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Beim Einsiedel

Im dunklen Tannenwald steht ein Häuschen mit tief herabhängendem, bemoostem Dach, so recht wie ein Haus aus dem Märchen. Man würde sich gar nicht wundern, wenn die Waldvöglein, die auf dem Dach sitzen, und der Rabe, der auf der Schwelle hockt, ein Gespräch anfingen, oder wenn sich die Tür öffnete und Rotkäppchen herauskäme oder gar der Kinderschrecken, die böse Pfefferkuchenhexe.

Aber nichts von alledem geschieht. Die goldene Mittagsonne scheint auf das Dach und blinkt in den Scheiben der kleinen Fenster, vor denen Nelken und brennendroter Geranium in Töpfen stehen, und leichtes, blaues Rauchgekräusel steigt aus dem hohen Schornstein. Auch die Tür öffnet sich jetzt wirklich, aber keine Hexe steht auf der Schwelle, sondern ein lieber, alter Einsiedelmann in brauner Kutte mit schneeweißem Haar und Bart und so gut und freundlich blickenden Augen. Er faßt einen Strick und setzt das Glöckchen in Bewegung, das unter einem spitzen Dächlein über der Tür hängt und nun hell zu läuten anhebt. »Bim – bam! – Kommt – kommt! – Bim – bam!« klingt's weit hinaus ins Tannendunkel.

Nicht lange, und es trippelt und trappelt heran von allen Seiten; hier knackt ein Zweig, dort klingt ein helles Stimmchen. Einsiedel steht mit dem freundlichsten Lächeln in der Tür und wartet auf seine kleinen Mittagsgäste, denn alle Kinder, die im Walde Beeren oder Reisig sammeln, wissen, daß sie bei ihm zu Tisch geladen sind, sobald das Glöckchen klingt. Flachsköpfe und Braunköpfe springen mit fröhlichem Gruß heran, legen ihre Bündel Leseholz beiseit oder stellen die Beerentöpfe an einen sicheren Platz und folgen dem guten Wirt in sein Häuschen, wo ein warmes Milchsüppchen auf sie wartet. Da dürfen sie sich auf niedrige Holzbänke setzen und dem lieben Alten die mitgebrachten Henkeltöpfchen reichen, damit er sie fülle. Und dann heißt es: »Trinket und eßt, aber Gott nicht vergeßt!« Alle Händchen, auch die noch ganz ungeschickten kleinsten Patschhändchen, müssen sich hübsch still falten und der alte Einsiedel spricht ein Tischgebet, worauf das Geklapper der Löffel angeht. Wer großen Hunger hat, darf sich mit seinem Töpfchen noch einmal melden: Einsiedel gibt gern, solange der Vorrat reicht. Der große, schwarze Rabe aber hüpft zwischen den Gästen herum und jagt den Kleinsten einen Schreck ein, wenn er den krummen Schnabel aufsperrt, um sich ein paar Brotkrumen zu holen. Aber es sieht nur so gefährlich aus, er ist gut Freund mit allen Kindern und antwortet auf die Frage: »Wie heißt du?« unermüdlich von neuem: «Jakob!«

Sind nun alle hungrigen Mäulerchen satt, so müssen die größeren Kinder noch ein Sprüchlein oder Lied aufsagen, das sie in der Schule gelernt haben, auch Bescheid geben, wie es daheim ergeht, und dann reicht jedes dem guten Speisewirt ein Händchen, sagt schön Dank, und die ganze Schar läuft wieder hinaus in den grünen Wald.

Bild: Hermann Kaulbach

Beim Einsiedel.

Bild: Hermann Kaulbach

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