Gottfried Keller
Züricher Novellen
Gottfried Keller

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Nach diesen Worten, die er in ungewöhnlich ernstem Tone gesprochen, verließ er so rasch das Zimmer, daß keine der Frauen Zeit fand, ein Wort dazwischenzuwerfen. So saßen sie nun erstaunt und schweigend auf ihren Stühlen gleich fünf Staatsräten und sahen sich an. Sie waren so überrascht, daß keine einen Laut hervorbrachte, bis Salome zuerst sich faßte und rief: »Das kann nicht so gehen! Wenn der Landvogt heiraten will, so muß man ihm für etwas Rechtes sorgen! Er ist jetzt ein gemachter Mann, und ich will bald gefunden haben, was für ihn paßt; auf dieser Marotte darf man ihn keinenfalls lassen!«

»Das ist auch meine Ansicht,« sagte Aglaja nachdenklich; »es muß Zeit gewonnen werden.«

»Das glaub' ich, du nähmst ihn am Ende noch selbst,« dachte Salome, »aber es wird nichts daraus, ich weiß ihm schon eine!« Laut sagte sie: »Ja, vor allem müssen wir Zeit gewinnen! Wir wollen klingeln und ihm eröffnen, daß wir jetzt nicht entscheiden, sondern den Ratschlag verschieben wollen!«

Sie streckte schon die Hand nach der Glocke aus; doch die Jüngste, Barbara Thumeysen, hielt sie zurück und rief mit ziemlich kräftigem Stimmlein:

»Ich widersetze mich einer Verschiebung; er soll heiraten, das ist wohlanständig, und zwar stimme ich für die alte Haushälterin; denn es ist nicht schicklich, daß er jetzt noch ein ganz junges Ding zur Frau nimmt!«

»Pfui!« sagte jetzt Wendelgard, »die alte Rassel! Ich stimme für die Junge! Sie ist hübsch und wird sich von ihm ziehen lassen, wie er sie haben will; denn sie ist auch bescheiden. Und wenn sie arm ist, wird sie ihm um so dankbarer sein!«

Gereizt wendeten Salome und Aglaja zusammen ein, daß es sich zuerst darum handle, ob man heute eintreten oder verschieben wolle. Noch gereizter rief Barbara, sie stimme für das Eintreten und für die Alte; wolle man aber verschieben, so behalte sie sich vor, unter den ehrbaren und bestandenen Töchtern der Stadt selbst auch eine Umschau zu halten; es gebe mehr als eine würdige Dekanstochter zu versorgen, deren schöne Tugenden und Grundsätze dem immer noch etwas lustigen und phantastischen Herrn Landvogt zugut kommen würden.

Es gab nun ein beinahe heftiges Durcheinanderreden. Nur Figura Leu hatte noch nichts gesagt. Sie war blaß geworden und sie fühlte ihr Herz gepreßt, daß sie nichts sagen konnte. Obgleich sie sonst alle Streiche und Einfälle des Landvogts sogleich verstand, hielt sie doch den jetzigen Scherz, gerade, weil sie jenen liebte, für baren Ernst; sie sah endlich herangekommen, was sie längst für ihn gewünscht und für sich gefürchtet hatte. Aber entschlossen nahm sie sich endlich zusammen und erbat sich Gehör.

»Meine Freundinnen!« sagte sie, »ich glaube, mit einer Verschiebung gewinnen wir nichts; vielmehr halte ich dafür, daß er bereits entschlossen ist, und zwar für die Junge, und von uns aus Courtoisie und Lust an Scherzen eine Bestätigung holen will. Daß er die Frau Marianne heiratet, glaub' ich nie und nimmer, und sie sieht auch gar nicht darnach aus, als ob sie einem solchen Vorhaben entgegenkommen würde; dazu ist die Alte zu klug. Wenn wir aber nichts beschließen oder, was gleichbedeutend ist, ihm die erwartete freundliche Zustimmung verweigern, so bin ich meinesteils gewiß, daß wir morgen die Anzeige seines Entschlusses erhalten werden!«

Die kleine Versammlung überzeugte sich von der mutmaßlichen Richtigkeit dieser Ansicht.

»So schlage ich vor, zur Abstimmung zu schreiten,« sagte Salome; »wie alt ist er eigentlich jetzt? Weiß es niemand?«

»Er ist beinahe dreiundvierzig,« antwortete Figura.

»Dreiundvierzig!« sagte Salome; »gut, ich stimme für die Junge!«

»Und ich für die Alte!« rief die Tochter des Proselytenschreibers, die zarte Grasmücke, die in dieser Sache so hartnäckig schien, wie einer der Redner jener blutigen Kriegsgemeinde von Greifensee.

»Ich stimme für die Junge!« rief dagegen die schöne Wendelgard und schlug leicht mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Und ich für die Alte!« sagte Aglaja mit unsicherem Ton, indem sie vor sich hinschaute.

»Jetzt haben wir zwei junge und zwei alte Stimmen,« rief Salome; »Figura Leu, du entscheidest!«

»Ich bin für die Junge!« sagte diese, und Salome ergriff sofort die Glocke und klingelte kräftig.

Es dauerte ein paar Minuten, ehe Landolt erschien, und es herrschte eine tiefe Stille, während welcher verschiedene Gefühle die Frauen bewegten. Figura vermochte kaum ein paar schwere Tränen zu verbergen, die ihr an den Wimpern hingen; denn sie hatte sich an die Meinung gewöhnt, daß Landolt ledig bleibe, und wußte jetzt, daß sie die Einsamkeit ganz allein tragen müsse. Dieses Verbergen half ihr ein Einfall Wendelgards zuwege bringen, welche, die Stille unterbrechend, ausrief, sie schlage vor, daß der Landvogt die Alte küssen müsse, ehe man ihm das Urteil eröffne; er werde dann glauben, das Urteil laute für die Marianne, und man werde an seinem Gesichte, das er schneide, entdecken, ob es ihm Ernst gewesen sei, sie zu heiraten. Der Vorschlag wurde gutgeheißen, obgleich Figura ihn bekämpfte, weil sie dem Landvogt die unangenehme Szene ersparen wollte.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und er trat feierlich herein, die Frau Marianne am Arm, welche possierliche Verneigungen und Komplimente nach allen Seiten hin machte, gleichsam als wollte sie sich zum voraus in gute Freundschaft empfehlen. Dabei ließ sie in schalkhafter Laune durchbohrende Blicke bald auf diese, bald auf jene der anmutigen Richterinnen fallen, so daß diese ganz zaghaft und mit bösem Gewissen dasaßen. Der Landvogt aber sagte:

»In der sicheren Voraussicht, daß meine Beiständerinnen mich auf den Weg der ruhigen Vernunft und des gesetzten Alters verweisen, führe ich die Erkorene gleich herbei und bin bereit, mit ihr die Ringe zu wechseln!«

Wiederum verneigte sich Frau Marianne nach allen Richtungen, und die Frauen am Tische wurden immer verblüffter und kleinlauter. Keine wagte ein Wort zu sagen; denn selbst Aglaja und Barbara, die für die Alte gestimmt, fürchteten sich vor ihr. Nur Figura Leu, voll Trauer über den tiefen Fall des Mannes, der wirklich eine verwitterte Landfahrerin heiraten wolle, die längst schon neun Kinder gehabt, erhob sich und sagte mit unwillig bewegter Stimme:

»Ihr irrt Euch, Herr Landvogt! Wir haben beschlossen, daß Ihr die junge Base dieser guten Frau heiraten sollt, und hoffen, daß Ihr unseren Rat ehret und uns nicht in den April geschickt habt!«

»Ich fürchte, es ist doch geschehen!« sagte der Landvogt lächelnd, trat zum Tisch und klingelte mit der Glocke, indessen die Frau Marianne ein schallendes Gelächter erhob, als der Knabe, der die Magd gespielt hatte, in seinen eigenen Kleidern erschien und vom Landvogt den Damen als Sohn des Herrn Pfarrers zu Fellanden vorgestellt wurde.

»Da mir nun die Alte verboten ist und sie, ihrem Gelächter nach zu schließen, sich nichts daraus macht, die Junge aber sich unter der Hand in einen Knaben verwandelt hat, so denke ich, wir bleiben einstweilen allerseits, wie wir sind! Verzeiht das frevle Spiel und nehmt meinen Dank für den guten Willen, den Ihr mir erzeigt, indem Ihr mich nicht für unwert erachtet habt, noch der Jugend und Schönheit gesellt zu werden! Aber wie kann es anders sein, wo die Richterinnen selber in ewiger Jugend und Schönheit thronen?«

Er gab ihnen der Reihe nach die Hand und küßte eine jede auf den Mund, ohne daß derselbe von einer verweigert wurde.

Figura gab das Zeichen zu einer mäßigen Ausgelassenheit, indem sie freudevoll rief: »So hat er uns also doch angeschmiert!«

Mit lautem Gezwitscher flog das schöne Gevögel auf und fiel an dem kleinen Seehafen vor dem Schlosse nieder, wo ein Schiff bereit lag für eine Lustfahrt; das Schiff war mit einer grünen Laube überbaut und mit bunten Wimpeln geschmückt. Zwei junge Schiffer führten das Ruder, und der Landvogt saß am Steuer; in einiger Entfernung fuhr ein zweiter Nachen mit einer Musik voraus, die aus den Waldhörnern der Landoltschen Schützen bestand. Mit den einfachen Weisen der Waldhornisten wechselten die Lieder der Frauen ab, welche jetzt herzlich und freudefromm bewußt waren, daß sie dem still das Steuer führenden Landvogte gefielen, und sein ruhiges Glück mitgenossen. Musik und Gesang der Frauen ließ ein leises Echo aus den Wäldern des Zürichberges zuweilen widerhallen, und das große, blendend weiße Glarner Gebirge spiegelte sich in der luftstillen Wasserfläche. Als der herannahende Abend alles mit seinem milden Goldscheine zu überfloren begann und alles Blaue tiefer wurde, lenkte der Landvogt das Schiff wieder dem Schlosse zu und legte unter vollem Liederklange bei, so daß die Frauen noch singend ans Ufer sprangen.

Ihrer warteten im Schlosse vier muntere junge Leute, welche Landolt auf den Abend zu sich berufen hatte. Es wurde ein kleiner Ball abgehalten; Herr Salomon tanzte selbst mit jeder der Flammen einen Tanz und gab beim Abschiede jeder einen der Jünglinge zur guten Begleitung mit, der Figura Leu aber den artigen Knaben, der die junge Magd gespielt hatte.

Während der Abfahrt ließ er die Kanonen wieder abfeuern und sodann bei zunehmender Dunkelheit die Fahne auf dem Dach einziehen.

»Nun, Frau Marianne,« fragte er, als sie ihm den Schlaftrunk brachte, »wie hat Euch dieser Kongreß alter Schätze gefallen?«

»Ei, bei allen Heiligen!« rief sie, »ausnehmend wohl! Ich hätte nie gedacht, daß eine so lächerliche Geschichte, wie fünf Körbe sind, ein so erbauliches und zierliches Ende nehmen könnte! Das macht Ihnen so bald nicht einer nach! Nun haben Sie den Frieden im Herzen, soweit das hienieden möglich ist; denn der ganze und ewige Frieden kommt erst dort, wo meine neun kleinen Englein wohnen!«

So verlief diese denkwürdige Unternehmung. Später erhielt der Obrist die Landvogtei Eglisau am Rhein, wo er blieb, bis es überall mit den Landvogteien ein Ende hatte und im Jahre 1798 mit der alten Eidgenossenschaft auch die Feudalherrlichkeit zusammenbrach. Er sah nun die fremden Heere sein Vaterland und die schönen Täler und Höhen seiner Jugendzeit überziehen, Franzosen, Österreicher und Russen. Wenn auch nicht mehr in amtlicher Stellung, war er doch überall mit Rat und Hilfe tätig, stets zu Pferd und unermüdlich; aber in allem Elend und Gedränge der Zeit wachte sein künstlerisches Auge über jeden Wechsel der tausenderlei Gestalten, die sich wie in einem Fiebertraume ablösten, und selbst im Donner der großen Schlachten, deren Schauplatz seine engste Heimat war, entging ihm kein nächtlicher Feuerschein, kein spähender Kosak oder Pandure im Morgengrauen. Als die Sturmfluten sich endlich verlaufen hatten, wechselte er, malend, jagend und reitend, häufig seinen Aufenthalt und starb im Jahre 1818 im Schlosse zu Andelfingen an der Thur. Von jener letzten Zeit sagt sein Biograph: An warmen Sommernachmittagen blieb er allein unter dem Schatten der Platanen sitzen, zumal während der Ernte, wo die ganze kornreiche Gegend von Schnittern wimmelte. Er sah denselben gern von seiner Höhe zu. Wenn sie bei der Arbeit sangen, pflückte er wohl ein Blättchen, begleitete, leise darauf pfeifend, die fröhlichen Melodien, welche aus dem Tale heraufschwebten, und entschlummerte zuweilen darüber, wie ein müder Schnitter auf seiner Garbe.

Im Spätherbste seines siebenundsiebzigsten Lebensjahres, als das letzte Blatt gefallen, sah er das Ende kommen. »Der Schütze dort hat gut gezielt!« sagte er, auf das elfenbeinerne Tödlein zeigend, das er von der Großmutter geerbt hatte. Die Figura Leu, welche noch im alten Jahrhundert gestorben, hatte das feine Bildwerk von ihm geliehen, da es ihr Spaß mache, wie sie sich ausdrückte. Nach ihrem Tode hatte er es wieder an sich genommen und auf seinen Schreibtisch gestellt.

Die Frau Marianne ist im Jahre 1808 abgeschieden, ganz ermüdet von Arbeit und Pflichterfüllung; ihrer Leiche folgte aber auch ein Grabgeleite, wie einem angesehenen Manne.


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