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Fünfzehntes Kapitel.

Eine Tasse Chokolade.

 

Sobald nur einmal du die Angst,
Die man dir künstlich eingeflößt,
Im Herzen muthig niederzwangst,
Erkennst du dich von ihr erlöst.

 

Vom Pfarrwinkel herauf erscholl Hundegebell. Cäcilie glaubte die Baßstimme Prank's zu erkennen. Sie trat an das nordwärts schauende Fenster und sah gerade noch die buschige Ruthe ihres Leonbergers hinter der Hausecke verschwinden.

In der Mauerpforte nach dem Bischofsgaden stand ihr Vater mit dunkelrothem Gesicht, die Hände auf der Brust und nach Athem keuchend, wie unschlüssig erst einen Fuß von der Schwelle auf die weit höher liegende Pritsche gesetzt, als ob er ihre Haltbarkeit prüfe. Den Hals tief links gebeugt, sah er empor nach der neben ihm aufragenden Sebalduskirche. Dann kam er, kopfschüttelnd und sich mit beiden Händen unter dem Hut in die Haare greifend, auf der Doppelplanke langsam näher geschritten.

Zu Sebald und seiner Mutter zurück hastend, rief sie ängstlich:

»Mein Vater! Wie ein Wild hat er mich aufgespürt. Schützen Sie mich. Hier von ihm getroffen, muß ich auf die ärgste Mißhandlung gefaßt sein.«

Während Ulrich hinunter eilte, um dem heftig Klopfenden selbst zu öffnen, beschwichtete Frau Sebald die Erschrockene:

»Ruhig, Kind! Setzen Sie sich in den alten Lehnstuhl. In meiner Gegenwart sind Sie sicher vor jeder Unbill. Mild, aber fest, kindlich, aber tapfer! Das sei jetzt Ihre Loosung. Diese Stunde entscheidet über Ihr und Ihres Vaters Lebensglück. Ersiegen Sie's! Nach meiner Schätzung werden Sie dazu eine Ihnen selbst unverhoffte Kraft und Sicherheit in sich vorfinden.«

»Ja,« entgegnete Cäcilie, »ich traue mir das Schwerste zu, seit ich glauben darf, daß Sie mich ähnlich lieb haben wollen wie meine selige Mutter.«

Als Ulrich öffnete, drängte sich Prank ungestüm an ihm vorüber. Mit wenigen Sätzen war er oben und erwirkte sich mit Gebell und Kratzen Einlaß.

Vor dem hochgewachsenen, ernst, aber höflich auf ihn herabschauenden jungen Geistlichen, der mit der Linken eine zum Betreten der Treppe einladende Bewegung machte, stand Mendez verlegen und einen Augenblick sprachlos. Dann sagte er, immer noch etwas kurzathmig:

»Entschuldigen Sie dies Eindringen eines Unbekannten. Ich heiße Mendez.«

»Ich bin der Pfarrer Sebald.«

»Der Hund hat mich hergeführt. Meine Tochter muß hier sein.«

»Oben. Bitte voranzugehen, Herr Mendez.«

»Ist sie …«

Er stockte und lehnte sich wider das erreichte Treppengeländer, als fürchte er, von der Antwort auf die unvollendete Frage umgeworfen zu werden.

»Ist sie leidend?«

»Nein, vollkommen gesund.«

Aus der Erinnerung an Cäciliens Erzählung hatte Ulrich sogleich erschlossen, welche Vaterangst die Frage eingegeben. Mendez mußte jenen Abschiedsbrief gefunden haben.

»Der Herr sei gepriesen!« murmelte Mendez auf hebräisch, ohne zu ahnen, daß die Sprache des Alten Testaments auch Ulrich vollkommen geläufig sei. Kaum aber fühlte er sich der ärgsten, trotz aller Gegenzeichen immer wieder aufgestiegenen Befürchtung überhoben, so regte sich auch wieder, was ihm Aaronson an Unduldsamkeit eingeimpft. In schroffem Ton frug er:

»Was hat sie hier zu suchen?«

»Darüber lassen Sie uns oben in Ruhe verhandeln,« erwiederte Ulrich, nahm den Arm des etwas widerstrebenden Gastes und führte ihn hinauf.

Eintretend, sah Mendez zunächst nur seine Tochter. Dem vor ihr kauernden Prank den Kopf streichelnd, saß sie im altväterischen Lehnsessel, ganz wohl aussehend, die Wangen sogar etwas röther als gewöhnlich von der Willensanstrengung, gefaßt zu erscheinen. Ohne aufzustehen, sagte sie:

»Guten Morgen, lieber Vater!«

»Hast mir einen sehr bösen Morgen bereitet!« versetzte Mendez bitter und aus der ihm natürlichen, ohnehin hohen Stimmlage in die Fistel überklappend. »Es fehlte nicht viel, so warf die Tochter den Vater in die Grube mit einem Herzschlag. Pfungstätter hat mir berichtet, was Du zu kaufen versucht und dann gestohlen hast. Da hab' ich denn in schrecklicher Angst Dein Zimmer durchsucht und Deine Schreibmappe aufgebrochen. Wozu die verruchte Komödie mit dem Gift und der heuchlerischen Abschiedsepistel?«

»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Mendez?« sagte jetzt Frau Sebald, ihm einen Stuhl hinrückend. »Wenn Sie sich sitzend erholen von Ihrem Schreck und Ihren Anstrengungen, werden Sie vielleicht einen ruhigeren Ton treffen und minder harte Worte finden zum versöhnenden Ausgleich einer Störung zwischen dem Herzen des Vaters und dem Herzen seiner wunderbar geretteten Tochter.«

Jetzt erst, indem er sich halb links wendete, gewahrte Mendez die Matrone, zog den bisher aufbehaltenen Hut ab und machte ihr erröthend eine linkische Verbeugung.

Ihre hohe Gestalt, ihre Greisinschönheit, unterstützt von der sorgfältig gewählten und doch mit den bescheidenen Farben und dem schlichten Schnitt so durchaus zu ihren Jahren harmonirenden Kleidung, ihre großen, leuchtenden Augen, die mit festem Ernst und doch zugleich freundlich auf ihm ruhten, zumal aber die krönende Offenbarung glücklichen Gemüths und heiteren Seelenfriedens, der Wohllaut ihrer eben so sonoren als weichen Stimme, bändigten den Aufruhr seiner Empfindungen mit sanfter, aber unwiderstehlicher Gewalt, wie aufgegossenes Oel die Meereswogen glättet. Sein erstes Gefühl war Scham. Diese Sprachmusik, die selbst einen Vorwurf so gewinnend mild in sein Ohr flößte, brachte es ihm zum Bewußtsein, daß er soeben mehr heiser gekreischt als geredet hatte. Diese würdevolle, so bezaubernd noch niemals erblickte Anmuth einer alten Frau zwang ihn zu denken, wie häßlich er wohl ausgesehen, indem er athemlos, schweißtriefend, zornig und mit dem Hut auf dem Kopf hereingepoltert, ohne der Dame des Hauses auch nur einen Blick zu widmen.

Gehorsam nahm er den dargebotenen Stuhl ein mit dem Vorsatz, dieser Frau fortan besser zu gefallen. Auch fand er sogleich, zur freudigen Verwunderung Cäciliens, die Haltung des Weltmanns von feiner gesellschaftlicher Bildung wieder, der er gewesen war, bevor man ihn systematisch zum abergläubischen Zeloten verzogen und bis zur Lähmung aller natürlichen Bewegungen in ein Gängelnetz obsoleter Lebensvorschriften eingesponnen hatte.

»Gnädige Frau,« begann er in ganz anderem Ton mit einer keineswegs unangenehmen Tenorstimme, »verzeihen Sie, daß die Angst des Vaters mich blind machte für Ihre Gegenwart. Ich hätte sonst nicht versäumt, was ich der Hochachtung schuldig bin, die der erste Blick auf Sie mir gebietet. Jetzt aber gestatten Sie wohl dem Bangen, das mich noch immer beherrscht, die ungeduldige Frage, wie ich Ihre letzten Worte zu verstehen habe. Was meinten Sie mit der wunderbaren Rettung meiner Tochter?«

»Erlaube mir zu antworten,« rief Cäcilie. »Im Vertrauen auf die Sicherheit meiner Mappe hab' ich den Abschiedsbrief nicht verbrannt, als ich andern Sinnes geworden war. Mit ihm gedacht' ich Dir später einmal zu zeigen, wie dicht und sturzbereit ich schon am Abgrunde gestanden. Das war ein Fehler und ich bitte demüthig um Vergebung für den Schreck, den ich Dir damit absichtslos verursacht. Aber Komödie gespielt hab' ich nicht. Ja, ich trug das entwendete Gift in der Tasche. Wenn ich es nach Hause gebracht, so hättest Du noch an jenem Sonntag, auf den Montags meine feierliche Verlobung mit Rosenberger folgen sollte, meinen Brief auf Deinem Studirtisch, mich entseelt in meinem Bette gefunden. Da Du mein Zimmer durchsucht hast, wirst Du die Stickerei, wohl auch auf dem Harmonium das Choralbuch gesehen haben und letzteres aufgeschlagen bei der Musik, die ich heute, bevor ich hieher ging, absichtlich mit allen Registern spielte, um sie Dich hören zu lassen während Deiner Betstunde. Verstehe nun die Wahl meines Stickmusters und meine inbrunstvoll dankbare Verehrung des Chorals ›Besieh! du deine Wege‹, wenn ich Dir sage, daß die Orgel der Kirche da, mich ablenkend vom Todesweg nach Hause, gegen Dein Verbot hineinlockte, und daß Du es jenem Liede und einem Gotteswort aus dem Munde dieses Mannes verdankst, nicht auch Deine Tochter wie den ältesten Sohn verloren zu haben durch Selbstmord.«

»Aber dennoch verloren!« seufzte Mendez. »Denn was kannst Du heute hier gewollt haben?«

Bleich von der ungeheuren Spannung und dem Aufgebot ihrer ganzen Willenskraft, aber klar und fest erwiederte Cäcilie:

»Die Taufe.«

Mehrmals die Farbe wechselnd und wie erstickend an der Qual, einen wilden Fluch unverlautet in der Kehle zu behalten, erhob sich Mendez und griff nach seinem Hut. »Das,« dachte er, »das ist die Erfüllung des Unheils, welches die heruntergeschlagene Mesusah prophezeit und meine Mißachtung der andern verschuldet.«

»So hab' ich hier wohl nichts mehr zu suchen!« würgte er nach einer Weile heiser heraus. »Denn der Herr Pastor wird natürlich keinen Augenblick gesäumt haben, sein Waschbecken zu holen, um daraus die vormalige Zile Mendez zu – schmaddern.«

»Armer Herr Mendez,« entgegnete Frau Sebald. »Welche Beschämung steht Ihnen bevor! Wie falsch, wie klein denken Sie von meinem Sohn!«

»In der heiligen Sprache Ihrer Väter« – so nahm jetzt Ulrich weihevoll das Wort – »lassen Sie mich eine Mahnung an Ihr Herz richten. Denken Sie an Tehilim (Psalmen) 39, 2: ›Amarti eschmerah derakai mechamô bileschoni: Ich habe mir vorgesetzt, mich zu hüten, daß ich nicht sündige mit meiner Zunge.‹ Was rathen ferner die Mischelë (Sprüche Salomonis) 15, 1? ›Maaneh râch jaschiv chemah udebar ëzem jaaleh âph: Eine gelinde Antwort stillet den Zorn, aber ein hartes Wort richtet Grimm an.‹ – Weit mehr Sie selbst, Herr Mendez, als Ihre Tochter, verschulden den Sturm, der jetzt Ihr Gemüth so haltlos hin und her wirft. Denn wie heißt es abermals in den Sprüchen 11, 29? ›Okër bêtjô jinchal ruach: Wer sein eigenes Haus betrübt, der wird Sturm zum Erbtheil haben.‹ Sie sind hier nicht in einer Höhle von Räubern, die dem Vater sein Kind vom Herzen reißen wollen. Sie sind bei Glaubensverwandten, die es schon bewiesen haben, daß ihnen das vierte Gebot gerade so heilig ist als Ihnen selbst. Ja, Glaubensverwandten! Denn sogar das schöne Lied, dem Ihre Tochter die Rettung verdankt, ist ja nur ein umgefaßtes Juwel aus dem Schatzkästlein der uns gemeinsamen Religionskleinodien. Sein Anfang steht im 37. Psalm: ›Gôl al Jehovah darecha: Befiehl du deine Wege dem Herrn.‹«

Versöhnlich zu wirken mit dem Urtext dieser treffend gewählten Bibelstellen hatte Ulrich erwartet, aber keineswegs geahnt, wie weit der Eindruck dieser wenigen Worte seine Hoffnung übersteigen sollte.

Die Arme rechts und links ausgestreckt, die Finger gespreizt, unbekümmert um den zu Boden gefallenen Hut, die Augen weit aufgerissen, saß Mendez wieder zurückgelehnt im Stuhl und starrte den jungen Geistlichen an wie eine ganz unglaubliche Erscheinung. So wohllautend hatte ihm das Hebräische noch niemals geklungen wie aus dem Munde dieses Christen. In der edleren, auch ihm vom Jugendunterricht wohl vertrauten, sogenannt portugiesischen Aussprache, deren er sich im Verkehr mit den Rabbinern nur ungern entwöhnt hatte, floß es von den Lippen Ulrich's so sanghaft und kraftvoll und zugleich so geläufig, als wär' es seine Muttersprache. Die ganze heilige Schrift schien dieser Pfarrer im Gedächtniß sicher genug bereit zu haben, um nach Bedarf jede beliebige Stelle herauszugreifen. Umsonst suchte er im Gesicht des Altritterbürtigen nach der geringsten Spur jüdischer Herkunft, die das Wunder eines so perfekten Hebräers etwas minder unerklärlich machen könnte. Wie herztreffend hatte er die angeführten Stellen zu wählen gewußt für ihn, der selten etwas Anderes auf hebräisch zu hören gewohnt war als starre Satzung, Ritualvorschriften, abenteuerlich ausgespitzte Kleidungs- und Speiseregeln, oder Gebetsformeln, denen vieltausendmalige, mechanisch ausdruckslose Herleierung ihre Schneide für Gemüth und Geist so völlig abstumpft, daß man sie vernimmt und aufsagt, wie man sich allmorgentlich das Gesicht wäscht oder die Strümpfe anzieht, ohne das Mindeste dabei zu denken oder zu fühlen. Und dieser an Schriftkunde den gelehrtesten Rabbinern gewachsene, wohl gar überlegene Mann, für den er bisher nur die feindliche Benennung Goj im Sinne gehabt, sammelte feurige Kohlen auf sein Haupt mit seiner unverhohlenen Hochachtung der mosaischen Religion: denn in dieser Epoche des ringsum aufqualmenden antisemitischen Gestänkers begrüßte er den Juden als einen Glaubensverwandten.

Zufrieden lächelnd beobachtete Ulrich diese Wirkung seiner Rede. Daß er sie vorzüglich den hebräischen Citaten verdankte, gab ihm schon jetzt den Gedanken ein, mit derselben Waffe noch entscheidender zu siegen. So nahm er aus dem Büchergestell einen mäßig starken Oktavband, behielt ihn aber einstweilen noch unaufgeschlagen auf seinem Schooß.

Frau Sebald glaubte außer diesem Stimmungsumschlag des Gastes inzwischen noch etwas Anderes wahrgenommen zu haben. Die mehrmals nach plötzlichem Erröthen eingetretene fahle Blässe seines Gesichts und seine müde, leibliche Erschöpfung verrathende Haltung erweckten ihr Mitleid. So benützte sie die Pause des Gesprächs, auf zwei Minuten hinaus und hinunter zu gehen, um der alten Haushälterin ihres Sohnes einen Auftrag zu geben.

Sie war eben wiedergekehrt, als Cäcilie, die den Vater keinen Moment mit ihren forschenden Augen losgelassen hatte und beglückt zu verstehen glaubte, was in ihm vorging, abermals das Wort nahm:

»Auch in Deinem Sinne, Vater, hast Du mich nicht verloren. Das verdankst Du gleichfalls lediglich der Geistesgröße dieses Mannes und dem mütterlichen Liebeszauber dieser herrlichen Frau; denn ich bekenne mich schuldig des harten Entschlusses, Dich zu verlassen. Ja, getauft zu werden, und so bald als möglich, verlangte ich sehr ungestüm. Ich antwortete auf Herrn Sebald's Weigerung mit bitteren Vorwürfen. Ich sagte, daß ich entschlossen sei, meinen Willen auch ohne ihn durchzusetzen. Ich hatte für den Fall meine Vorbereitungen getroffen, um schon morgen nach England abzudampfen, wo ich bei Deiner getauften, an einen Lord verheiratheten Schwester den willigen Reverend sogleich finden würde. Er blieb unerbittlich. Ihm winkte Lob und Ruhm, wenn er mir willfahrte; ihm droht Tadel und Strafe von seinen Vorgesetzten, wenn es bekannt wird, daß er mich zurückgewiesen hat. Unbekümmert um Gewinn oder Schaden, gehorcht er nur dem Gesetze seines Christenthums. Dies zu bewundern, bevor ich es ganz verstehe, hat er mich gelehrt. Ja, Du hast auch schon angefangen, das zu thun; Du weißt es noch nicht, aber ich hab' es Dir angesehen. Aber zugleich hat er mich bekehrt von meinem Vorsatz. Ich werde mich nicht taufen lassen ohne Deine Erlaubniß. Du meinest es redlich, sagt er, und die Tochter müsse beim Vater bleiben. Das will ich. Nachher sollst Du hören, was ich mir dagegen ausbedinge.«

»Kann jetzt nicht antworten? bin wie zermalmt; alles Denken vergeht mir!« sagte Mendez mit schwacher, kaum hörbarer Stimme und halb ohnmächtig im Stuhl zusammengesunken. Dann aber raffte er sich auf, ergriff die Hand des Pfarrers und hatte sie, bevor dieser es hindern konnte, geküßt und mit heißen Tropfen beträufelt.

Eben war die Haushälterin mit einem Präsentirbrett eingetreten, um sich sogleich wieder zurückzuziehen, nachdem sie es der Frau Sebald übergeben.

»Herr Mendez,« sagte diese darbietend, »nehmen Sie eine Tasse Chokolade mit etwas Gebäck und dann ein Glas Portwein. Sie haben noch nicht gefrühstückt. Hungergeschwächt, verängstigt und vom Laufen erschöpft, fallen Sie uns noch ohnmächtig vom Stuhl, wenn Sie nicht etwas zur Stärkung genießen.«

Mit einem Gesicht, in dem sich Staunen über den Scharfblick dieser Frau und dankbare Rührung wunderlich mischten mit verzweifelnder Rathlosigkeit, wie er der Noth entrinnen könne, entweder zu sündigen oder diese gütige Fürsorge zu kränken, schaute er sprachlos auf zu der vor ihm stehenden Matrone.

»Gnädige Frau,« stammelte er endlich, »sein Sie mir nicht böse. Ich darf keine Speisen und Getränke berühren, die nicht bereitet sind nach unserem Gesetz.«

»Nein, Herr Mendez, damit kommen Sie nicht durch,« versetzte Frau Sebald streng und gebieterisch. »Sie werden gehorchen, oder wir Zwei haben nichts mehr mit einander zu schaffen. Wenn Sie diese säuberlich bereiteten Gottesgaben zurückwiesen als unrein, weil sie aus dem Vorrath eines Christenhauses und aus meiner Hand kommen, würden Sie meinen Sohn und mich grob und unverzeihlich beleidigen. Kommen Sie zu der Einsicht, daß überhaupt eure ungastlich hochmüthige Koscherei in dem Rest von Verkehr, den sie euch übrig läßt mit uns, eine ehrenrührige Mißachtung der großen Nation ist, deren unermeßliche Staatswohlthaten auch ihr als Mitbürger genießen dürft. Mit ihr besonders verschuldet ihr eine der gerechten Ursachen des Grolls, den die Judenhetzer zu schüren beflissen sind. Sie wähnen zu sündigen, wenn Sie Regeln übertreten, von denen einige vor Jahrtausenden im heißen Orient gesundheitförderlich und zur Scheidung eines ehrbar lebenden, gottgläubigen Volkes von lüderlich schwelgenden Heiden auch sittlich heilsam sein mochten, die aber hier, im wohlgeordneten Europa, längst ebenso sinnlos und vernunftwidrig, als friedenstörend geworden sind. Ich aber sage Ihnen, Sie begehen eine Todsünde, wenn Sie sich heute, in einer der wichtigsten Stunden Ihres Lebens, durch eigensinniges Fasten Ihr Gehirn unfähig machen zu verständiger Ueberlegung und weisem Entschluß. Entweder Sie essen und trinken, oder Sie verlassen dies Haus augenblicklich.«

Immer noch unschlüssig blickte Mendez auf Cäcilie. Seiner Tochter ein Beispiel der Uebertretung zu geben muthete man ihm zu, ihm, dem ascetischen Sklaven der Satzung und unnachsichtigen Erzwinger auch ihres Gehorsams!

»Du siehst übel aus, Vater,« sagte Cäcilie. »Iß und trinke. Thu' mir's zu Liebe, sonst wirst Du wieder krank und durch meine Schuld. Laß Dich mit Labung gesund erhalten von Denselben, die Dir mein Leben und meine Kindestreue gerettet haben.«

Die zitternde Hand schon ausstreckend nach den Erfrischungen, zuckte er nochmals zurück und richtete einen hülfeflehenden Blick der Gewissensangst auf den Pfarrer, als erwarte er von diesem Schriftgelehrten eine biblische Absolution für die Nothsünde.

»Greifen Sie zu, Herr Mendez,« ermuthigte Ulrich. »Bin ganz einverstanden mit meiner Mutter. Doch gesetzt auch, sie hätte Unrecht: – mit meinem Wort verbürge ich Ihnen den Beweis, daß auch nach Ihrer bisherigen Strenge die heilige Schrift diese Labung gestattet. Erst aber stärken Sie sich.«

Mendez nahm den ersten Bissen und Schluck zaghaft, als fürchte er, sich die Lippen zu verbrennen, den zweiten schon williger, um dann das Mahl bald fortzusetzen mit einem Appetit, der eines Zuspruchs der freundlich lächelnden Wirthin kaum noch bedurfte.

Nachdem er das reichliche Frühstück mit einem Glase Portwein beschlossen, war er selbst erstaunt über die heiter muthige Stimmung, die sich seiner bemächtigte, und noch mehr darüber, daß statt eines Vorwurfs im Gewissen vielmehr etwas in ihm sich regte wie Selbstspott und Lachlust über sein langes Sträuben gegen die schmackhafteste und erquicklichste aller Mahlzeiten, die er seit Jahren genossen.

Zu strammer Haltung aufgerichtet, ein Lächeln um die geklärten Augen, zur Wonne Cäciliens beinahe schon zurückverwandelt in den hübschen und fröhlichen Vater, der er gewesen, bevor ihn der Tod des Sohnes und der Gemahlin zu langer Krankheit niedergeworfen, rief er fast mit Humor:

»Nun Ihren Beweis, Herr Sebald, obwohl ich den eigentlich nicht mehr nöthig habe nach dieser Bewirthung mit wunderthätiger Ambrosia und Nektar, kredenzt von Ihrer schönen Frau Mutter.«

»Auch wird die alte Hebe mit schneeweißem Haar nächstens Vergeltung fordern,« sagte schalkisch Frau Sebald.

»Vergeltung? Welche? Nach Ihrer Antwort verlangt mich fast mehr als nach dem Schriftbeweis.«

»Lassen Sie erst meinen Sohn reden.«

Ulrich hatte inzwischen in dem Buche geblättert. Den Zeigefinger zwischen die Seiten mit der gefundenen Stelle legend, klappte er es wieder zu. Es war eine hebräische Uebersetzung des Neuen Testaments, von deren Existenz Mendez nichts wußte. Sie ist neueren Ursprunges, macht aber, da der griechische Text beinahe durchweg herrührt von Verfassern, welche semitisch dachten und in einer erst erlernten fremden Sprache schrieben, oft fast mehr als dieser den Eindruck eines Originals, besonders in den drei ersten Evangelien, deren Reden ja in einem späteren Dialekt der alttestamentlichen Sprache gehalten und erstmalig auch aufgezeichnet wurden.

»Es wird Ihnen nicht unbekannt sein,« begann er, »was das erste Buch Samuelis im einundzwanzigsten Kapitel von David berichtet. Auf der Flucht vor König Saul kam er hungermatt mit etlichen Genossen nach Nobe, trat in's Gotteshaus und verlangte zu essen. Da nichts Anderes vorhanden war, gab ihnen der Priester Ahimelech die heiligen Schaubrode, obgleich das Gesetz Mosis deren Genuß jedem Andern, als einem Gottesdiener vom Stamm Aaron's, strengstens verbietet.

Nun hören Sie, wie sich in einem ähnlichen Fall unter Berufung auf diese Stelle ein weltberühmter Rabbi Ihres Volkes ausgesprochen hat. Er ging mit seinen Schülern am Sabbath einen Pfad zwischen reifenden Weizenfeldern. Seine Begleiter waren hungrig, rauften sich Aehren ab und aßen die Körner. Da das einige buchstabengläubige Schriftgelehrte sahen, machten sie ihm Vorwürfe und sagten: ›Was thun da Deine Schüler? Das ist ja am Sabbath verboten!‹ Was erwiederte der Rabbi? Hier steht es.«

Ulrich schlug das Buch auf und las hebräisch:

»Habet ihr nicht gehört, was David that, da ihn hungerte? Der Sabbath ist um des Menschen willen gemacht, nicht der Mensch um des Sabbaths willen. So ist der Menschensohn auch ein Herr über den Sabbath.«

»Was ist denn das für ein hebräisches Buch, von dem ich nie etwas vernommen?« frug Mendez höchlichst erstaunt. »Wie heißt der berühmte Rabbi?«

»Das Buch will ich Ihnen später einmal leihen. Heute ist es dazu noch zu früh. Dann erfahren Sie auch den Namen des Rabbi, desselben, der ferner gesagt hat: ›Ich bin nicht gekommen um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen.‹ Jetzt, Mütterchen, habe Du das Wort zu Deiner Forderung.«

»Herr Mendez,« begann Frau Sebald, »ich melde mich und meinen Sohn bei Ihnen und Ihrer Tochter zu Gast zum Abendessen am nächsten Montag. Aber nicht im alten Hause in der Judengasse, sondern in Ihrer seit mehr denn zwei Jahren zugeschlossenen Gartenvilla jenseits des Stromes.«

Ein Anflug von Schreck im Gesicht des Angeredeten ging schnell über in ein Lächeln des Trotzes. Zur Tochter gewendet flüsterte er:

»Wie wird Aaronson zetern! Aber mag er! So wohl und vergnügt hab' ich mich nimmer gefühlt seit dem Tode Deiner seligen Mutter. Sehe nicht ein, warum ich mir das nicht öfter gönnen soll. Sie machen mit mir, was Sie wollen,« wandte er sich dann zu Frau Sebald und ihrem Sohn. »Sie sollen mir willkommen sein.«

Für sich dachte er: »Das ist ja ein hoher Feiertag des Glücks, trotz der heruntergefallenen und der vernachlässigten Mesusah.«

Damit begann von dem weltabsperrenden Gerüst, in welches den durch Herzeleid und Krankheit geschwächten, von Natur weich beweglichen Mann pfäffische Herrsch- und Gewinnsucht eingekäfigt, der Hauptständer, der seinem Glaubensbedürfniß aufbetrogene Aberglaube, aus Nuth und Naht zu weichen und falldrohend zu wanken.

»Gesegnet sei diese Stunde!« jubelte Cäcilie. »Damit ist eine Hälfte meines Verlangens so gut wie erfüllt: der Auszug aus dem alten Hause. Ich werde wieder ganz Deine glückliche Tochter sein, wenn Du mich noch lösest von Rosenberger.«

Das war unklug. Damit hatte sie dem Vater für heute zu viel zugemuthet.

»Das steht nicht in meiner Macht,« antwortete er traurig verdrossen, aber sehr bestimmt. »Rosenberger hat meine vor dem Rabbiner untersiegelte schriftliche Zusage. Nur er selbst könnte Dich freigeben. Lassen wir das jetzt,« fügte er etwas milder hinzu. »Er weilt ja jenseits des Meeres und Monate werden vergehen, bevor er wiederkehrt.«

Ein Zublinzen Ulrich's, der dabei den Finger an die Lippen legte, und eine abwinkende Handbewegung seiner Mutter bewogen Cäcilie, nicht zu antworten.

Um den Mißton wegzudämpfen, der in die beginnende Harmonie hineingeschrillt, nahm Ulrich nochmals das Wort:

»Lassen Sie mich wiederholen, was ich schon Ihrer Tochter bewiesen habe: daß wir keine Proselytenmacher sind, obwohl wir Sie genöthigt haben, Ungekoschertes zu genießen und uns demnächst zu bewirthen in Ihrem neuen Hause. Beides haben wir, ich bekenne es, auch in der Hoffnung gethan, Sie hinaus zu retten aus der Gefangenschaft in einer Satzung, die längst ebenso unsinnig als gemeinschädlich geworden ist. Ueberlegen Sie doch ein wenig. Hätten Sie Ihren Reichthum jemals erwerben können ohne die tausendfache Mitarbeit des Kunst- und Gewerbefleißes und sämmtlicher Wissenschaften der Gegenwart? Nimmer! Aber gesetzt auch, er wäre Ihnen durch ein Wunder in den Schooß geflogen: – was allein gewährt Ihnen die Möglichkeit, mittelst dieses Reichthums in Ihrem Beruf eine Art von Weltherrschaft auszuüben? Was Anderes, als die uns bis zur Gleichgültigkeit alltäglich gewordenen, aber darum nicht minder grandios bewundernswürdigen Leistungen unserer Post, unserer Eisenbahnen und Telegraphen, verbunden mit dem starken Rechtsschutz in unserem Reiche und in allen civilisirten Staaten? Und Sie, ein hervorragender Gebieter über die Machtmittel, welche der Menschheit unserer Epoche die Herrschaft über die Natur erobern, Sie sollten ein angstvoller Knecht bleiben eines unübersehbaren Krams von Regeln, welche sich die wenig oder gar nichts wissenden Sklaven der Natur vor Jahrtausenden ersannen und mit deren Befolgung sie wähnten, harte Strafe zu vermeiden und sich von Gott Belohnung mit Glück und Gesundheit zu sichern? Dann glichen Sie auf's Haar einem Soldaten, der mit Kelt, Nephritspeer, Flitzbogen und Feuersteinpfeilen in die Schlacht zöge gegen Feinde mit Mausergewehren und Krupp'schen Kanonen; oder gar einem Weißen, der, statt mit einem Rezept des Arztes in die Apotheke zu gehen, einen Medizinmann der indianischen Rothhäute aufsuchte, um sich den bösen Geist einer Krankheit mit albernem Hokuspokus austreiben zu lassen.

Doch so scharf ich Ihnen das auf den Kopf sage, – fürchten Sie von mir keine Verspottung altehrwürdigen Herkommens oder gänzliche Verwerfung ererbter Gebräuche. Nein. Feiern Sie auch ferner Ihr bedeutsames und ernstschönes Versöhnungsfest. Essen Sie das ungesäuerte Brod und das Osterlamm. Wenn es Sie nicht stört in Ihrer Andacht, würden wir, meine Mutter und ich, als Gäste bereitwillig und in erbauter Stimmung theilnehmen an einem Mahl, das auch für uns verbunden ist mit heiligen Erinnerungen. Heften Sie immerhin auch an die Thür Ihrer prächtigen Villa die Mesusah mit einer Parasche aus der Thora, um täglich des Buches zu gedenken, dem nicht nur Ihr Volk, sondern die Menschheit so viel verdankt von ihrer Erziehung zur heutigen Größe.

Aber dies Gedenken muß den Vorsatz fruchten, mit liebevoller Sorge für die Ihrigen und weiser Führung des Lebens für Sie selbst durch eigene That Unglück abzuwenden und Glück arbeitend zu verdienen. Wenn Sie dagegen wähnen, daß ein Fingerstrich über das Gläschen und dann über Ihre Augen Sie auch ohne eigene Vorsicht mit Zauberkraft vor Gefahren schützen und Ihnen Segen ohne eigene Mühe zuwenden werde, dann fröhnen Sie einem Fetischdienst, einem unfehlbar Unheil bringenden Aberglauben und Ihre Schuld verwandelt die Heilsmacht des Namens Schaddai in Schadenmacht.

Ein andermal mehr davon. Jetzt nur noch Eines.

Wissen Sie, wie es kommt, daß die meisten Juden, selbst in fernen Ländern, der Sprache nach Deutsche geworden sind? Sie sind es geworden dank derselben Eigenschaft, welche sie weiland befähigte, die erfolgreichste Weltreligion zu liefern.

Aus derselben Eigenschaft erwuchs die Kraft der Römer, mit ihrem Weltreich dieser Religion die Stätte vorzubereiten.

Der frühe Verlust derselben, von Homer noch entzückend geschilderten und verherrlichten Eigenschaft ließ das griechische Volk die schon errungene Herrschaft über den Erdkreis verlieren und sittlicher Auflösung verfallen.

Das bisher höchste Maß eben dieser Eigenschaft hat dann den Germanen die Gewalt gegeben, das verrottete Römerreich zu besiegen und die neue Lebensordnung zu begründen. Dieselbe Eigenschaft endlich hat uns Deutsche aus langem Siechthum genesen und erstarken lassen zu gebietenden Führern der Erfüllung.

Weil ihr Juden auch jetzt noch diese Eigenschaft in hohem Grade mit uns theilt, ist euch nirgend wohler als unter uns. Auf ihr beruht eure, für eine leiblich von uns beträchtlich verschiedene Rasse geradezu staunenswerthe Schmiegsamkeit, mit unserer Sprache auch unsere Empfindungs- und Denkweise dermaßen in Saft und Blut aufzunehmen, daß Juden wie Felix Mendelssohn, Heinrich Heine und Berthold Auerbach zu den deutschesten unserer Tonsetzer und Dichter zählen. Auch kann ich mich der Ahnung eines Mysteriums nicht entschlagen, welches erst die Zukunft enträthseln wird mit einer unserer Gemeinschaft zugedachten weltgeschichtlichen Leistung.«

»So nennen Sie endlich die Eigenschaft, welche Sie meinen.«

»Ich meine die im Alterthum außer den Römern nur noch den Juden eigene Hochhaltung der Frauenwürde und die mit ihr unvergängliche, ohne sie unrettbar verdorrende Wurzel des Völkerheils: die ehrbare Zucht und Innigkeit des Familienlebens. Denn die Tapferkeit der Männer kann, Schlachten gewinnend, Gefahren für den Augenblick, aber nimmer den Untergang abwenden, wann die mütterliche Tapferkeit der Weiber hingeschwunden ist. Die Familie wird immerdar der Menschheit Allerheiligstes bleiben. Was ihren liebegemörtelten Bau nicht festigt, wohl gar erschütternd aus den Fugen sprengt, das mögen zünftige Priester noch so göttlich preisen, es ist teuflisch. Darum hören Sie jetzt noch einen Spruch des Rabbi, von welchem dies Buch handelt.«

Er las, für Mendez hebräisch, doch für seine Mutter und Cäcilie den Text Luther's aus dem Gedächtniß hinzufügend:

»Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich hat, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder; alsdann komm' und opfere deine Gabe.«

Mendez stand auf und nahm seinen Hut.

»Haben Sie Dank!« rief er. »Auf Wiedersehen. Du, Kind, wirst noch hier bleiben wollen. Ich schicke Dir den Wagen. Hier ist der Schlüssel zum Thürgitter. Verschließe das Haus des Urgroßvaters hinter Dir. Dann fahre mit Recha und allen unseren Leuten nach der Villa. Das Hausgeräth steht ja noch alles, wie wir es verlassen haben. Sorge für die Säuberung. Im Gasthof zur Stadt Wien laß ein Mittagessen zur Abholung nach dem neuen Hause bestellen.«

»Und wohin willst Du?«

«Ich gehe meinen Bruder um Vergebung bitten.«


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