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Die Landstreicher

Iwan Trofimowitsch Kusnezow hatte sich nach dem Westgebiet begeben, da es im alten Lande nicht geheuer und mit der Goldgräberei doch nichts zu verdienen war. Ja – wenn er die Goldader gewußt hätte, die damals Winogradow entdeckte …

Er kommt an ein Heustadel, das dicht an der Landstraße nach Zelina liegt. Der Herbstregen fällt, es ist ein kaltes, häßliches Wetter.

Hinein in den Heustadel. Hier ist Schutz vor Wind und Regen.

Da brummt eine Stimme in schlechtem Russisch: » To tam?«

Wo hat doch Kusnezow schon diese Stimme, diese Aussprache gehört? …

» To tam?« Ein Streichholz leuchtet auf, eine Zigarette brennt.

Einen Augenblick hat Iwan Trofimowitsch das Gesicht des anderen gesehen – dies pockennarbige Gesicht … Kedrapu! …

Er selbst ist unkenntlich, sein langer Bart macht ihn fremd. Er murmelt irgend etwas, kriecht ins Heu. Als er sich seine Machorkazigarette anzündet, achtet er wohl darauf, daß sein Gesicht unbeleuchtet bleibt.

Alte Bilder – alter Haß. Gleichwohl läßt sich der Landstreicher mit dem Esten in ein Gespräch ein. Wohin? Woher? Nun – nach Rostow zu, nach der Winterherberge …

Sie haben einen Weg, die beiden. Sie plaudern miteinander, sie rauchen.

Bis zum Morgen will Kedrapu warten. Der andere rät ab. Hier sei es doch schlecht genug, in der Nacht würde es kalt werden. So – ohne Feuer …

Gut – auch der Este ist einverstanden. Man wird aufbrechen, wenn der Regen aufhört. Man wird ein Dorf aufsuchen, eine geheizte Hütte.

Nach einer Weile ist's still geworden draußen. Der Regen läßt nach. Die Landstreicher machen sich auf den Weg, nach Zelina zu.

Der Este ist gesprächig, er will ein Ding »drehen« – er braucht einen Genossen. Dort – zwischen Zelina und der nächsten Station ist der Chutor eines Remontezüchters. Der hat viel Geld eingenommen, neulich …

Der andere hört zu, murmelt scheinbar Zustimmung.

Sie kommen an ein Dorf – sie wagen sich nicht hinein. Es sind Kosaken im Dorf, keine Kleinrussen.

Sie umschleichen das Dorf, kriechen in die Badstube, in die Hütte, wo die Bauern Sonnabends baden, wo sie Wäsche waschen.

Sie heizen den Raum mit zusammengelesenen Spänen, sie wärmen sich. Dann kriechen sie auf die Pritsche, wo sich sonst die Bauern zum Schwitzen in den Dampf legen.

Der Este schnarcht. Der andere wacht und betrachtet den Schläfer lauernd. Bilder, fast vergessene Bilder. Der Berg, die Hütte. Dann Kusmas Ambar und die Stricke, die ins Fleisch schnitten …

Voll Haß sieht er in das pockennarbige Gesicht des Esten. Den Betrug will er ihm heimzahlen …

Er tastet nach der Tasche – er zieht das Messer heraus. Klappt die Klinge auf, setzt sie an den Hals des Schläfers …

Ein heißer, roter Strahl spritzt auf – ein gurgelnder Laut, ein Stöhnen …

Ein schwerer Körper rollt seitwärts, fällt von der Pritsche, wälzt sich auf dem Lehmboden.

Der andere ist hinaus und läuft in die Nacht hinein, Zelina zu.

Er läuft die ganze Nacht, den ganzen Tag. Irgendwo ist er dann vor Ermattung umgesunken, an der Straße.

Über die Steppe lief ein anderer Landstreicher: ein grauer, großer Wolf. Der kam in ein kleines Akaziengehölz, das die Menschen hier an der Bahn zwischen Zelina und Rostow angepflanzt hatten – zum Schutz des Bahnkörpers gegen Schneeverwehungen.

Als er in das Gehölz kommt, schlägt ihm plötzlich menschliche Witterung entgegen …

Er erschrickt. Da es aber ziemlich dunkel ist und nur eine schwache Mondscheibe am Himmel, faßt er sich ein Herz und schleicht heran. Er ist neugierig – was hat so ein Zweibein hier in der Nacht zu suchen?

Es ist bitter kalt geworden; auf den Regenpfützen glitzert das Jungeis.

Der Wolf erschrickt heftig: fast stieß er mit der Nase an den schlafenden Menschen! Ein leises Schnarchen ertönt; wirklich – der Mensch ist nicht tot. Würgezahn eilt zurück und versteckt sich. Er bleibt aber in der Nähe …

Als die Bauern am nächsten Tage nach der Badstube gingen, fanden sie zu ihrem Entsetzen den blutigen Toten. Sie beratschlagten, holten den Popen. Der aber riet, den Urädnik zu rufen.

Der Polizeimann kam, schrieb ein Protokoll und benachrichtigte die Kreispolizei. Schon am nächsten Tage waren vierzig Kosaken und zehn Strashniki unterwegs, den Täter zu suchen.

Papiere hatte der Tote nicht bei sich. Daher nahm man an, er sei rechtgläubiger Christ – und der Pope beerdigte ihn.

Hinter Kusnezow aber ging die Hetze. Er merkte bald, daß er verfolgt wurde, und er schlug sich weitab in die Steppe – mal hier, mal da übernachtend, mal hier, mal da bettelnd und wieder weiter ziehend.

Da er ahnte, daß der Weg nach Bataisk und Rostow abgeschnitten sein würde, schlug er den Weg nach dem Stawropolschen ein und überschritt den Manytsch nächtlicherweile auf einer verfallenen Brücke.

Die gutmütigen kleinrussischen Bauern speisten ihn.

So waren acht Tage vergangen, und immer wieder war es Kusnezow geglückt, sich seinen Verfolgern zu entziehen. Aber er war arg mitgenommen, halb erfroren, unterernährt und in nassen Lumpen.

Als er einmal beim Bauern Pawlo Kusmenko gegessen hatte und der Wirt einen Augenblick aus der Stube gegangen war, bemerkte er eine Flasche Samogon – eigengebrannten Schnaps – auf dem Fenster. Er bemächtigte sich der vollen Flasche, verließ schnell das Haus und verschwand mit seinem Raube in der Steppe.

In einer kleinen Balka, die Schutz vor dem Winde bot, machte Kusnezow Rast. Dort kauerte er sich hin, nachdem er große Haufen dürren Schilfes zusammengeschleppt hatte, machte sich ein kleines Feuerchen an und untersuchte die Flasche nach Inhalt und Gehalt.

Nachdem der letzte Tropfen ausgetrunken war, überkam Kusnezow eine wohlige Müdigkeit. Sein überanstrengter Körper versagte den Dienst, der Branntwein tat das übrige – und der Landstreicher schlief ein.

Die Nacht war bitter kalt – das Feuerchen war längst erloschen. Immer noch schlief der Landstreicher.

Er schlief, schlief …

Am Rande der Balka aber saß der große, graue Wolf und wartete.

Gegen Morgen schlich eine graue Gestalt in die Balka hinab.

Ein vorsichtiges Umkreisen, ein langes Schnüffeln …

Toter Mensch ist Würgezahn bekannt – von früher her. Toter Mensch riecht anders als schlafender Mensch. Toter Mensch schreit nicht, haut nicht, schießt nicht …

Vier Strashniki und ein Landgendarm reiten am nächsten Tage durch das Dorf. Sie fragen nach einem Landstreicher – mit braunem Bart, zerrissenem, schwarzem Rock, grauen Hosen …

Freilich, freilich – der sei dagewesen, sagt Pawlo Kusmenko, der Bauer.

Sie suchen, die Reiter.

Als sie an der Balka stehen und hinabblicken, meint Wassili Grigoritsch, der Älteste: »Da ist für uns nichts zu tun.«

Die anderen bekreuzigen sich und murmeln: »Gott, erbarme dich …«

Dann aber schreibt der Älteste ein Protokoll, und die Reiter kehren um.

»Der Wolf hat ihn gefressen«, sagt der eine.

» Nitschewo!« sagt der älteste. »Die Bauern werden die Knochen vergraben.«

»Wir müssen alle sterben«, meint ein dritter. Damit ist die Sache abgetan.


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