kind. Seit unvordenklicher Zeit haben sich meine Väter auf der hiesigen Hofstatt gehalten; ich will mir nicht vorstellen, daß das durch meine Schuld anders werden soll und keiner der Meinigen mehr seinen Pflug hier führe, sein Vieh hier weide und von hier aus mit Schild und Speer zum Heerbann niedersteige.«

»Ei, was die ehrlichen Christennamen betrifft,« antwortete ihm der Alte lächelnd, »so seid Ihr nicht gut berichtet! Ihr habt als solche lauter wilde alte Heidennamen genannt, Euren und meinen nicht ausgeschlossen. Wißt Ihr, wie Euer Name Rudolf sich ehemals geschrieben hat? Hruodwolf, lupus gloriosus, ein berühmter Wolf, ein Hauptwolf, ein Wolf der Wölfe! Schönes Christentum! Wie heilig klingt dagegen das biblische Johannes, sei es nun der Täufer, oder der Lieblingsjünger des Heilands, oder der Evangelist!«

Soeben kamen nun die beiden Kinder an und der Kantor zog gleich den Knaben herbei, ergriff dessen Hände und rief: »Seht, Kapitan aller Wölfe, sind diese schmalen Händchen diejenigen eines Pflugführers und Speerträgers? Oder nicht vielmehr diejenigen eines Pfaffen oder Magisters? Eines sanften gelehrten Johannes? Merkt Ihr denn nicht die Weisheit der guten Mutter Natur, die aus so reisigem Volk von Zeit zu Zeit selber ein zarteres Pflänzlein schafft, aus dem ein Lehrer oder Priester werden mag, wo ihr sonst bei aller Stärke in Unwissenheit und Sünde verderben müßtet? Übrigens ist gar nicht gesagt, daß er durchaus geistlich werden soll; ich bin zufrieden, wenn er nur vorerst etwas lernt und die Zeit nicht verlorengeht!«

»Willst du in die Schule gehen zu den Herren am Münster?« sagte nun die Mutter zu dem Knaben, welcher verwundert alle der Reihe nach ansah.

»Willst du schöne Bücher schreiben und malen lernen mit Gold und bunten Farben, Lieder singen und die Fiedel spielen,« sagte der Singmeister, »schöne Mailieder, kluge Sprüche und das Michaelslied: O heros invincibilis dux – oder wie hast du heut gesungen?«

»O Herr, o Vizibiliduxi heißt es,« rief Johannes eifrig, und lachend fragte Konrad, wer ihn das gelehrt habe.

»Der Bruder Radpert im Klösterlein,« versetzte jener selbstzufrieden.

»Das ist ein uralter Mönch bei den Augustinerbrüdern dort hinter den Eichen, der einst als Kriegsmann noch den Heerzug ins heilige Land mitgemacht hat und dem Kinde zu erzählen pflegt, wie sie das Lied immer gesungen, wenn es in den Streit ging.«

Dies bemerkte die Frau Richenza; Rudolf, ihr Mann, aber sagte jetzt zu dem Knaben: »Nun, was ziehst du nun vor? Willst du bei den Mönchen in der Schule sitzen und eine Glatze tragen, oder willst du hier oben in der freien Luft bleiben und ein wehrhafter Geselle werden?«

Johannes begriff den Sinn der Unterhaltung nur etwa zur Hälfte; er sah sich nochmals um und vermutete zuletzt, daß es sich um eine Schule handle, in welcher solche kleine Dämchen saßen, wie der Chorherr eines zur Probe mitgebracht habe, und da dieses ihm gefiel, so erklärte er, er wolle in die Schule gehen.

»Genug,« rief der Vater in strengerem Tone«,wir wollen mit solcher Sache nicht länger spielen! Geh hinein, Johannes, und hole das Horn, daß wir die Knechte und Dirnen heimrufen!«

Der Chorherr merkte, daß er jetzt nichts weiter ausrichten werde, nahm, da die Sonne sich zum Untergange neigte, Abschied und begab sich auf den Heimweg. Gleichzeitig kam ein alter und ein junger Knecht mit Ochsen und Eggen in raschem Laufe auf der Hofstatt an, mit lautem Geschrei und Heio, Menschen und Tiere gleich ungeduldig. Während hierdurch die Aufmerksamkeit des Meisters in Anspruch genommen wurde, benutzte Johannes die Gelegenheit, vom Hofe zu entfliehen und dem Kantor und dem Mädchen den Berg hinunter nachzulaufen. Da er barfuß war, so hörten sie ihn nicht. Wenn Herr Konrad einen Augenblick stillstand, um auszuruhen und zu husten, so hielt Johannes in einiger Entfernung ebenfalls an und blieb schüchtern stehen, und wenn sie weitergingen, so lief er wieder hinter ihnen drein. Bei einem solchen Halt entdeckte ihn die zurückschauende Fides; aber sie sah ihn jetzt wieder so stolz und fremd an und schien nicht einmal den alten Herrn von seiner Nachfolge in Kenntnis zu setzen, so daß er verschüchtert zurückblieb und ihnen traurig nachblickte, bis sie in den Abendschatten verschwanden. Dann lief er voll Furcht, teils vor den Folgen seines Ungehorsams, teils vor den Geheimnissen der hereinbrechenden Nacht, eilig zurück, bis ihn die Mutter, die ihn bereits suchte, empfing und unbemerkt ins Haus brachte und auf seinem Lager versorgte, dem Anerbieten des ehrwürdigen Kapitelsmannes mütterlich nachsinnend.

Als sie nach Jahr und Tag ihrem Eheherrn einen zweiten Sohn schenkte, ein Knäblein, das auffallend groß und kräftig war, wurde Rudolf am Hadelaub anderen Sinnes und der Wunsch des Singmeisters der Propstei Zürich erfüllt.

*

Nach ungefähr acht Jahren finden wir den Johannes Hadlaub, wie er jetzt genannt wurde, als blondgelockten feinen Jüngling unermüdlich bei allerhand gelehrter Arbeit. Konrad von Mure hatte ihn unter seine ganz besondere Obhut genommen und zu allererst so schnell schreiben und lesen gelehrt, wie ein Kriegsmann seinen Knaben reiten und fechten. Gleichzeitig mit dieser Übung und durch dieselbe mußte er die Sprache deutsch und lateinisch verstehen lernen, denn der Meister gönnte ihm nicht so viel Zeit hierzu, wie den Pfaffen- und Herrenknaben der Stiftsschule. Nach Brauch und Art des Handwerks mußte es so bald als möglich Nützliches hervorbringen, was an seiner Stelle in sauberer und genauer Abschrift bestand; den Inhalt aus den vertrauten Worten des Alten gewissermaßen im Fluge verstehen zu lernen, mußte er sich still und aufmerksam angewöhnen. Mit der Zeit mochte er dann sehen, was er weiter aus sich machte, wenn er ein wirklicher Gelehrter und Theolog werden wollte. Inzwischen mußte er nicht nur Noten und Worte der Kirchenmusik schreiben, sondern auch die Reimwerke Konrads, seine mythologischen, geographischen, naturkundlichen und historischen Traktate fleißig kopieren, bis sein Taufgevatter Johannes Manesse, der Kustos und Scholaster der Propstei Zürich, der Sohn des Herrn Rüdiger, hinter die Sache kam und der flinken und zierlichen Hand des Knaben gewahr wurde. Der zögerte nicht lange, sondern ließ sich von ihm alle die alten und neuen Minnelieder und Rittergedichte abschreiben, deren er habhaft werden konnte in seinem weltlichen Sinne, und Konrad von Mure machte sich eifrig herbei und wachte darüber, daß sie richtig in Ton und Maß geschrieben und vorhandene Fehler ausgemerzt wurden. Hierdurch erlangte der junge Hadlauber, gelehrig und stets munter, eine neue Kenntnis und Übung.

Einige Verzierung der Schrift mit schönfarbigen Tinten gehörte an sich schon zum klösterlichen Schreibewerk; allein hierbei blieb er nicht stehen, sondern suchte bei naiven Bildkünstlern jener Zeit, wie sie etwa in den Bauhütten der beiden Münster zu treffen waren, so viel Erfahrung abzulauschen, als zur Bemalung eines halben oder ganzen Pergamentblattes erforderlich war.

Seit mehreren Jahren war nun der greise Kantor und Stiftsherr von Mure tot, Johannes Hadlaub aber an der Singschule und Bücherei beschäftigt geblieben, ohne sich für den Stand der Geistlichkeit bereit zu machen. Sein Vater schien hiermit zufrieden, obgleich sein zweitgeborener Sohn kräftig heranwuchs und ebenso groß und stark zu werden versprach, wie er selbst. Wenn Johannes ein geschäftskundiger weltlicher Bürgersmann in der Stadt würde, so war ihm das auch recht, und jener begann in der Tat von verschiedenen Herren bei ihren Verhandlungen als Schreiber benutzt zu werden; besonders war es der jüngere Leuthold, Freiherr von Regensberg, der seine Dienste andauernd in Anspruch nahm bei Ordnung seiner schwankenden Verhältnisse.

Noch näher trat er in der Folge dem älteren Manesse, Herrn Rüdiger, als dessen Sohn, der »Küster«, ihn eines Tages aufforderte, schleunig seine Fiedel zu nehmen und mit ihm auf den Hof des Manesse zu kommen.

Johannes ergriff freudig errötend augenblicklich die Geige und schritt mit dem Chorherrn gar stattlich die Kirchgasse, so jetzt Römergasse heißt, hinauf. Freundlich nickte der goldgelockte Jüngling an der Seite des Chorherrn Bekannten zu, welche in den volkreichen Gassen vorübergingen, und er wurde von jedermann ebenso freundlich wieder gegrüßt, weil er eine liebenswürdige Erscheinung war. In einen faltigen Rock gekleidet, der sich in breite, weiße und blaue Querstreifen teilte und fast bis auf die Füße ging, trug er ein purpurrotes Barett, besteckt mit einem weißen Tuche, das Nacken und Schultern deckte.

Bald gelangten sie zu der Behausung der Herren Maneß; erregt blickte Johannes an das steinerne Haus empor, welches damals an dem Turme lehnte und das Wohnhaus war. Im zweiten Stock war die Mauer unterbrochen von einer Rundbogenstellung auf zierlichen Säulen, hinter welchen der Saal sich befand, überragt von den Eichenbalken des Daches. Das Erdgeschoß zeigte ein paar Fenster mit ebenfalls verzierten Rundbogen, daneben aber hauptsächlich ein großes Einfahrtstor, das unter dem Hause durch in den Hof führte zu verschiedenen Aufgängen und Treppen. Unter dem Torbogen waren die Steinstufen angebracht, von welchen die Frauen zu Pferde stiegen, wenn sie ausritten. Eine jener steinernen Schneckenstiegen, deren Tritte uns jetzt, wo sie noch erhalten sind, so hoch und beschwerlich vorkommen, führte zum Saal hinauf.

Als Johannes Hadlaub mit seinem Führer in die Türe desselben trat, verließ ihn plötzlich sein frischer Mut. Er war nicht auf die ansehnliche Gesellschaft gefaßt, die da um einen großen Tisch herum in Lehnstühlen oder auf kissenbedeckten Schemeln saß.


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