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Die Zwillinge

Es gibt allerlei hübsche Dinge, die paarweise auf die Welt kommen. Sind da nicht zum Beispiel die Pärchen bei den süßen, roten Kirschen, die man sich an den zusammengewachsenen 5tengeln so schön über die Ohren hängen kann, und die blanken, neuen Schuhchen, von denen eins zum andern gehört? Und ab und zu einmal liegt auch ein Pärchen kleiner Menschenkinder in einer Wiege; eins sieht aus wie das andere, sie trinken und schlafen, zappeln und schreien, weinen und lachen nebeneinander und werden gemeinsam von Tag zu Tag größer und verständiger. Habt ihr schon einmal solch Zwillingspärchen gesehn?

Im Waldhaus, beim Forstwart, hatte eins in der Wiege gelegen, und jeder, der es sah, hatte sich an ihm erfreut, am meisten natürlich die Eltern. Zwei kleine Mädchen waren's, die Els und die Lies. Alles war gleich an ihnen; sie hatten beide dunkle Haare, braune Äuglein. rosige Bäckchen und dieselben Stumpfnäschen. Ein Fremder konnte sie anfangs nicht unterscheiden, selbst die eigene Mutter wußte kaum auf den ersten Blick, welches der kleinen Dinger die Els war und welches die Lies. Deshalb band sie der einen ein rotes Bändchen um den Hals und der andern ein blaues.

Aber nach ein paar Jahren schon war solch Kennzeichen überflüssig, denn wenn die Kinder einander auch äußerlich noch ähnlich sahen, so zeigte doch jedes im Wesen seine besondere Art. Lies war sanft und folgsam, während Els lebhaft und wild war, oft sogar recht trotzig und ungezogen. Und diese Eigenschaften gaben, wie es immer geschieht, mehr und mehr den Gesichtern einen verschiedenen Ausdruck.

Eben haben die beiden auf der Waldwiese vor dem Haus lustig gespielt mit Tannenzapfen, Schneckenhäusern und Steinchen, als die Mutter zum Süppchen rief. Es wurde beiden gleich schwer, sich von dem Spiel zu trennen, während aber Lies sofort folgsam ihre Beinchen in Bewegung setzte, wollte Els noch dies und das tun, und die Mutter mußte zum zweitenmal rufen, ehe sie sich zögernd auf den Weg machte. Mürrisch ließ sie sich auf das Bänkchen neben dem Herd setzen, und aus dem großen, weißen Tuch, welches die Mutter ihr und der Lies gemeinsam als Serviette umknotete, schaute neben dem sanften Gesicht des Schwesterchens ihr eigenes doppelt unfreundlich heraus. Und nun sollte sie gar noch Suppe mit Semmelbrocken essen, die sie schon gar nicht mochte! Die gute Lies schluckte ihren Löffel voll gehorsam hinunter, Els aber kniff trotzig das Mündchen zu und wollte nicht, soviel auch die Mutter bat. Als diese sah, daß bei dem Trotzkopf wieder einmal mit Güte nichts zu erreichen war, holte sie das altbewährte Heilmittel für solche Kinderunart, eine schlanke, braune Rute, herbei, die der Vater selbst für die kleine Els geschnitten hatte, und ihr Anblick allein genügte schon, das trotzige Mündchen zu öffnen.

Bild: Hermann Kaulbach

Die Zwillinge.


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