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Die Harmonika

So ein rechter, klitschnasser Regensonntag ist's draußen, wo alle Dachrinnen zu tun haben und die Arbeit kaum schaffen können, wo selbst die Spatzen mit ihrem wasserdichten Röcklein am liebsten im Nest bleiben, und doch ein Tag, den eigentlich alle Kinder einmal ganz gern haben. Denn es ist ein heimlich behagliches Gefühl, nicht fort zu müssen zur Schule und innerhalb der vier Wände vornehmen zu können, was man gern tut. Die Mädels kramen ihre Puppenwirtschaft aus und bei den Buben kommen die Bilder- und Geschichtenbücher an die Reihe, die bei gutem Wetter unbeachtet im Schrank stehen. Und wenn man sich satt gespielt hat, hört man ein Weilchen zu, was Vater und Mutter reden, oder stellt sich eine Zeitlang ans Fenster und schaut in den Regen hinaus. Das macht nachdenklich. Merkwürdig, auf was die Kinder dabei manchmal verfallen!

Da sagt zum Beispiel an solchem Regensonntag des Bachmüllers Älteste zum Florian, ihrem Bruder: »Weißt, der Mühlknecht ist fortgegangen zu seinen Leuten, ich hol' seine Harmonika und versuch' drauf zu spielen!« Der Florian ist gern dabei; die Harmonika, die auf dem Schrank in der Knechtskammer steht, wird herabgeholt, und die Kinder suchen sich damit in der Küche einen behaglichen Platz am Herd. Auch das kleinste verspricht sich ein Vergnügen von dem Sonntagnachmittagskonzert, läuft herzu und hockt sich neben die Schwester.

Nun ist zwar das Luisle noch grad keine fertige Künstlerin auf dem Instrument, denn es hat's nur erst einmal unter der Anleitung des Besitzers zu spielen versucht, aber umso größer ist sein Kunsteifer, freilich, der zuhörende Florian macht sich seine eigenen Gedanken bei den langgezogenen, quietschenden Tönen. Ist's nicht, als ob dem Ding der Atem knapp würde? Und dann faucht es wieder so seltsam, als ob es böse wäre, – das tut's doch nicht, wenn der Ludwig darauf spielt! Grad, als ob etwas in dem Gefach steckte, das seufzt und sich beklagt, hört's denn das Luisle nicht auch? Sie sollt's wieder auf den Schrank tun, das Spielen ist dem Ding nicht recht.

Aber das Schwesterchen gibt sich unverdrossen Mühe, bis bei dem Auseinanderziehen und Zusammenschieben immer klarere Töne herauskommen. Die Harmonika scheint auch immer zufriedener zu werden, sie stöhnt nicht mehr so viel, ihr Atem wird ruhiger, und – wirklich! – jetzt hört man deutlich eine Melodie heraus, ehe sie wissen, wie's geschieht, singen die Kinder mit: »Alles neu macht der Mai, – Macht die Seele frisch und frei! – Laßt das Haus, kommt hinaus, – windet einen Strauß!« Es klingt so jubelnd, als ob sie beim Singen draußen im Frühlingssonnenschein über die blumigen Wiesen laufen. Und die Harmonika müht sich, mit den hellen Kinderstimmen mitzukommen, denn sie ist schon alt und ihr Atem beengter als der in den jungen Lungen.

»Ich mein', Luisle,« sagt der Florian, als das Lied aus ist, »in dem Ding steckt doch etwas Lebendiges drin!«

Bild: Hermann Kaulbach

Die Harmonika


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