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Ich hätte die Rakete nie bemerkt, wenn ich nicht gerade mit dem Fernglas eine Herde Antilopen beobachtet hätte, die hier auf dem Plateau heimisch waren. Ihr Standort war eine Vertiefung, in der die mit besenartigen Reisern versehenen Bytadeniensträucher ein krauses Wäldchen bildeten. Nie hatte ich hier oben Raubzeug gesehen. Die Antilopen scheinen hier ihr Schonrevier zu haben, leider auch die Giftschlangen und die schwarzen Skorpione, deren Vorhandensein in Nubien so oft bestritten wird.

Die Rakete stieg kerzengerade über dem Horizont hoch, zerplatzte in viele schwebende, sinkende Sterne, und – alles war wie vordem.

Die helle Nacht täuschte einen Frieden vor, der durch einen einzigen Feuerwerkskörper kaum gestört werden konnte – wollte ich mir einreden. – Hatte Doktor Forrester Raketen bei sich?! Ich wußte es nicht. Es war kaum anzunehmen.

Neben mir lag der Fennek, Mukki getauft, Lizzies Wunsch. Das Tier an seinem Lederriemen hatte sich wie ein Hund zusammengerollt, die Schnauze auf den vier engvereinten Beinen, die Augen halb geschlossen, die Ohren nach vorn gestellt, die Standarte wie ein wolliger Strich seitwärts weggestreckt.

Die Unruhe in mir schien sich dem Tiere mitzuteilen. Zuweilen öffneten sich die übergroßen Lichter ganz weit, zuweilen zog sich die Nase kraus und Freund Fennek schnüffelte hörbar.

Die Rakete …!

Und Lizzie mußte schlafen. Sie war so blutjung, so rank und schlank, sie hatte in London bei einer braven Bürgerfamilie als Fremdling gelebt, und die Tante Jane hatte alles bezahlt und das Kind trotzdem gemieden. Von ihren Eltern wußte Lizzie nichts … Droben an der Grenze Schottlands sollten sie einen Pachthof gehabt haben …

Armes junges Ding, im Grunde ohne Heimat wie ich, im Herzen den Drang in die Ferne und die Sehnsucht nach der einzigen Frau, die ihr blutsverwandt.

… Die Rakete …!

Und der Fennek Mukki hebt das Köpfchen, wittert, setzt sich aufrecht …

Man ist eingestellt auf solche Zeichen, die Hände gleiten von selbst zum Büchsenkolben, die Linke schiebt sich am Lauf vor, die Rechte drückt das Schloß zurück – ein metallisches Knacken, und die erste Patrone des Rahmens gleitet in die Kammer.

Der Fennek hat feinere Sinne. Zwischen den Zacken der Schieferbuckel erscheint eine Gestalt, nackt bis auf den Lendenschurz aus Gras – ein uralter Farbiger, der Bart lang und weiß wie das wallende Haupthaar …

Eine Gestalt voll unbewußter Würde, vorsichtig schreitend, in der Linken eine Lanze als Stecken.

Ich ahne, daß mir hier das Geheimnis naht, dem Sussik aus Ehrfurcht stets auswich. Vielleicht ist es ein Heiliger, ein Marabut, ein ganz in Gott Versunkener.

Er kommt, und unter den dicken weißen Strichen der Augenbrauen blicken helle klare junge Augen, deren gütevolles Strahlen nur einem Heiligen gehören kann.

Diese Augen sind nicht die eines Afrikaners, das Ebenmaß der hageren Gestalt, der ganze Gesichtsschnitt erinnern an einen Briten.

»Major Mac Oldyn von der Sudanarmee«, sagt die Erscheinung im fließenden Englisch und neigt den Kopf zum Gruß. Der Nachtwind weht ihm die weißen Strähnen ins Gesicht, er streicht sie zurück und fügt hinzu: »Mac Oldyn, der vor der Schlacht bei Omdurman gegen die Mahdisten die große Patrouille führte und in einen Hinterhalt geriet, weil der Trunk seine Sinne umnebelt hatte. Ich habe gebüßt, die Welt hat nie mehr von mir gehört, ich mußte fliehen, und die Feigheit und die Scham jagten mich hierher. Viele Jahrzehnte gingen hin, nur Lady Cordy weiß, daß ich lebe. Sie ist meine Enkelin.«

Das besagte alles.

Lady Cordy, Missionarin, doch nicht Missionarin, weit mehr Königin der Bischarin, hatte dieses Plateau vor jeglicher Neugier geschützt. Ein Verfemter hauste hier, ein Büßer. Ich kannte die Geschichte der Mahdistenkämpfe zu wenig, um mir darüber ein Urteil bilden zu können, inwieweit Major Mac Oldyn mit schuld war an der verlustreichen Schlacht gegen die fanatischen Horden.

Ein Menschenschicksal stand hier vor mir, und es rührte an mein Herz mit stillem Mahnen.

Der Greis übersah die ihm herzlichst entgegengestreckte Hand.

»Sie sind nicht allein«, sagte er mit einem Blick auf das Zelt. »Ich möchte das Mädchen sprechen, sie ist von meinem Blut, Mr. Abelsen.«

Ich war über nichts überrascht. Jane Cordy stand sicherlich dauernd mit ihm in geheimer Verbindung. Er kannte meinen Namen, vielleicht auch den Lizzies.

Bisher war ich nicht zu Wort gekommen – auch jetzt redete er weiter, und seine Stimme war mild und klar wie der laue reine Morgenwind der Wüste, der die Lerchen als Verkünder der nahenden Sonne emporsteigen läßt.

»… Ich sah ihr Gesicht, Mr. Abelsen, und es war das der Seitenlinie unseres vielverzweigten Geschlechts. Alle die Frauen mit dem aschblonden reichen Haar haben diese kurze eigenwillige Oberlippe und diese schmale kecke Nase und doch den sanften fraulichen Liebreiz … Ich will sie sprechen. Meine Enkelin ist Jane Cordy, aber Lizzie steht mir noch näher.«

In den Felsplatten schrien und klagten gedämpft die nirgends fehlenden Käuzchen: Klagegesänge von trauriger Art, die mich so oft beunruhigt hatten.

Er hob seinen Speer und deutete auf eine ferne einzelne Sykomore, die hier als kleines Wunder Wurzel geschlagen hatte. »Dorthin soll sie kommen, Mr. Abelsen … nach einer Stunde. – Sahen Sie die Rakete?«

Ich wunderte mich wirklich über nichts.

»… Sie kämen ohnedies zu spät«, erklärte er mit einem Gedankensprung, der zu Doktor Forrester überleitete. »Ich erfahre sehr viel … Ich erfahre alles. Reiten Sie nachher nach Ihrer Oase zurück, Sie sparen dadurch Zeit … Sie wissen, wenn es sich um schnödes Gold handelt, werden Menschen, die sonst trägen Sinnes dahinvegetieren, zu schlauen Schurken. – Leben Sie wohl … Wir werden uns niemals wiedersehen. Vergessen Sie mich, streichen Sie mich aus Ihrem Gedächtnis, ich bin nur ein lebender Leichnam, meine Beziehungen zur Welt sind dünne, zahlreiche Fäden.«

Er wandte sich langsam um und schritt davon – die Felsen verschluckten seine von der Sonnenglut dunkel gefärbte Gestalt.

Später sagte mir Sussik in einer Stunde, in der ihm die Zunge überfloß, daß das Schieferplateau bei den Bischarin »Der Berg des alten Mannes« hieß.

Ich saß wieder wie vorhin auf dem harten Stein, neben mir das Wollbündel von Fennek, und die Benommenheit des Geistes, die dieses Zusammentreffen erzeugt hatte, wich von mir und ließ mich die nackten Tatsachen kritisch überprüfen. Unzweifelhaft stand das eine fest, daß Sir Reginald und sein Reisemarschall Mehmed nun doch von den Safari-Leuten überwältigt worden waren. Die Rakete konnte hiermit nur insofern etwas zu tun haben, als sie ein Signal für den Greis gewesen war. – Weiter: Wir sollten die Oase aufsuchen. Mithin war diese wie einst bedroht, aber die Verteidiger, in diesem Falle Lady Jane, würden rechtzeitig zur Stelle sein.

Und dann: Lizzies Person! – Nach einer Stunde wünschte der Mann, der hier irgendwie alle Geschehnisse in weitem Umkreis gleichsam überwachte, sie zu sprechen. Es bestanden zwischen Lizzie und ihm und Lady Jane verwandtschaftliche Beziehungen, es mußten noch andere als diese Verbindungen mit unbekannten Zwecken und Zielen vorhanden sein, die man jedoch sogar mir nicht anvertrauen mochte, und ich schmeichelte mir, Lady Janes Vertrauter zu sein! Wie ernst und folgenschwer mußten mithin diese Dinge ausschauen, wenn man mich dabei ausschaltete!

Ein flüchtiger Gedanke – ich verwarf ihn sofort wieder – rief mir die Erinnerung an jenen Goldbarren ins Gedächtnis zurück, den Jane Cordy einem lieben pikanten Mädel in die ferne Heimat mitgegeben hatte. Ich hatte die kleine zierliche Gussy Gollan nicht vergessen … Aber der sagenhafte Schatz der Pharaonen – nein, ich konnte nicht recht daran glauben, es war zu viel gedruckte, immer wieder literarisch ausgeschlachtete Romantik dabei.

Der neue Gedanke war besser. Ich nahm das Glas und suchte die sternenhelle Wüste mit ihren Wellen und Tälern ab. Wenn der Greis hier, wie er selbst zugegeben, so gut und schnell von fernsten Ereignissen unterrichtet wurde, konnte das nur durch Dromedarreiter und Signale geschehen. Die Bischarin hätten vielleicht aus sich selbst heraus eine solche Art schleunigster Nachrichtenübermittlung nicht ausgeklügelt. Lady Jane sicherlich.

Im runden Gesichtsfeld des Glases, das ich langsam im Bogen bewegte, gewahrte ich plötzlich einen einzelnen Reiter, der gerade eine Kuppe emportrabte. Er hielt an. Seine Umrisse hoben sich gegen den Himmel scharf ab. Es war ein Bischarin, schon die Bubikopffrisur mit dem abgebundenen Turban und der Mantel verrieten es. Der Mann hielt, reckte den Arm hoch, und aus seiner Hand sprühte ein feiner Funkenregen. Dann tauchte er hinter der Kuppe unter.

Was ich sonst bemerkte, war ohne Bedeutung: Wild, einige verwilderte Esel, eine Schar von Raben, die sicherlich ein Aas umschwärmten.

Es wurde Zeit, Lizzie zu wecken. Als ich den Zeltvorhang hob, war das Lager des Mädchens leer. Die kleine Karbidlampe brannte, an einem Halm hing ein Zettel:

»Lieber Onkel Olaf, Sie sind mir nicht böse, ich war wach, ich hörte die Worte dessen, der mir die Wahrheit sagen wird, ich bin bei ihm. Rüsten Sie nur alles zum Aufbruch. Ich freue mich auf ›Ihre‹ Oase. – Lizzie.«

Onkel Olaf!!

Hätte ich einen Spiegel gerade zur Hand gehabt, würde Onkel Olaf sich sein Onkelgesicht gründlich beschaut haben …

Arbeit lenkt ab. – Ich brachte das Zelt auf den breiten Rücken des Elefanten, ich füllte die Wasserschläuche, ich habe vielleicht noch nie so flink gearbeitet. Die Sorge um die Oase stand hinter mir, beflügelte meine Bewegungen und stählte meine Muskeln. Als alles vorbereitet, streckte ich mich auf meine Decke, schlief ein und wußte genau, daß auch nur eine halbe Stunde Schlaf mir für den langen Ritt genügen würde.

Als Mukkis heiseres Bellen, das stets aus einem überstürzten Kak–Kak–Kak–Kak besteht, mich weckte, fand ich vor mir eine sehr stille, melancholische Lizzie. Über ihre Unterredung mit dem Greise erwähnte sie nichts, daß diese jedoch für sie wenig befriedigend verlaufen, sah ich ihr an.

Wir führten die Tiere in die Ebene hinab. Der Elefant Mango (er soll jetzt in Kairo als öffentlicher Pensionär leben – armer Mango) vertrug sich mit den Dromedaren sehr schlecht. Wenn er ihnen einen Hieb mit dem Rüssel versetzen konnte, geschah dies nur zu gern.

Es wurde ein sehr stiller, langweiliger Ritt. Am liebsten hätte ich den Dickhäuter laufen lassen, mit den edlen Bischarin wären wir schneller vorwärtsgekommen.

Gegen Morgen stießen wir auf eine breite Fährte, die ein Trupp von etwa vierzehn Dromedaren und etwa zwanzig Fußgängern zurückgelassen hatte. Die Spuren waren nur wenige Stunden alt. Nach Sonnenaufgang, und wir sahen die hohen Sanddünen »unserer Oase« bereits vor uns, stieß von Südost eine andere Fährte auf diese Karawanenspur, die zweifellos von Doktor Forresters Safari herrührte. Der zweite Trupp mußten Bischarin sein – alles Dromedarreiter, mindestens sechzig. Noch eine Stunde, und wir kamen durch das steinige Tal, das sich bis zu den ersten Staubdünen hinzieht. Die beiden vereinten Fährten zeigten hier das Bild, das ich zu finden erwartet hatte: Das Geröll, die Sandstreifen waren kreuz und quer von Spuren durchfurcht, rötliche Flecken schimmerten überall, verdächtige flache Hügel bewiesen, daß dort Tote für immer ruhten. Einige zerbrochene Vorderladerflinten, geknickte Speere, Zeugfetzen und liegengelassene Konservenbüchsen ergänzten nur den bestimmten Eindruck eines Überfalls und Kampfes. Wer die Sieger waren – überflüssige Frage. Die Safari-Leute waren gen Westen weitergezogen, also dem Nil entgegen, die Bischarin nach Nordost – zur Oase.

Lizzie Neworld hatte mit stillem Grauen die Blutflecken betrachtet. Aber sie sagte nichts, sie war ein tapferes Mädel, und ihre gute Laune und ihre Neugier auf die Oase überwogen sehr bald diese ernsten Eindrücke und die Erinnerung an die Aussprache mit dem Greise. Ich hatte ihr sehr viel von der Oase berichtet, von den Sanddünen, die jeden Zugang sperrten, von der Treppe aus Steinplatten und dem uralten Stollen sowie der grünen Baumpracht, dem buschumwucherten Teiche, dem Marabu, der keine Federn mehr hatte, und der Steinmauer mit den Inschriften und der salzhaltigen Quelle im fernsten Oasenwinkel, in der Freund Tübbicke immer gebadet hatte.

Lizzie war im übrigen bei dem vertraulichen »Onkel Olaf« geblieben, einer Rolle, die mir gar nicht gefiel. Lizzie war sehr lieb zu mir – zu lieb, sie hatte eine reizende Art, mich zu necken, zu reizend – zu aufreizend für einen Mann, der noch nicht einmal die Mitte der Dreißig erreicht hatte. Sie war ein kleiner Schelm, sie besaß jene glückliche Veranlagung, die das Schlimme leicht beiseite schiebt – nicht aus Oberflächlichkeit, sondern aus der weisen Erkenntnis heraus, daß Geschehenes nicht zu ändern ist …

Gegen die elfte Stunde hatten wir den Eingang des Stollens in dem engen Dünental vor uns. Die Tür stand offen. Zahllose frische Fährten ließen mich vermuten, daß ich die Bischarin hier noch antreffen würde – und Lady Jane.

Wir führten die Tiere bei Fackellicht durch den gemauerten Stollen. Der Ausgang zur Oase war ebenfalls geöffnet, Sonnenlicht fiel in den Gang, und Lizzie rief entzückt ein kindlich-frohes »Oh – wundervoll …!«

Der greise Marabu stand wie immer auf einem Bein, wendete jetzt nur den Hals und den Riesenschnabel und warf dem vorlauten Mädel einen entschieden mißbilligenden Blick zu.

Ich begrüßte ihn schweigend, denn die Stille unter den Palmen und den Büschen erschien mir verfänglich.

Kein Laut außer den hier gewohnten der Vogelwelt …

Drüben die Zelte – alles unberührt, aber – überall frische Fährten von Dromedaren und Sandalen der Bischarin.

Wir pflockten die Tiere an – ich beeilte mich, ich hatte Fieber im Blut, ich ahnte, daß hier irgend etwas geschehen war, das selbst meine phantastischsten Vermutungen übertraf.

Wir liefen zu den Zelten – wie vertraut war mir hier jeder Schritt, obwohl die Oase als Dünental zwei Meilen maß –, ich schlug den Vorhang meines Zeltes hoch …

Ein schweigendes Quartett saß gefesselt und mit verbundenen Augen um den Brettertisch, nicht um meinen Steintisch:

Doktor Forrester, Mehmed Said, Sussik und Afra.

Als ich ihnen die Binden entfernte, lächelte Sir Forrester ganz vergnügt.

»… Sie sind früher gekommen, als wir dachten, Mr. Abelsen«, sagte er nur. »Lady Cordy läßt grüßen …«

Zum Glück blieb Lizzie nachher im zweiten Zelt, als wir uns nach Houston und Darss umschauten.

An dem Ast einer mächtigen Sykomore am Ostende des Oasenwaldes hing das, was die Aasgeier noch von zwei erbärmlichen Kerlen übriggelassen hatten.

Lady Jane hatte den beiden nicht umsonst seinerzeit gedroht.

* * *

 


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