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Ranzzeit

Länger wurden die Tage – und es kam die neue Zeit. Die neue Zeit? Ja – freilich: jedwedes Tier kennt alljährlich die neue Zeit, die Zeit, in der das Tier vom Triebe erfaßt wird, daß es schier Fraß und Ruhe vergißt, die Zeit, da das Tier wandert, fast ziellos und doch mit Ziel – mit einem, mit einem einzigen Ziel: neues Leben zu zeugen.

Das nennen die Tiere alljährlich »die neue Zeit«. Die Tiere der Wildnis.

Anders die Tiere der Menschknechtung. Die kennen keine neue Zeit; denn ihre Zeit ist stets dieselbe, nicht alt, nicht neu – wie die der Menschen selbst. Jenen gibt das Jahr einmal die große, geheimnisvolle Neuerung, den großen, heilig-schrecklichen Drang. Diesen aber, die in ewigem Fraß und in ewiger Sinnenlust leben, gibt sie nichts Neues mehr, nichts Geheimnisvolles, nichts Heiliges und nichts Schreckliches. Stumpf fressen, stumpf genießen sie, stumpf ruhen sie, wohl bewacht, stumpf zeugen sie, und – stumpf gehen sie zum Tode. Ihnen ist nichts neu, nichts schön – denn sie haben bloß eine einzige Richtlinie im Leben: die Gewohnheit.

Über das Tier der Wildnis aber kommt der Drang wie die Flut der Frühlingswasser im Lenz. Hinreißend, hinwegreißend, unüberwindlich, wild und – herrlich.

Unruhe war zwischen den Wölfen des Rudels, und die Rüden fletschten sich an. Die Betzen rochen süßlich, und die Rüden rannten hinterdrein. Gar bei Tage …

So ging es einige Zeit. Eines Tages aber verschwand Blutzunge und mit ihr Mordzahn. Zangenbiß aber nahm die Spur auf und verschwand mit ihnen. Würgezahn aber lief hinter Schafraube und Kalbschrecke her. Neben ihm trottete Schneidebiß – mit gefletschtem Gebiß und aufgezogenen Lippen. Jetzt auch Mordzahn. Er hielt sich ein wenig abseits; denn er war arg zerbissen. Zangenbiß hatte ihn von der Schwester fortgejagt, nach heftigem Kampfe. Blutzunge blieb bei Zangenbiß – man sah sie nicht wieder.

In der Natur lieben sich die Geschwister wie sonst Mann und Weib.

Wütend knurrend rannten Würgezahn und Schneidebiß nebeneinander her. Als aber Schneidebiß sich an Kalbschrecke heranmachte – fuhr der große Graue über ihn her.

Es gab ein furchtbares Grölzen, Beißen, Schnappen und Keuchen. Haare flogen in Büscheln, Blut spritzte auf den Schnee.

Ein wüster Knäuel am Boden.

Ringsum hocken die anderen Wölfe mit glühenden Blicken und sehen zu. Sie wissen: sie kämpfen um ihr Leben, die beiden Wölfe. Sie bringen alle Kraft, allen Mut, alle Gewandtheit auf.

Ringsum hocken die anderen mit lechzenden Zungen, mit glühenden Blicken. Dann aber – als der große Graue Sieger ist und sich stolz aufrichtet – stürzen sich alle Wölfe auf den zuckenden Besiegten …

Wolf frißt Wolf.

Mordzahn gelüstete es nicht, auch mit dem zweiten, großen Grauwolfe anzubinden. Er trabte fort, der fernen Hügelreihe im Osten zu. Dort mag er wohl eine Betze gefunden haben – wer kann das sagen …

Würgezahn aber nahm Besitz von beiden Wölfinnen und führte sie an den Burjan am Flusse. Dort hielt er Hochzeit – mehrere Tage lang.

Als aber die Zeit vorüber war, trennten sich die Wölfinnen bald von Würgezahn. Die eine lief nach Osten, die andere nach Norden.

Würgezahn aber fand sich wieder mit seinem Bruder Zangenbiß zusammen und streifte mit ihm durch die westliche Steppe.

So kam er in ein ganz neues, fremdes Land.


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