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Zwölftes Kapitel.

Alter Epheu.

 

Enges Haus der frommen Ahnen,
Unerlößter Unterthanen
Der verschleierten Natur,
Kann in dir die neuen Pflichten
Treu der EnkeIsohn verrichten,
Der sein Königsrecht erfuhr?

 

Der Insasse des Einspänners vor dem Pförtchen strich die Asche von einer halb gerauchten Cigarre, blies ihren Rauch zum Brandende hinaus und steckte sie in das kurze, leuchterartige Blechrohr über dem Streichbrett des Feuerzeugs zwischen den Vorderfenstern seines Wagens. Noch jugendlich rasch und behend stieg er aus, setzte sich den Cylinderhut, den das niedrige Verdeck aufzubehalten nicht erlaubte, draußen erst auf die kleine, von lang herabfallenden schneeweißen Haaren umrahmte Glatze und rief zum Bock hinauf: »Nachher Dohlengasse.«

Auf diese Weisung, welche der nächsten Fahrt die entgegengesetzte Richtung vorschrieb, fuhr der alte, auch schon siebenzigjährige Kutscher sogleich weiter, weil das Umkehren im schmalen Bischofsgaden unmöglich war.

Der Arzt, ein hageres, kaum mittelgroßes Männchen in spitz- und langschößigem schwarzem Frack, eilte durch die Pforte. Von dieser bis zur obersten Stufe der Pfarrhaustreppe hatte er zu schreiten über eine zwei Planken breite, auf Schwimmbalken befestigte Pritsche. Einer der höchsten Wasserstände hatte die Legung derselben vor etwa sechs Wochen erfordert. Da nach den Berichten aus dem Oberlande noch ein zweites Hochwasser bevorstehen konnte, hatte man sie liegen gelassen, obgleich der Strom längst in seine Ufer zurückgetreten und der Pfarrwinkel wieder trocken war.

An der Hausthür angelangt, hob er schon den schweren delphingestaltigen Klopfer, legte ihn aber geräuschlos wieder an, indem er sich seitwärts bückte und mit der starken gebogenen Nase die Luft witternd einsog. Sein berühmt feines Geruchsorgan, mit dessen Hülfe er schon oft räthselhafte Krankheiten richtig erkannt hatte, spürte etwas der Aufmerksamkeit Werthes. Es kam aus dem ihm nächsten der beiden Kellerfenster, deren wasserdichte äußere Verschlußklappen von starkem Eisenblech jetzt geöffnet niederhingen. Einen Moment nur roch er da hinein, kehrte dann, das widerliche Gedüft heftig ausfauchend und mit gewohnter Vorsicht aus einem Fläschchen, das er stets in der Westentasche bei sich führte, den Dunst der scharfen Essenz durch die Nase einathmend, bis er kräftig niesen mußte, auf die Treppe zurück und begehrte mit zwei kurzen Klopferschlägen Einlaß.

Die Hausthür öffnete sich ohne sichtbaren Pförtner durch einen Mechanismus. Rasch durchmaß der Arzt den fliesenbelegten Flur, trippelte flink die Treppe hinauf und trat in das Arbeitszimmer des Pastors.

Ulrich saß in einem altmodischen Lehnstuhl, dessen ursprünglich schwarzer Lederbezug fast überall zur Naturfarbe abgerieben erschien. Vor ihm lag auf dem etwas schäbigen Teppich ein langes Couvert, dessen Postmarke des Doktors scharfes Auge, geübt an einer eifrig geförderten Markensammlung seines ältesten Enkels, als eine hochwerthige, in Europa seltene, nur für Briefe von mehr als doppeltem Gewicht bestimmte nordamerikanische erkannte.

Sebald legte den eben gelesenen vierten oder fünften Bogen des Briefes beiseite und erhob sich zu herzlicher Begrüßung. Aber der Arzt schob ihn zurück in den Sessel, indem er sich einen Stuhl heranzog.

»Sitzen bleiben!« rief er. »Bin immer bange, daß Sie die Decke Ihrer Eremitenbaracke einstoßen, wenn Sie aufstehen, wie das ein Spottvers von Ihrem Urgroßvater berichtet.«

Der junge Geistliche maß in der That seine sechs Fuß von der Sohle zum Scheitel, und zwischen diesem und der Decke des Zimmers blieben kaum zwei Spannen Spielraum, wann er sich aufrichtete.

»Nachricht vom Bruder aus Amerika?« frug der Arzt, indem er das Couvert aufhob, die Ecke mit der Marke abriß und in die Westentasche steckte.

»Ja,« erwiederte Sebald; »Arnulf hofft im August oder September heimzukehren. Er hat viel, sehr viel Geld erworben. Den ersten großen Schlag bekennt er, Ihnen zu verdanken.«

»Mir? Wie hängt das zusammen?«

»Entsinnen Sie sich noch Ihres Schützlings Graumann?«

»Den ich, als er zu nichts Anderem tauglich schien, das Seilerhandwerk erlernen ließ?«

»Desselben. Sie schickten ihn mit einem kollektirten Sümmchen nach Amerika und gaben ihm ein Empfehlungsschreiben an Arnulf mit. In der jüngst erst gegründeten Stadt O… kaufte mein Bruder zu billiger Vermiethung an ihn um vierhundert Dollar eine Seilerbahn, zwei Klafter breit, aber hundertundzwanzig lang. Zwei Jahre später hatte sich die Einwohnerschaft O....s verzwanzigfacht. Die innere Baufront einer neu projektirten Hauptstraße fiel fast genau mit der äußeren Grenzlinie der Bahn ihrer ganzen Länge nach zusammen. Deren Verkauf hat für jedes angelegte Hundert so viel Tausende eingebracht, daß Arnulf, nach Erwerb einer weiter hinaus gelegenen Seilerstätte für Ihren prosperirenden Graumann noch fünfundzwanzigtausend Dollar übrig behielt. Mit diesem durch einige andere ebenfalls glückliche, wenn auch minder einträgliche Spekulationen noch verstärkten Kapital hat er sich in Kalifornien und Nevada an Silberbergwerken und einer von ihm entdeckten Kupfermine betheiligt. Der Jahresertrag seiner Antheile, schreibt er, würde bei uns schon für ein bürgerlichen Wohlstand sicherndes Vermögen gelten.«

»Das sind ja hocherfreuliche Nachrichten.«

»Außerdem berichtet er mit auffälliger Ausführlichkeit merkwürdige Dinge von einer Kirche in einer der größesten Städte des amerikanischen Westens.«

»Was Sie sagen! Der Geolog, Sterngucker und rabiate Darwinist von einer Kirche? Müssen mir das vorlesen, wenn ich demnächst wieder einmal Muße finde, Nachmittags eine der vortrefflichen Havannas von der Sendung Arnulf's bei Ihnen zu rauchen. Heute hab' ich wenig Zeit. Sie wissen, ich war etliche Tage verreist. So warten auf mich noch mehrere Patienten mit Ungeduld. Also zur Sache!«

Er ließ sich die Zunge zeigen, befühlte und zählte, seinen großen goldenen Chronometer ziehend, den Puls, fand ihn völlig fieberfrei und fast normal und erhielt auf seine Fragen nach Eßlust und Schlaf befriedigende Antworten.

»Das Gesicht ist noch bläßlich; auch hat sich in den innersten Augenwinkeln der gelbe Schimmer noch nicht völlig verzogen. Sonst Alles in bester Ordnung. Dürfen die Chinapulver weglassen, essen, was und so viel Sie wollen, auch wieder sonntäglich predigen. Weiß ja, daß diese Lungenarbeit Ihnen unentbehrlich ist zu gesunder Leibesordnung. Ihr Sebalde seid eben nicht umzubringen. Habt ein Erbrecht auf Nilpferdsnaturen mitgebracht aus Kleinsibirien am Pregel. Müßtet sonst längst zu Zwergen eingeschwunden, zu Rhachitikern verkrüppelt oder ausgestorben sein in diesem verdammten Fiebernest.«

»Lieber Doktor, kommen Sie mir schon wieder mit Ihrem ceterum censeo gegen unsern Familiensitz?«

»Ja, und diesmal mit äußerstem Nachdruck. Dürfen die ernste Warnung dieses schweren Fiebers mit Gelbsucht nicht in den Wind schlagen. Glaubte Ausartung in gefährlichen Typhus kaum noch verhüten zu können. Ein zweiter Anfall könnte selbst Ihre Reckengestalt niederwerfen zum Nimmeraufstehen. Ihr eben wasserfrei gewordener Keller athmet Pestilenz. Haben Sie vergessen, was während des Hochwassers im vorigen Frühjahr geschehen ist?«

Sebald schwieg eine Weile, um dann etwas kleinlaut zu erwiedern:

»Ja, – während – Aber Sie meinen doch nicht, durch das Hochwasser?«

»Durch, durch!« versetzte Mannheimer. »Gemeint, vermuthet wenigstens, hab' ich's schon damals. Jetzt weiß ich's. Hinaus, sage ich, bevor es zu spät wird!«

Sebald erhob sich und trat an das nächste, nach der Kirche blickende Fenster.

»Kommen Sie her, Doktor!« rief er. »Sehen Sie den Epheu dort? Mit arm- und selbst beindicken Grundstämmen bedeckt er die Fundamentquadern. Hinaufgeklettert bis über die Spitzbögen der Fenster, bekleidet er die Kirche mit immergrüner Tapete. Wohl nicht minder dicht umklammern seine Wurzeln das Mauerwerk in der Tiefe. Auf mehr denn sechshundert Jahre schätzt man sein Alter. Ich will nicht entscheiden, ob es möglich wäre, ihn abzureißen und zu entwurzeln ohne Beschädigung des Gebäudes. Aber daß er dabei zu Grunde gehn, der Versuch, ihn verpflanzend zu erhalten, ein unsinniges Unternehmen sein würde, das ist wohl unfraglich. Er ist mir ein Bild meiner Familie und meiner selbst. Unser Urahn hat die Kirche einst bauen geholfen. Fast zwei Jahrhunderte hatten in ihr meine Vorfahren ihres Amtes gewaltet und in diesem Hause gewohnt. Dann wurden sie vertrieben und blieben drei Generationen hindurch verbannt. Meinem Urgroßvater gelang es, zurückzukehren in's alte Erbe. Und ich sollte freiwillig aus diesem Hause scheiden? Beweisen kann ich die Unvermeidlichkeit nicht; aber ich habe das Vorgefühl, daß mir und meinem Geschlecht auch die Kirche für immer verloren gehen würde, wenn ich auszöge in eine bequemere Mietwohnung.«

Mannheimer murmelte etwas zwischen den Zähnen.

»Was meinen Sie, Doktor?« fuhr Sebald fort. »Um Ihre Lippen spielt ein bedeutsames Lächeln. Leg' ich's richtig aus? Ich glaube, ja. Sie denken: desto besser. Ich kenne ja Ihre Ideen. Sie trauen meinen Gaben bessere Entfaltung, größere, wenigstens Ihnen erwünschtere Wirkung zu, wenn ich sie geltend machen wollte ohne die Zurückhaltung, die Stand und Amt mir auferlegen. Sie vermuthen, daß schon mein Auszug aus diesem Sitz meiner Altvordern mich freier in Gedanken und Reden machen, schließlich wohl gar meine Scheidung von der Kirche nach sich ziehn würde. Das ist Ihr Hintergedanke, wenn Sie mit Gesundheitsgründen drängeln zum Wohnungswechsel. Lassen Sie ab davon. Mit tausend Ranken, mit eigenen und Erberinnerungen umklammert meine Seele diese Kirche. Von ihr losgerissen werden ist mir gleichbedeutend mit Vernichtung. Kommen Sie hieher an dies zweite Fenster. Von hier schaut man in die Kirche hinein, ja zuweilen hindurch. Dort erblicken Sie den oberen Theil des großen Kruzifixes, jetzt freilich nur in dunkeln Umrissen. Wann aber von Westen her die zum Untergang neigende Sonne oder Nachts der volle Mond von jenseits hereinschaut, dann sehe ich durch jene rubinrothe Scheibe das Haupt voll Blut und Wunden wie belebt. Wann es die erforderliche Stellung eines der großen Himmelslichter gestattet, versäume ich es nie, mich diesem Blick auf den großen Dulder und Erlöser andächtig hinzugeben. Er hat für mich eine wundersame Anregungskraft zu tiefen Meditationen. Ihm verdank' ich einen nicht geringen Theil der Wärme meiner Predigten. Sie spötteln oft über meinen Glauben an Erberinnerung: aber ich sage allen Ernstes: aus eingeborener Empfindung würde ich es unzweifelhaft wissen, daß an eben diesem Fleck auch meine Ahnen Abends und Nachts oft gestanden haben, um aus demselben Anblick ähnliche Anregungen zu schöpfen. Ich würde es wissen, auch wenn es nicht schriftlich bezeugt läge in Familienbriefen aus der Zeit unseres babylonischen Exils – denn so nennen wir unsere ostpreußische Epoche. Der Sohn des von hier vertriebenen Ulrich Sebald schildert es in einem Briefe, wie kurz vor dem Auszuge sein Vater ihn als zehnjährigen Knaben bei Vollmondschein an diesen Platz geführt habe, damit er sich den erbaulichen Anblick einpräge. Auch der Vater meines Urgroßvaters, der nur noch von Hörensagen davon wußte, bezeichnet das Verlangen nach diesem Schauen als einen Brennpunkt der unauslöschlichen Sehnsucht der Familie nach der Wiederkehr in's alte Haus am Erbheiligthum. Ich würde mir den freiwilligen Verzicht nimmer vergeben; ich würde kranken an unheilbarem Heimweh. Denn dieser Fleck Erde ist ein durchaus einziger für mich, für uns.«

»Uns, uns?« echote der Arzt in einem seltsamen Mischton von Ironie und angenehmer Ueberraschung, den auch sein Mienenspiel zutreffend begleitete; denn während seine Lippen ein spöttisches Lächeln umspielte, ruhten seine scharfen hellgrauen Augen mit einem forschend eindringenden, aber beifälligen Blick auf den edeln Zügen und der kräftigen Gestalt des jungen Geistlichen.

»Warum,« fragte dieser, »wiederholen Sie mein letztes Wort mit Ironie?«

»Zugleich mit Hoffnung!« erwiederte der Alte, ihm auf die Schulter klopfend. »Ich frage mich, was Ihnen den Plural Uns auf die Zunge legt, und habe darauf nur eine Antwort. Ihre Frau ist nach einjähriger Ehe gestorben, und zwar – heut' sag ich es hart und scharf – gestorben an Ihrem Eigensinn. Nicht eine Schickung Gottes, wie Sie sich ausdrückten, hat sie hinweggenommen sammt dem Kinde unter ihrem Herzen, sondern der Typhus. Daß der sie ergriff, während sie der Niederkunft entgegensah, verschuldete dies Haus mit seinen nach Hochfluten unausbleiblichen Miasmen. Ihr Bruder, wenn er einst heirathen und männliche Nachkommenschaft erzielen sollte, würde es, wie Sie wissen, nimmer zugeben, daß einer seiner Söhne zur Theologie schwüre. An die freiherrlichen und gräflichen Sebalde können Sie noch weniger denken; denn die sind alle, so viel ich weiß, Katholiken. Ergo: was verräth Ihr Wörtchen Uns unzweifelhaft? Heirathsgedanken! – Dazu gratulire ich von ganzem Herzen. Ich rechne darauf, daß Sie als reifer und erfahrener Mann nicht abermals einen Studentenstreich begehen, sondern eine leiblich und geistig ebenbürtige Frau zu finden wissen werden. In ihr erwarte ich die Bundesgenossin zu dem Siege, den zu erstreiten mir bisher mißlungen ist. Ihr wird es nicht einfallen, eine gesunde und gute Wirthschaft für möglich zu halten in dieser mittelalterlichen Büßerbude mit fünf Käfterchen, die mehr Nasendrücker als Zimmer zu heißen verdienen, mit fast jährlich wasserbedrohtem Keller und einer Küche, so jämmerlich, wie sie keine Schuhflickersfrau sich gefallen ließe. Ja, ich bin wirklich der Meinung, daß auch Ihre Flügel zu ganz anderem Aufschwunge ausgreifen werden, wenn Sie wo anders sitzen, als in diesem Vogelbauer. Sie wissen, ich bin sehr einverstanden mit Ihren Anläufen, unserer mit dem Fusel der Kraftstoffelei besoffen gemachten gebildeten Gesellschaft, wie man sie nennt, zu retten, was noch rettbar ist von der Religion. Aber Sie wollen viel zu viel alte Scharteken mitnehmen in's neue Haus und spintisiren sich matt über dem Bemühen, auch völlig verwitterte und wurmfräßige Truhen voll vermoderter Reliquien und verschlissener Lappen in brauchbaren Hausrath umzutischlern. Darüber würden Sie zur Einsicht kommen, wenn Ihre Festnagelung an den düster gothischen Bau Ihres Urahnen, des Kreuzfahrers, aufhörte. Von Ihrer zukünftigen Zweiten, die vielleicht Ihnen selbst noch ebensowenig bekannt ist als mir, erwarte ich also das Gehorsam erzwingende Signal zum heilsamen Exodus. Sollte jedoch wider alles Vermuthen auch diese Zukünftige so sentimental verblendet sein, in dies alte Nest zu Ihnen ziehen zu wollen, – dann bilden Sie sich nicht ein, daß der alte Mannheimer stumm bleiben würde zu solcher Missethat. Hätte sonst nichts einzuwenden gegen Ihr andächtiges Schwärmen von diesem Fenster aus. So viel aber hab' auch ich, der getaufte Jude, schon herausgelesen aus dem Neuen Testament, um genau zu wissen, daß Ihnen Rabbi Jeschua Ben Joseph einen Blick voll Gotteszorn zuwerfen oder gar die zur Tempelsäuberung gebrauchte Geißel wider Sie schwingen würde, wenn Sie behufs Fortsetzung dieses Bilderdienstes bei Sonnenuntergangs- oder Mondenschein abermals eine Frau umbringen oder gar Ihre Nachkommenschaft mit Siechthum behaften wollten.«

Im Hinausgehen, von der Schwelle zurück, hatte der alte Arzt die letzten Worte gesprochen. Jetzt warf er die Thür dröhnend hinter sich zu.

Ulrich sank wieder in den Ledersessel und war eine Weile wie betäubt vom wuchtigen Keulenschlage des treuen Freundes. Dann sprang er auf und durchmaß mehrere Minuten lang das Zimmer von einem Ende zum andern in so rascher und gereckter Gangart, daß er dessen Länge von etwa zehn gemächlichen Schritten mit halb so vielen zurücklegte. Endlich blieb er stehen am zweiten Fenster und schaute hinaus nach der Kirche.

Das ungefähr war der Schluß, bei welchem sein aufgeregtes Gemüth einige Beruhigung fand.

»Nein! So recht mein Bruder hatte mit seiner Warnung und so sehr ich leider selbst überzeugt bin, durch Nichtbeachtung derselben das Leben der armen Cölestine verkürzt zu haben, – mit dem Vorwurf einer Schuld an ihrem frühen Tode im Sinne Mannheimer's brauche ich mein Gewissen nicht zu belasten. Gesetzt auch, diese Wohnung hätte ihr Aufkommen verhindert, wie er doch erst nachträglich behauptet, davon hatte ich ja keine Ahnung. Nicht nur verzeihlich, sogar löblich, däucht mir, muß es jeder Gerechte finden, daß damals ein Auszug fast ebenso sehr außerhalb des Horizonts der mir möglichen Gedanken lag, als etwa der Einfall, mir einen andern Kopf aufzusetzen. Macht ihn mir doch immer noch eine Familiengeschichte von Jahrhunderten unfaßlich trotz des triftigen Grundes, mit dem er mir jetzt empfohlen wird. – In Einem aber hat mich dieser hellsehende Seelenspion wirklich vor mir selbst beschämend entlarvt. Ja, ich trug mich mit Heirathsgedanken. Selbst das hat er aus nur einem Wort richtig erschlossen, daß sie noch ohne Ziel, auf kein bestimmtes Weib gerichtet und weiter nichts waren, als Ausgeburt meines Wunsches, unser Erbamt wieder einem Sohn zu hinterlassen. Was würde er wohl sagen, wenn er die ganze Wahrheit wüßte: daß ich nüchtern umhergehorcht und gespäht nach einer passenden Frau, sogar trotz einer starken, freilich hoffnungslosen Neigung? – Nein, Doktor, hinaus locken lasse ich mich nicht, lieber hinaus tragen, wenn ein künftiges Fieber stärker sein sollte als meine Widerstandskraft von angeblich kleinsibirischem Ursprunge. Aber Sie sollen doch recht behalten. Werde keinen Anlaß geben zum Protest gegen den Einzug einer Zweiten. Ich spüre es, ein edles Herz kann ein Gefühl von Treuepflicht nicht unterdrücken, ob es auch ohne Hoffnung liebt. Sei denn immerhin Sebald, der junge Wittwer, der Letzte seines Stammes, der mit Dir dort, o göttlicher Dulder, von diesem Fenster aus Zwiesprach hält über die rechte Erfüllung deiner Heilslehre.«


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