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In der Steppe

Die Wölfe hatten einen Wohnungswechsel vorgenommen: in den Felsen war's nimmer recht geheuer, da gar zu viel Volks hier herumschlich und im Gestein buddelte und hackte, daß es schallte. Sie waren nach der Steppe übergesiedelt – und zwar sechs Wolfsstunden weiter östlich, nach einem tiefgeschnittenen, ausgetrockneten Wasserlauf, der mit dichtem Burjan bewachsen war: mit Kameldisteln, Schafdisteln, Wermut, Schilf und Salzkraut, Steppenfarn und Fenchel.

Das hatte aber noch andere Gründe. Zunächst lagen neuerdings ein paar Kalmückenniederlassungen in der Nähe, weiter ab auch ein Kirgisenaul. Dort gab es Vieh, viel Vieh. Dann aber war der Burjan gute zwei Meilen lang und eine Viertelmeile breit; es gab also Deckung genug, und es hätten sich hier viele Wölfe verstecken können. Ferner aber gab es hier Hasen, Steppenhühner, Rebhühner, Wühlmäuse, Blindwühler, Pferdespringer und sogar hin und wieder einen Bobak. Und Füchse gab es auch – und die frißt der Wolf fast ebenso gern wie Hunde; sie sind ihm ein Leckerbissen.

Im Burjan ist es schön und sicher. Und im Burjan ist gute Jagd.

Mittsommer war vorüber, und die Jungwölfe waren schon groß und konnten auch schon tüchtig jagen. Wölfe sind Gesellschaftsjäger, und nur der alte Wolf, ein einsamer Griesgram, jagt allein. Wölfe organisieren sich; sie haben's dem Menschen abgesehen, wie man in Gesellschaft lebt; denn der Wolf lebt vom Menschen seit altersher. Hund und Wolf leben um den Menschen, leben vom Menschen – als Freund der eine, als Feind der andere. Wo kein Mensch, da ist kein Hund – da ist aber auch kein Wolf. Darum hat es keine Wölfe in den großen, zusammenhängenden Wäldern im Norden, wo der Bär lebt und der wehrhafte Elch, in der Taiga. Dafür aber gibt es den großen Nordwolf in der Tundra, der Moossteppe im Norden, wo die Samojeden und Ostjaken ihre Renntiere weiden, den Waldwolf, der die Vorwälder am Rande der Waldzone bewohnt und die Herden der Bauern zehntet, und den Wolf der Steppe im Süden, der die Tschums und Auls der Kirgisen und Kalmücken umschleicht und von ihrem Vieh lebt.

Heute hat es Schleichsohle und ihre Brut nicht auf Vieh abgesehen; die Hunde der Kirgisen waren gar zu wachsam. Heute gilt es der Jagd auf den grauen Steppenhasen.

Wölfe sind Gesellschaftsjäger – Wölfe halten Treibjagden ab. So hetzen die wilden Grauhunde im Ural das große sibirische Reh im hohen Grase der Bergwälder, so hetzen sie den Hasen in der Steppe.

Im Halbkreise auseinandergezogen, trottet die Rotte durch den Burjan. Weit voraus aber liegen die anderen auf der Lauer: die eigentlichen Jäger.

Die Treiber heulen von Zeit zu Zeit ihren Schauergesang in die Nachtluft.

Vor diesem Heulen aber flieht alles in der Steppe – alles Getier fürchtet es, dies Huuuu – uuuuüüü …

Auseinandergezogen die Kette der fünf Jungen – vorn, weit voraus, die Alte mit zwei der Flinkesten auf der Lauer.

Würgezahn, Zangenbiß, Reißewilde und Heulkehle sind die Treiber. Die drei Großen, Grauen, sind der Mutter nicht flink genug zum Hasenfang; Heulkehle aber ist das Nesthäkchen. Mit der Mutter sind die Behendesten: Schnappefang und Blutzunge – Nachtschleiche hat die Flanke zu bewachen.

So streifen die Wölfe durch den hohen, rötlichgrauen Burjan. Unterwegs fangen sie ein paar Mäuse; Würgezahn erwischt gar ein Ziesel. Ein Hase flitzt durch das Gras – dicht vorüber an Heulkehle, über den Hügel – fort. Die Wölfe schauen ihm verlangend, traurig nach: es ist ein großer Rammler – kein Wolf holt den ein …

Da schlängelt sich ein rötliches Ding durch den Burjan – eine scharfe Witterung kommt den Wölfen in die Nase.

Fuchs! Sofort haben sie's erfaßt … Nachsetzen? Nein – die Mutter hat's verboten. Der Fuchs soll nach vorn, dahin, wo die Jäger lauern …

Der Fuchs rennt nach vorn. Und als er an Blutzunge vorbei will, wird er von der Seite gepackt – im Augenblick überwältigt, so sehr er um sich beißt und sich dreht und wendet. Seine Knochen knacken unter Blutzunges furchtbarem Biß. Nicht besser geht's dem Hasen, der von Schleichsohle gefaßt wird. Es ist ein alter Satzhase – sein quäkendes Klagen schallt jämmerlich über die Steppe: A – äää, ääää … Dann ist's still – nur der Nachtwind flüstert im Grase und im Ried.

Nun ist die Gesellschaft beisammen, und die Beute wird redlich geteilt. Alles wird zerrissen, zerkaut, verschlungen – kaum, daß Haare übrigbleiben. Nur die Hinterläufe werden verschmäht – sowohl vom Hasen wie vom Fuchs. Das ist alte Wolfssitte. Auch die Fuchslunte bleibt liegen.

Weiter läuft die kleine Wolfsrotte – noch lange nicht gesättigt.

Hochsommerszeit ging – Herbstzeit kam. Die Winde wehten hart und rauh über die Steppe, und die Rotfarne bogen sich, das Schilf der Niederungen war gelb und raschelte und knisterte im wilden Hauch des Oststurmes, und der bittere Wermut raschelte.

Wenn aber der Kugelburjan alt, reif und welk war, brach er an der Wurzel ab und flog rollend und in Sätzen über die weite Steppe – gar unheimlich anzusehen in der Dämmerung. Dann erschrak wohl der heimreitende Kosak und faßte nach seinem Gewehr – denn einem Rudel Wölfe gleich sieht solch rollender Haufe Kugeldisteln aus. Und er bekreuzte sich wohl gar und murmelte ein schnelles Gebet zur Mutter Gottes, um – nachdem er seinen Irrtum erkannt, zu lächeln und sein Pferdchen mit der Nagaika anzutreiben: » Eh – schewelíss, brodjága!«

Der Kirgise aber, dem ein Haufe wehender Burjans begegnete, trieb wohl sein Reitkamel an und faßte die Zügel fester. Fressen einen die Wölfe – nun – was kann man da tun? Allah il Allah – Gott ist groß, und es geschieht alles nach seinem Willen: » Inschallah …«

Naran-Kusch aber und Darsha, die Kalmücken, sind gar alte, erfahrene Jäger. Sie haben sich mit Kuberla, dem Ältesten des Nachbarauls, zusammengetan, um in der Steppe auf Hasen und Füchse zu jagen. Ihre Gehilfen aber sind Windhunde, Kalmückenhunde, rauhborstige Tiere mit buschiger Rute – schlank, wie die Windhunde der Briten, doch nicht glatthaarig, auch nicht langhaarig, wie die großen Barsie der Kosaken. Sie sind schnell, furchtbar schnell, und wehe dem Fuchs, wehe dem Hasen, den sie hetzen.

Kuberla reitet in der Mitte, Darsha rechts, Naran-Kusch links von ihm. Die Hunde traben vor den Reitern über die Fläche.

Schon hängen drei Hasen, schon baumelt ein Fuchs am Sattelknauf.

Durch ein weites Feld von Schafdisteln geht der Ritt.

Huh! Da fährt etwas Graues hervor – noch eine graue Gestalt, noch eine!

Hetz! Die Hunde rasen vorwärts …

Zu spät sieht der erfahrene Naran-Kusch die Gefahr – Wölfe; eine ganze Rotte, die durch die Steppe fegt – acht Wölfe, eine riesige Alte und sieben Junge!

Nur mühsam kommen die Pferdchen durch den dichten, hohen Burjan – nie können sie solcher Windhetze folgen …

Die Hetze führt durch die Steppe, wie eine Windsbraut, wie ein rasender Sturm. Schnell sind die Wölfe, noch schneller die Hunde. Schreiend jagen die drei Kalmücken hinterher, in Angst um ihre Hunde.

Doch – sie haben Glück. Noch ehe die wagehalsigen Hunde den letzten der Wölfe erreichen, hat der dichte Schilfgürtel des Steppensees die Grauhunde aufgenommen. Hier im Schilf ist der Windhund unfähig, zu jagen – sein scharfes Auge verläßt ihn, und seine Nase ist stumpf.

Winselnd laufen die Hunde am Schilfrande entlang, als die Kalmücken auf atemlosen Pferden ankommen.

Die Leute leinen ihre Hunde an und reiten heimwärts. Im Schritt; Pferde und Menschen sind müde, ausgepumpt von der wahnsinnigen Hetze.

»Das Schilf da rettete die Wölfe«, meinte Darsha.

»Nein – unsere Hunde«, antwortete Naran-Kusch. »Hätten die Hunde diese Bestien erreicht – kein Knochen wäre heil geblieben.«

»Zur Wolfshetze braucht man Barsie, wie die Kosaken sie haben«, sagte Kuberla. »Große, starke Hunde.«

»Wir reiten morgen zu den Kosaken und bitten sie, mit ihren Hunden zu kommen«, schlug Darsha vor.

»Morgen? Morgen sind diese Wölfe zehn, fünfzehn Meilen von hier, irgendwo in der Steppe, oder gar im Bergland«, entschied Naran-Kusch.

Die Pferde trabten an – von weitem witterten sie wohl die Auls.

Wirklich trabten die Wölfe, als es dunkel geworden war, ohne Aufenthalt davon und nach den Bergen zu. Es war ihnen unheimlich geworden in der Steppe, seitdem sie den Kalmücken mit den Hunden begegnet waren. Vor den Hunden hätten sie sich gewiß nicht gefürchtet – es wäre den dünnen Kötern schlecht ergangen, wenn sie sich in das Schilf hineingewagt hätten –, aber vor Menschen haben die Wölfe große Furcht.

Sie rissen denn auch in der Nacht, ehe sie die Berge erreichten, einen Hund im Tatarendorfe am Fluß, und am Morgen fraßen sie einen Hasen am Fuße der Berge.

Dann aber trabten sie weiter, bis sie ein Dickicht von Weiden und anderen Büschen erreichten. Dort blieben sie den Tag über.

Trotzdem die Jahreszeit schon vorgeschritten war, blieben die Tage sonnig, warm und heiter. Hin und wieder blies zwar ein scharfer Wind aus Osten und trieb schwarzgrauen Staub in großen Wolken über die Steppe, alles einhüllend, erstickend, bestaubend. Dann ächzte die Durststeppe unter dem dürren Hauch, dann raschelten die Salzfarne, knisterten die Kugeldisteln, brachen und sprangen und rollten über das gelbe, ausgedörrte Grasland, über die Salzstellen mit ihrem hellgrauen Reif und blieben endlich an irgendeinem Busch von knorrigem Süßholz hängen. Dann rotteten sich die Trappen zu großen Scharen zusammen, die Enten und Gänse schnatterten und riefen in den Tälern, und die Singvögel des Nordens zogen in unabsehbaren Scharen herbei, um hier Rast vor der großen Weiterreise nach warmen Ländern zu machen. Da flatterten Scharen von Zeisigen, von Bergfinken und Ammern, da schwirrten einzelne zänkische Edelfinken in den Süßholzsträuchern, und in der Steppe burrten die Stare zu Tausenden und aber Tausenden.

Schon sind die Kiebitze zusammengerottet, schon brausen Riesenschwärme von Piepern über die Steppe; im Flußtal, wo gutes Süßwasser ist, laufen Avosettschnäbler, Strandreiter, Wasserläufer und Regenpfeifer umher. Das sind schon Gäste aus nördlichen Landstrichen – und man weiß, daß nun bald das kalte Wetter kommen wird.

Das weiß auch Gelbbauch, die dicke Natter, die am alten Steinbruch liegt und sich die Herbstsonne auf den Leib scheinen läßt. Sie ist zusammengeringelt, und nur ihr eckiger Kopf verrät etwas Leben, wenn irgendwo eine Maus pfeift oder ein Vogel piept. Dann züngelt die Natter lüstern, und der Kopf hebt sich ein wenig, fällt dann aber langsam zurück und liegt wieder still. Plötzlich aber richtet sich der Vorderteil des langen, starken Schlangenkörpers auf – das Tier nimmt zornige Abwehrstellung ein, eine große Giftschlange vortäuschend. Ein Geräusch erschreckte die große Natter – ein leises Tappen ließ sie auffahren.

Doch sie ringelt sich beruhigt wieder zusammen: die grauen Tiere, die dort den Abhang herunterkommen, tun ihr nichts; es sind Wölfe. Alle acht Wölfe traben vorüber, ohne der Schlange Aufmerksamkeit zu schenken. Dennoch hebt die Natter von Zeit zu Zeit den Kopf und überzeugt sich, daß ihr von seiten der Wölfe keine Gefahr droht. Man kann nie wissen …

Nein – die Wölfe sind schon weiter und klettern am anderen Hang des verlassenen Steinbruches hoch. Man kann ganz getrost weiterdösen.

Die Sonne ist so schön warm heute …

Plötzlich hört die Natter ein Sausen über sich, und ein Schatten verdunkelt die Sonne.

Eilig will sie ausweichen, fliehen. Doch sie merkt: es ist zu spät. Schnell nimmt sie zwar noch die Abwehrstellung ein – da packen sie aber schon starke, spitze Krallen: die Fänge des Raubbussards, der hier in der Steppe nach Zieseln, Hamstern, Mäusen und Schlangen jagt.

Die Natter stößt zwar wütend mit dem kantigen Kopf gegen den Bauch des Vogels, sie ringelt sich und schlägt mit dem dicken, langen Leib rasend um sich – umsonst! Der scharfe Schnabel packt zu – ins Genick. Er löst im Nu die Muskelbänder des Nackens, er kneift die Wirbelsäule dicht am Kopf ab – wie eine Zange. Matter werden die Bewegungen der großen Schlange. Der starke, große, graugelbe Raubbussard aber nimmt sich nicht viel Zeit; eilig beginnt er sein Mahl.

Unterdessen haben sich die Wölfe der Niederung genähert und sind nun, in lange Linie auseinandergezogen, ins Schilf und in den Burjan hineingeschlichen.

Die Sonne sinkt hinter den Hügeln im Westen. Die ganze Steppe flimmert und scheint zu dampfen; die Höhen zeigen ein violettes Licht und tiefe, blaue Schatten.

Langsamen Schwingenschlages strebt der Adlerbussard über das gelbe Grasland zum Flußufer hin, seinem Schlafplatz. Dort hocken schon, dunkle Punkte am graubraunen Hügel, Steppenadler und Bussarde, Milane und Zwergadler. Nur die Steppenweihen sind noch munter in gaukelnder Fahrt und ganze Trupps von Turmfalken und Abendfalken. Ein wenig abseits von Bussarden und Adlern hat sich der Raubbussard über den Hügel geschwungen. Lang baumelt der Rest der großen Schlange von seinen Fängen herab: das Nachtmahl.

Nun sitzt er, ein zusammengeduckter, gelblicher Fleck, auf dem Hügel, döst vor sich hin und verdaut.

Unterdessen haben die Wölfe die halbe Schilfniederung hinter sich. Ihre feinen Nasen wittern, ihre Gehöre sind steil aufgerichtet, zucken. Angespannt ist jede Muskel, die Ruten stehen steif. Langsam, fast unmerklich, haben die Wölfe einen fast geschlossenen Kreis gebildet – herum um ein Ried, das inmitten einer ausgetrockneten Süßwasserlagune steht.

Hier im Ried ist gute Witterung; Witterung von Rind …

Es war die kleine, rotweiße Kuh des Tataren Mohammed Kurmakajew, die hier zum ersten Male schwer gekalbt hatte. Man hatte sie hier vergessen.

Das Kälbchen hatte soeben das sinkende Licht des Tages erblickt und lag nun zitternd, mit blöden, glotzigen Augen neben der schwachen, müden Mutter. Die kleine Kuh war müde zum Sterben, matt und schwach von der Geburt.

Und deshalb erhob sie sich nicht, als es ringsum im Rohr knisterte. Deshalb sicherte und windete sie nicht, als die Wölfe nahten. Die Sorge um das Kälbchen ließ sie alles ringsum vergessen, selbst die Vorsicht, die ein jedes Steppentier sonst nie vergißt.

Als die Wolfstucht hervorbrach, konnte sie sich kaum aufrichten. Sie brüllte nur einmal ängstlich und streckte ihren Kopf – wie zum Schutz – über das Kälbchen.

Leise mordet der Wolf zur Nachtzeit …

Als das Licht gestiegen und auch die Adler und Bussarde den Schlafhügel verlassen hatten, krächzten Krähen über Rohr und Ried.


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