Gottfried Keller
Züricher Novellen
Gottfried Keller

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Das lustige Fräulein lag ihm nun stündlich im Sinn; allein die heitere Ruhe, welche er bei der Salome, dem Distelfink, bewahrt hatte, war jetzt dahin, und es erfüllte ihn, so oft er sie längere Zeit nicht sah, Traurigkeit und Furcht, das Leben ohne Figura Leu zubringen zu müssen. Auch sie schien ihm herzlich zugetan zu sein; denn sie erleichterte seine Bemühungen, in ihre Nähe zu kommen, und ging mit ihm um, wie mit einem guten Kameraden, der zu jedem Scherz aufgelegt und für jeden Sonnenblick guter Laune empfänglich ist. Sie legte ihm hundertmal die Hand auf die Achsel oder gar den Arm um den Hals; sobald er aber vertraulich ihre Hand ergreifen wollte, zog sie dieselbe beinahe hastig zurück; wagte er vollends ein zärtlicheres Wort oder einen verräterischen Blick, so ließ sie das mit kalter Nichtbeachtung abgleiten. Mitunter verfiel sie sogar in spöttliche Äußerungen, die sie wegen unbedeutender Dinge gegen ihn richtete und die er schweigend hinnahm, in seiner Verlegenheit aber nicht merkte, wie sie trotzdem einen warmen und teilnahmvollen Blick auf ihn geworfen hatte.

Bruder und Oheim sahen diesen seltsamen Verkehr wohl, ließen die jungen Leute aber gewähren und nahmen die Art des Mädchens wie etwas, das nicht zu ändern ist, zumal sie den vollkommen ehrenhaften und biedern Charakter Salomons kannten.

Eines Tages jedoch kam das Verhältnis zum Austrag. Salomon Geßner, der Dichter, hatte, da der Sommer begonnen, seine Amtswohnung im Sihlwalde bezogen, dessen Oberaufsicht ihm von seinen Mitbürgern übertragen worden war. Ob er das Amt wirklich selbst verwaltete, ist nicht mehr erfindlich; so viel ist gewiß, daß er in jenem Sommerhause dichtete und malte und sich mit den Freunden lustig machte, die ihn häufig besuchten. Dieser neue Salomo, der in unsern Geschichten erscheint, stand dazumal in der Blüte seines Lebens und eines Ruhmes, der sich bereits über alle Länder verbreitet hatte; was von diesem Ruhme verdient und gerecht war, trug er mit der Anspruchslosigkeit und Liebenswürdigkeit, die nur solchen Menschen eigen sind, die wirklich etwas können. Geßners idyllische Dichtungen sind durchaus keine schwächlichen und nichtssagenden Gebilde, sondern innerhalb ihrer Zeit, über die keiner hinaus kann, der nicht ein Heros ist, fertige und stilvolle kleine Kunstwerke. Wir sehen sie jetzt kaum mehr an und bedenken nicht, was man in fünfzig Jahren von alledem sagen wird, was jetzt täglich entsteht.

Sei dem, wie ihm wolle, so war die Luft um den Mann, wenn er in seiner Waldwohnung saß, eine recht poetische und künstlerische, und sein mehrseitiges fröhliches Können, verbunden mit seinem unbefangenen Humor, erregte stets goldene Heiterkeit. Sowohl seine eigenen Radierungen als die von Zingg und Kolbe nach seinen Gemälden gestochenen Blätter werden in hundert Jahren erst recht eine gesuchte Ware in den Kupferstichkabinetten sein, während wir sie jetzt für wenige Batzen einander zuschleudern.

An einer Porzellanfabrik beteiligt, hatte er mit leichter Hand versucht, in Bemalung der Gefäße selbst voranzugehen und nach kurzer Übung die Ausschmückung eines stattlichen Teegeschirrs übernommen und zum Gelingen gebracht. Das zierliche Werk sollte nun im Sihlwalde eingeweiht werden; Freunde und Freundinnen waren zu der kleinen Feier geladen und der Tisch am Ufer des Flusses unter den schönsten Ahornbäumen gedeckt, hinter denen die grüne Berghalde, Kronen über Kronen, zu dem blauen Sommerhimmel emporstieg.

Auf dem blendendweißen, mit Ornamenten durchwobenen Tischtuch aber standen die Kannen, Tassen, Teller und Schüsseln, bedeckt mit hundert kleinern und größern Bildwerklein, von denen jedes eine Erfindung, ein Idyllion, ein Sinngedicht war, und der Reiz bestand darin, daß alle diese Dinge, Nymphen, Satyrn, Hirten, Kinder, Landschaften und Blumenwerk mit leichter und sicherer Hand hingeworfen waren und jedes an seinem rechten Platz erschien, nicht als die Arbeit eines Fabrikmalers, sondern als diejenige eines spielenden Künstlers.

Der so geschmückte Tisch war mit den rundlichen Sonnenlichtern bestreut, welche durch das ausgezackte Ahornlaub fielen und nach dem leisen Takte des Lufthauches tanzten, der die Zweige bewegte; es war zuweilen wie ein sanftes, feierliches Menuett, welches die Lichter ausführten.

Schon saß Herr Geßner wieder im Anschauen dieses Spieles verloren, als der erste Wagen mit den erwarteten Gästen anlangte. In ihm saß der weise Bodmer, der zürcherische Cicero, wie ihn Sulzer zu nennen pflegte, und der Kanonikus Breitinger, der in jüngeren Tagen den Krieg gegen Gottsched mit ihm gestritten hatte. Sie saßen aber auf den Rücksitzen, da sie ihre ehrbaren Hausfrauen mitführten. Andere Kutschen brachten andere Freunde und Gelehrte, die alle einen außerordentlich muntern und geistreichen Jargon sprachen, belebt von einer Mischung literarischen Stutzertums und helvetischer Biederkeit, oder, wenn man will, altbürgerlicher Selbstzufriedenheit.

Ein letzter Wagen war mit jungen Mädchen angefüllt, worunter Figura Leu, und begleitet von Martin Leu und Salomon Landolt, die zu Pferde saßen.

Alle die würdigen und schönen Personen bewegten sich alsbald unter den Bäumen in großer Fröhlichkeit herum; das bemalte Porzellanzeug wurde betrachtet und höchlich gelobt; allein es dauerte nicht lange, so führte Salomon Geßner mit der Figura Leu die Szene auf, wie ein blöder Schäfer von einer Schäferin im Tanz unterrichtet wird, und er machte das so lustig und natürlich, daß ein allgemeiner Mutwillen entstand und Frau Geßner, die hübsche geborene Heideggerin, Mühe hatte, die Gesellschaft endlich zum Sitzen zu bringen, damit ihrer Bewirtung Ehre angetan würde.

Dem ruhigern Gespräche, das hierbei Raum gewann, wurde Nahrung gegeben durch einen jener Enthusiasten, die alles Persönliche hervorzerren müssen. Derselbe hatte schon die neuesten Ereignisse des Geßnerschen Lebens aufgestöbert, vielleicht nicht ohne Wegeleitung der trefflichen Gattin. Es waren verschiedene Briefe aus Paris gekommen. Rousseau schrieb Herrn Huber, einem Übersetzer Geßners, die schmeichelhaftesten Dinge über letzteren, und wie er dessen Werke nicht mehr aus der Hand lege. Diderot wünschte sogar, einige seiner Erzählungen mit den neuesten Idyllen Geßners in einem Bande gemeinschaftlich erscheinen zu lassen. Daß Rousseau für den idealen Naturzustand jener idyllischen Welt schwärmte, war am Ende nichts Wunderbares; daß aber der große Realist und Enzyklopädist nach dem Vergnügen strebte, mit dem harmlosen Idyllendichter Arm in Arm aufzutreten, erschien als die erdenklich wichtigste Ergänzung des Lobes und gab zum Verdrusse Geßners Anlaß zu den breitesten Erörterungen.

Dadurch aber wurde Bodmer, der Cicero, aus seinem Gleichgewichte geworfen, daß die menschliche Narrheit, die auch dem Weisesten innewohnt, die Oberhand bekam und frei wurde, indem er nun unaufhaltsam und rücksichtslos seine dichterische Seite hervorkehrte. Er erinnerte wehmütig daran, wie er einst mit dem jungen Wieland zusammen in begeisterter Freundschaft, er, der ältere, bewährte, mit dem aufgehenden Jugendgestirn, im Entwerfen vieler heiliger Dichtungen gewetteifert: und wo seien nun jene edelsten Freuden geblieben?

Die hageren Beine übereinander gelegt, im Stuhle zurückgelehnt und wegen der kühleren Waldluft einen leichten grauen Sommerüberwurf malerisch umgeschlagen, gab er sich in lauter Melancholie dem Andenken an jene trüben Erfahrungen hin, da kurz nacheinander die seraphischen Jünglinge Klopstock und Wieland, die er nach Zürich gerufen, seine heilige Vaterfreundschaft und poetische Bruderschaft so schnöde getäuscht und hintergangen hatten, der eine, indem er sich zu einer Schar zechender Jugendgenossen schlug und einen erschreckenden Weltsinn bekundete, statt am Messias zu arbeiten; der andere, indem er immer mehr mit allen möglichen Weibern zu verkehren begann und damit endete, der frivolste und liederlichste Verseschmied, nach seiner Ansicht, zu werden, der jemals gelebt, dergestalt, daß Bodmer alle Hände voll zu tun hatte, die Schande und den Kummer mit einer unerschöpflichen Flut von furchtbaren Hexametern in ehrwürdigen Patriarchiden zu bekämpfen.

So kam er dann auf den geprüften Abraham, auf Jakobs Wiederkunft aus Haran, auf die Noachide, die Sintflut und alle jene Monumente seiner ruhelosen Tätigkeit zu sprechen und rezitierte zahlreiche Glanzstellen aus denselben. Dazwischen flocht er tadelhafte Neuigkeiten ein, die seine allverbreiteten Korrespondenzen ergaben, wie zum Beispiel der Rat von Danzig den jungen poesiebeflissenen Bürgern der Stadt den Gebrauch des Hexameters als eines für die bürgerlichen Gelegenheiten unanständigen und aufrührerischen Vehikels verboten habe.

Auch beschrieb er mit maliziösem Lächeln als Charakteristikum moderner Freundschaft, wie er einem Freund und Pfarrer vom Erscheinen eines feindlich schlechten Sportgedichtes auf ihn, betitelt »Bodmerias«, vertraute Mitteilung gemacht; wie der Freund sich darüber entrüstet gezeigt, daß man das Vergnügen an den unsterblichen Bodmerischen Werken auf so boshafte und widrige Art zu stören wage; hoffentlich werde solche Bübereien kein ehrbarer Mensch lesen, alles mit mehrerem; wie aber der lüsterne Geistliche mit der Anfrage geschlossen, ob er ihm diese Bodmerias nicht auf einen Tag verschaffen könne, da nach überwundenem Verdrusse das Divertissement an denen so werten Poesien sich unzweifelhaft verdoppeln werde!

Die Anwesenden lächelten ergötzt über den neugierigen Pfarrer, den sie errieten. Bodmer aber ließ in höherer Erregung seinen Überwurf auf die Hüften sinken, sich vorbeugend, daß er einem römischen Senator gleich sah, und rief:

»Dafür geht er auch der Erwähnungsstelle verloren, die ich ihm in der neuen Auflage der Noachide bestimmt hatte; denn er hat sich nicht geläutert genug erwiesen, an meiner Hand in die Zukunft hinüber zu schreiten!«

Er führte nun aus, welchen Bewährten unter seinen Freunden er solche Erwähnungsstellen in seinen verschiedenen Epopöen schon gewidmet habe und welchen er diese Vergünstigung noch zuzuwenden gedenke, je nach der Bedeutung des Mannes in größeren oder geringeren Werken, in einer größeren oder kleineren Anzahl von Versen.

Mit scharf prüfendem Auge blickte er um sich, und alle schauten vor sich nieder, die einen errötend, die andern erbleichend, alle aber schweigend, da er eine ernste Musterung zu halten schien.

Allmählich ward seine Stimmung milder; er lehnte sich wieder zurück, der vergangenen Tage gedenkend, und sagte mit weichem Tone, in die grüne Berghalde hinaufblickend:

»Ach, wo ist jene goldene Zeit hin, da mein junger Wieland den Vorbericht zu unsern gemeinsamen Gesängen schrieb und die Worte hinzusetzte: Man hat es vornehmlich unserer göttlichen Religion zuzuschreiben, wenn wir in der moralischen Güte unserer Gedichte etwas mehr als Homere sind?«

In dem Augenblicke, als er wieder abwärts sah, gewahrte er eine seltsame Szene, so daß er plötzlich aufsprang und streng ausrief: »Was macht die Närrin?«

Schon die ganze Zeit über war nämlich Salomon Landolt etwas seitwärts unter den Bäumen für sich auf und ab gegangen, über seine Herzensangelegenheit nachdenkend und erwägend, ob nicht am heutigen Tage etwas Entscheidendes geschehen könnte?

Er trug damals einen ansehnlichen Haarbeutel mit großen Bandschleifen. Figura Leu aber hatte sich im Hause ein kleines Taschenspiegelchen und einen runden Handspiegel verschafft. Das erstere wußte sie ihm, als ob sie an demselben etwas zu ordnen hätte, unbemerkt an dem Haarbeutel zu befestigen, worauf er seinen Spaziergang ruhig fortsetzte. Sogleich aber schritt sie, auf dem Moosboden unhörbar für ihn, mit pantomimischen Tanzschritten hinter ihm her, auf und nieder, so leicht und zierlich wie eine Grazie, und führte ein allerliebstes Spiel auf, indem sie sich fortwährend in dem Spiegel auf Landolts Rücken und in dem Handspiegel abwechselnd beschaute und zuweilen den Handspiegel und ihren Oberkörper, immer tanzend, so wendete, daß man sah, sie bespiegele sich von allen Seiten zugleich.

Wie ein Blitz war in dem geistig beweglichen und klugen Greisen der Verdacht aufgefahren, es werde hier von mutwilliger Jugend das Bild einer eiteln Selbstbespiegelung dargestellt, und zwar der seinigen, in Übersetzung der von ihm gehaltenen Reden. Alle wendeten sich nach der Richtung, in welcher sein langer knochiger Zeigefinger wies, und belachten das artige Schauspiel, bis endlich auch Landolt aufmerksam wurde, sich verwundert umschaute und noch die Figura ertappte, wie sie schnell das Spiegelchen ihm vom Rücken nahm.

»Was soll das bedeuten?« fragte der alte Professor, der sich schon gefaßt hatte, mit ruhiger und sanfter Stimme; »will die Jugend das geschwätzige Alter verspotten?«

Was Figura eigentlich gewollt, wurde nie ermittelt; nur so viel ist sicher, daß sie in großer Verlegenheit dastand und von Reue befallen war; in der Angst zeigte sie auf Landolt und sagte: »Sehen Sie denn nicht, daß ich nur mit diesem Herrn scherze?«

Nun wurde Salomon Landolt rot und blaß, da er sich für den Gefoppten halten mußte, und weil die Gesellschaft endlich auch die zweifelhafte Natur des Schauspiels wahrnahm, verbreitete sich eine stille, etwas peinliche Spannung.

Da sprang Salomon Geßner ein, ergriff den Handspiegel und rief:

»Mit nichten handelt es sich um irgendeine Verspottungt Das Fräulein hat die Wahrheit darstellen wollen, wie sie im Gefolge der Tugend geht, die hoffentlich niemand unserem Landolt abstreiten wird! Aber dennoch hat die Darstellerin gefehlt, denn die Wahrheit soll einzig um ihrer selbst willen bestehen und weder von der Tugend noch vom Laster in dieser oder jener Weise abhängig sein! Laßt sehen, ob ich's besser kann!«

Hiermit nahm er ein Schleiertuch der nächsten Dame, drapierte sich damit die Hüften, als ob er antikisch unbekleidet wäre, und bestieg, den Spiegel in der Hand, einen Steinblock als Piedestal, auf welchem er mit verrenkter Körperhaltung und süßlichem Mienenspiel die Bildsäule einer zopfigen Veritas so drollig zur Erscheinung brachte, daß Gelächter und Fröhlichkeit zurückkehrten.

Nur Salomon Landolt blieb in zerstörter Laune und schlich sich weg, einen entlegeneren Waldpfad aufsuchend, um seine Gedanken zu sammeln und nachher als ein tapferer Mann aus der Affäre abzureisen. Er war aber noch nicht lange gegangen, so hing unversehens Figura Leu an seinem Arm.

»Ist es erlaubt, mit dem Herrn zu promenieren?« flüsterte sie ihm zu und schritt dann mit leichtem Fuß eine Weile neben dem Schweigenden her, der sie trotz seines Schweigens keineswegs vom Arme ließ. Als sie aber auf einer gewissen Höhe angekommen waren, wo kein Auge sie mehr erreichen konnte, stand sie still und sagte:

»Ich muß einmal mit Ihnen sprechen, da ich sonst elendiglich umkomme. Zuerst aber dieses!«

Damit schlang sie beide Arme um seinen Hals und küßte ihn. Als er dergleichen fortsetzen wollte, stieß sie ihn aber kräftig zurück.

»Das will sagen,« fuhr sie fort, »daß ich Ihnen gut bin und weiß, daß Sie mir es auch sind! Aber hier heißt's nun Amen! Aus und Amen! Denn wissen Sie, daß ich meiner Mutter auf ihrem Sterbebette versprochen habe, eine Minute ehe sie den Geist aufgab, daß ich niemals heiraten werde! Und ich will und muß das Versprechen halten! Sie war geisteskrank, erst schwermütig, dann schlimmer, und nur in der letzten Stunde wurde sie noch einmal licht und sprach mit mir. Es ist in der Familie, taucht bald da, bald dort auf; früher übersprang es regelmäßig eine Generation, doch die Großmutter hat's gehabt, dann die Mutter, und nun fürchtet man, ich werde es auch bekommen!«

Sie ließ sich auf die Erde nieder, bedeckte das Gesicht mit den Händen und fing bitterlich an zu weinen.

Landolt kniete erschüttert bei ihr, suchte ihre Hände zu fassen und sie zu beruhigen. Er suchte nach Worten, ihr seinen Dank, seine Gefühle auszudrücken, konnte aber nichts sagen, als: »Nur Mut, das wollen wir schon machen! Das wäre etwas Schönes; da wird nichts draus« und so weiter.

Allein sie rief mit erschreckender Überzeugung: »Nein, nein! Ich bin jetzt schon nur so lustig und töricht, um die Schwermut zu verscheuchen, die wie ein Nachtgespenst hinter mir steht, ich ahne es wohl!«

Es gab damals bei uns zulande noch keine besondern Anstalten für solche Kranke; die Irren wurden, wenn sie nicht tobten, in den Familien behalten und lebten langehin als unselige dämonische Wesen in der Erinnerung.

Schneller, als er hoffte, erhob sich aber das weinende Mädchen; sie trocknete das Gesicht sorgfältig und entfloh der Trauer mit instinktiver Eile.

»Genug für jetzt!« rief sie. »Sie wissen's nun! Sie müssen ein gutes, schönes Wesen heiraten, das klüger ist als ich! Still, schweigen Sie! Das ist das Punktum!«

Landolt wußte für einmal nichts weiter zu sagen; er blieb gerührt und erschüttert von dem ernst drohenden Schicksale; aber er fühlte auch ein sicheres Glück in sich, das er nicht zu verlieren gedachte. Sie gingen noch so lange miteinander herum, bis die Spuren der Aufregung in Figuras schönem Gesicht verschwunden waren, und kehrten dann zu der Gesellschaft zurück.

Dort war bereits ein kleiner Ball unter den jüngern Leuten im Gange, da Herr Geßner für ein paar ländliche Musikanten gesorgt hatte.

Als aber Figura erschien, forderte der versöhnte Bodmer selbst sie auf, eine Tour mit ihm zu probieren, damit er seine Jugendlichkeit noch dartun könne. Nachher tanzte sie, so oft es ohne auffällig zu werden geschehen konnte, mit Landolt, dem sie zuflüsterte, es müsse das der letzte Tag ihrer Vertraulichkeit sein, da sie nie wisse, wann sie in das unbekannte Land abberufen werde, wo die Geister auf Reisen gehen.

Auf der Fahrt nach der Stadt ritt er an der Seite des Wagens, auf welcher sie saß. Ihr Zünglein stand nicht einen Augenblick still; von einem fruchtbeladenen Kirschbaum, unter dem er wegritt, brach er rasch einen Zweig voll korallenroter Kirschen und warf ihr denselben auf den Schoß.

»Danke schön!« sagte sie und bewahrte den Zweig mit den vertrockneten Früchten noch dreißig Jahre lang sorgfältig auf; denn sie blieb bei guter Gesundheit, und das düstere Schicksal erschien nicht. Dennoch verharrte sie unabänderlich auf ihrem Entschlusse; auch ihr Bruder Martin, welchen Salomon am nächsten Tage in aller Frühe aufsuchte, um mit ihm zu sprechen, bestätigte ihre Aussage, und daß es für eine ausgemachte Sache im Hause gelte, in welchem von jeher vorzüglich die Frauen diesem Unglück ausgesetzt gewesen seien. Keinen liebern Schwager, beteuerte Martin, möchte er sich wünschen als Landolten; allein er müsse ihn selbst bitten, um der Ruhe und des Friedens ihres Gemütes willen, die sich bis jetzt so leidlich erhalten, von allem weiteren abzustehen.

Landolt ergab sich nicht sogleich; vielmehr harrte er im stillen jahrelang, ohne daß jedoch eine Änderung in der Sache eintrat. Sein guter Mut erhielt sich nur dadurch, daß nach den abgemessenen Zwischenräumen, nach welchen er die Figura Leu wiedersah, ihre Augen ihm jedesmal zu verstehen gaben, daß er ihr liebster und bester Freund sei.


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