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Drittes Kapitel.

Heiri der Wildheuer.

 

Bei dir, Natur, lass' mich gesunden
Von Seelen- und Gewissenswunden.

 

Drei Tage später wurde die Kunstreiterin Arabella zu Grabe getragen.

Zwei Monate später klang in der Morgenstunde vom Thurm der Sebalduskirche das dreistimmige Geläut. Im Bischofsgaden, vor der Pforte des Pfarrwinkels hielt der Leichenwagen. In dem kleinen, mit Palmen und Kränzen bedeckten Sarge, den er nach dem Gottesacker führte, lag nach kaum einjähriger Ehe die Gemahlin des Hauptpastors und ihr todtgeborenes Kind.

Sechs Wochen nach diesem Begräbniß, am fünfzehnten Juli, schreitet ein hochgewachsener, kräftig gebauter, aber bleich und bekümmert aussehender junger Mann rüstig bergwärts im Thale von Glarus, bereits oberhalb des schlachtberühmten Städtchens Näfels.

Der nahe dem Ufer der Linth hinaufsteigenden Landstraße hat Ulrich Sebald die Fußpfade vorgezogen, die sich rechts von ihr, oft kaum erkennbar und fast nur von Gaishirten betreten, auf der untersten Lehne des schroff abstürzenden Wiggis hinschlängeln, obgleich sie mit häufigen Steilen und launischen Zickzacklinien den Zeit- und Kraftaufwand seiner Wanderung fast verdoppeln.

Vor ihm her geht ein junger Wildheuer aus der Umgegend von Mollis, in breitkrämpigem braunem Filzhut, grauer Joppe und dickbenagelten Bergschuhen, über der Schulter am langen eichenen Krückstock mit scharfem Eisspeer eine lederne Reisetasche nebst aufgeschnallter Decke tragend. Wohl zehnfach um den Leib gewunden hat er sich ein Seil mit breitem Brustgurt an eisernem Rückenhaken.

Den hatte Ulrich während der Bootfahrt durch den Linthkanal erzählen gehört, wie er seinem gefahrvollen Erwerb zumeist auf den Schroffen am Klönthal und in der Gebirgswildniß des Glärnisch obliege. Eben diese, von Fremden selten besuchte Gegend gedachte er zu durchstreifen. Dorthin sein Führer zu sein hatte sich Heiri von Mollis bereit erklärt, wenn Ulrich im Storchen zu Näfels etliche Stunden auf ihn warten wolle. Er habe zuvor sein alt' Mütterle zu begrüßen und ihr die fünf blanken Zehnfrankenstücke in den Schooß zu legen, welche er, nach genügender Versorgung der eigenen Kuh, für die reichliche Heuernte dieses Jahres gelöst habe. Ohnehin müsse er für den Glärnischgletscher das Gangseil und etliche Steigeisen von Hause holen.

So freudig dann auch der junge Mann mit dem derbgeschnittenen, von der Sonne verbrannten Gesicht und den hellgrauen, kleinen, aber von Lebenslust blitzenden Augen ein Amt angetreten, das ihm für wenige Tage behaglichen Wanderns bei guter Verpflegung mehr Gewinn verhieß, als er in einer Woche zu verdienen im Stande war mit dem Abmähen herrenloser, aber auch halsbrechend unzugänglicher Grasplätzchen, so schwer geworden war ihm dennoch das erste Willensopfer der übernommenen Gehorsamspflicht. Wie reiner Unverstand war es ihm vorgekommen, daß dieser deutsche Herr gleich oberhalb Näfels die Chaussee zu verlassen gewünscht. Er hatte Einwendungen gemacht, die Schwierigkeit der seitlichen Pfade geschildert, erwähnt, daß sie nicht selten gefährdet würden durch Rollgestein vom Wiggis, und sich nicht ohne Murren erst gefügt, als Ulrich mit einiger Entschiedenheit auf seinem Verlangen bestanden. Um seinen Verdruß zu beschwichtigen, hatte ihm Sebald begreiflich zu machen versucht, daß ihm weniger am Ankommen, als am Wandern gelegen sei. Er suche nicht Bequemlichkeit, sondern gerade Anstrengung; am liebsten würde er eine völlig pfadlose Bergwildniß durchklettern, wo kein Menschenwerk ihn abzöge von der Vertiefung in die Natur.

Dafür aber schien der praktische Schweizer wenig Verständniß zu haben. Sein Gesicht blieb immer noch etwas schmollend verzogen. Erst ein Fingerzeig Ulrichs auf die sehr neu aussehenden Trauerflore um seinen Hut und linken Arm erklärte dem Führer die Stimmung seines Dienstgebers. Nun war er versöhnt mit der Zumuthung überflüssiger Strapazen. »Wie man doch,« sagte er, einen Moment stehen bleibend, »mit sehenden Augen dummblind sein kann!« Dabei schaute er mit einem Ausdruck so treuherzigen Mitgefühls in Sebald's Gesicht, daß dieser sich bewogen fühlte, es nicht bewenden zu lassen bei jenem Fingerzeig, sondern ihm zu sagen, wer er sei und daß er vor wenigen Wochen seine Frau nach kaum einjähriger Ehe begraben. Er wolle jetzt in einem möglichst einsamen Winkel der Alpen Beruhigung suchen für sein erschüttertes Gemüth und Kräftigung seiner durch den Schmerz und lange Nachtwachen angegriffenen Gesundheit.

Daraufhin aber hatte sich Heiri verpflichtet gefühlt, zur Zerstreuung Ulrich's mehr zu thun, als diesem erwünscht war. Nach der Seite und etwas rückwärts ausbiegend, hatte er ihn hingeführt zu den elf Steinen, die zum Andenken an die Freiheitsschlacht bei Näfels auf der Stätte der blutigsten Entscheidung von den Siegern in die Erde gepflanzt und jeder mit der eingemeißelten Jahreszahl 1388 und einem Kreuz darunter bezeichnet sind. Er hatte die Schlacht lebendig zu schildern und zu veranschaulichen gewußt durch Hinweise auf die vor Augen liegende Walstatt. Gleichwohl war es Ulrich nur mit Anstrengung gelungen, aufzumerken, um den wenig geschulten, aber von Natur begabten jungen Mann durch kein Zeichen der Zerstreuung zu kränken, während er mit leuchtenden Augen von dieser wichtigsten Begebenheit seines Ländchens erzählte.

Als aber Heiri beim Weiterwandern überging zur ausführlichen Beschreibung des jährlichen Gedenkfestes, der »Näfelser Fahrt«, da war Ulrich bald nicht mehr im Stande, den gehörten Worten den Weg vom Ohr zum Bewußtsein offen zu halten. Seine Gedanken flogen zurück nach dem Sterbelager im alten Hause neben der Sebalduskirche.

Er hatte schon gespürt, daß seine Hoffnung, in den Alpen lindernden Balsam zu finden, nicht ganz getäuscht werden würde. Er fühlte sich wirklich erleichtert, indem er diese Bergwelt in sich hineinscheinen ließ. Bei der Betrachtung einer ihm bisher unbekannten Blume, eines grotesk geformten Felsblockes, einer merkwürdigen, an senkrechtem Absturz bloßgelegten Schichtenbildung, oder einer im Gestein eingebackenen Muschel aus längst vergangenen Erdepochen, sah er die Erinnerung an die durchlebten Trauerszenen wenigstens für Augenblicke wie hinter einem Schleier verdämmern.

Nun aber, da Menschenrede mit der Forderung, Acht zu geben und zu denken, an sein Ohr schlug, war sie zwar stark genug, ihn abzuziehen von der Hingabe an das bloße Schauen, aber selten geeignet, ihn mit ihrem Inhalt zu fesseln. Für die breite Festschilderung blieb er wie schlaftaub. Bis ganz zuletzt übte kein Satz hinlänglichen Reiz, um für die vernommenen Worte ihre Uebersetzung in Vorstellungen zu erzwingen. Wachgerufen war er, aber nur wach für die grell aufleuchtenden, traurigen Bilder der jüngsten Vergangenheit, feinhörig wieder geworden, ach, nur allzu feinhörig, aber nicht nach draußen, sondern für die Stimme des Gewissens, die nicht ablassen wollte, ernste Vorwürfe zu verbinden mit den Erinnerungen an seine kurze Ehe, wie sehr auch sein Verstand sich abmühte mit Einwendungen gegen diese Selbstquälerei.

Denn er durfte sich zwar das Zeugniß geben, seine arme Cölestine treulich gepflegt und sich redlichst, ja peinlichst bemüht zu haben, ihr seine Liebe zu beweisen. Auch daran ließen ihn ihre letzten innigen Dankesworte nicht zweifeln, daß sie bis in den Tod fest geglaubt an seine Liebe. Sich selbst aber vermochte er nimmer vorzulügen, daß seine aufopfernde Zärtlichkeit aus Pflichtgefühl und Mitleid echte Liebe gewesen sei.

Als Student schon hatte er sich mit der Professorentochter verlobt, nach einer mit ihr durchschwärmten Ballnacht, zu jähem Erschrecken seines jüngern Bruders Arnulf, der mit ihm zugleich, aber nicht Theologie, sondern die Naturwissenschaften studirte.

»Für einen Mann von Deiner Hünengestalt,« – so hatte damals die nüchtern harte Warnung Arnulf's gelautet – »ist sie zu klein, zu zart und schwächlich gebaut, obendrein aber Dir auch geistig durchaus nicht ebenbürtig. Die freiere theologische Richtung, zu welcher Du bereits auf dem Wege bist, wird bei dieser mäßig begabten und auf ihren bigotten Vater schwörenden Cölestine weder Verständniß noch Billigung finden. Brich lieber ein voreiliges Verlöbniß, als ihre Gesundheit, wohl gar ihr Leben, sicherlich aber ihr Glück und das Deinige.«

Nur zu bald war sein Rausch verflogen und ihm die Einsicht aufgegangen, daß Arnulf Recht gehabt. Dennoch hatte er sich nicht entschließen können, ihr treulos zu werden, sondern das vom Bruder nur allzu richtig vorausgesagte, auch geistige Martyrium tapfer auf sich genommen. Denn den Schmerz, ihren sonst so musterhaft liebreichen Gatten für einen nach ihren Begriffen amtswidrig Ungläubigen halten zu müssen, hatte die kleine Frau niemals ganz zu verwinden vermocht. Nun war sie wirklich, wie er vermuthen mußte, an ihm, an der Größe ihres todtgeborenen Kindes gestorben. So unbedingtes Lob er auch jetzt noch zu verdienen glaubte für das schwere, der Pflicht der Treue gebrachte Opfer und selbst für die bis zuletzt gelungene Liebesheuchelei – von der Schuld an ihrem Tode konnte er sich dennoch nicht freisprechen. Das Bewußtsein, mit heldenmüthiger Selbstüberwindung sein Manneswort redlich gehalten zu haben, brachte gleichwohl den Vorwurf nicht zum Schweigen, daß er, taub gegen die Warnung des Bruders, herbeigeführt, was der geweissagt. Denn würde nicht Cölestine eine zeitige Lösung der voreiligen Brautschaft doch wohl verschmerzt haben und jetzt vielleicht mit einem andern Gatten noch ein langes Leben vor sich sehen?

Vertieft in dies schmerzliche Gegrübel hörte Sebald die eifrige Rede seines Begleiters nur wie das bedeutungslose Rauschen eines Wasserfalls. Auch würde er seine Geistesabwesenheit wohl irgendwie verrathen haben, wenn nicht eben jetzt der junge Glarner etwas erwähnt, was ihn achtsam aufhorchen machte; denn es schlug ein in ein Thema, welches ihn als lutherischen Geistlichen oft beschäftigte.

Hein hatte erzählt vom »Fahrtsbrief«, in welchem die Sieger von Näfels, nachdem sie am ersten Jahrestage der Schlacht jene Denksteine gesetzt, in schlichten Worten aufgeschrieben, wie es zum Kampfe gekommen, wie man ihn gewonnen mit eigener Kraft und der Hülfe Gottes. Aus diesem Fahrtsbriefe, fuhr er fort, sei in das »Landbuch« die Festsetzung aufgenommen, daß im April »albig am nünte us jedem Hus das fürnehmst und ehrbarst Glied gu Näfels zihg sul«, an die Stätte der größten Schlachtnoth, Sankt Fridolin, Sankt Hilari und allen Himmlischen zu Ehren. Demgemäß steige nun alljährlich von Glarus herab eine Prozession, an der Jeder theilnehme, der irgend abkönne, ohne Unterschied des Standes, Alters, Geschlechts und Glaubensbekenntnisses, mit den Kirchenfahnen, den Bannern der Zünfte und Genossenschaften, in der Mitte die »güldene Truggen« mit den Schlachtstandarten, dem Fahrts- und dem Bundesbrief, an der Spitze die Behörden und die Geistlichen beider Konfessionen.

Die durch diese Schilderung bezeugte Verträglichkeit der Katholiken und Reformirten und sogar ihrer Geistlichen war es, was Ulrich sogleich zur Aufmerksamkeit weckte.

»Das ist ja schön,« bemerkte er, »daß ihr wenigstens beim vaterländischen Fest den Religionsfrieden haltet.«

»O, nicht bloß beim Fest!« antwortete Heiri sehr eifrig. »Was ich Euch weiter unten erzählt, das scheint Euch eine falsche Meinung von uns beigebracht zu haben. Gegenüber dem weißen Kapuzinerkloster, das man die Marienburg heißt, weil es gebaut ist auf der Stätte der vor fünfhundert Jahren zerstörten Vögteburg, zeigt' ich Euch, oberhalb Mollis, das Tschudihaus und sagt' Euch, daß man es den Teufelsstein benamst hat, weil es von einem Reformirten errichtet worden. Wohl deßwegen vermuthet Ihr, daß hier zu Lande die Zwingli'schen und die Päpstlichen einander immer noch aufsätzig seien. Nein, so dumm sind wir nimmer. Unsere Pfäfflein wissen's, daß wir Glarner kein Gestänker dulden, und halten auch gute Kameradschaft wie wir selbst. Im Dom zu Glarus, wo doch der Zwingli selbst sein Werk angefangen hat, da feiern jetzt Katholiken und Reformirte abwechselnd ihren Gottesdienst und wissen nichts von Hader noch Abgunst. Fast überall in unserem Kanton, stehen die Kirchen beider Bekenntnisse friedlich nahe neben einander. Könnet Euch bald selbst davon überzeugen in dem Oertchen da vor uns. Das ist Netstall. Wohnen fleißige Leute drin; sind nicht allzu reich und müssen sich wacker plagen, haben aber doch unweit der uralten katholischen Kirche noch eine größere reformirte gebaut vor etlichen dreißig Jahren. Da müssen wir hindurch; denn wohin Ihr wollt, nach dem Klönthal und dem Glärnisch, gibt's keinen andern Weg.

Seht Ihr dort unter der Flue des Schilt den Bach in die Linth fallen? Das ist der wilde Löntsch. Hier sieht er schon ziemlich zahm aus und dreht den Netstallern geduldig ihre Fabrikturbinen. Werdet's aber bald merken, daß er seinem Namen Ehre macht. Ihm entlang, rechts hinter Netstall, windet sich der Fahrweg empor, auf dem wir in's Klönthal wandern werden. Nun aber hinunter auf die Landstraße. Der Abfall des Wiggis wird immer schroffer. Dicht über dem Oertchen erhebt er sich fast mauersteil an die dreitausend Fuß und schon hier hat es auch mit den Gaispfaden ein Ende.«

Nach Netstall hineingelangt, wünschte Ulrich die recht sauber gehaltene, aber überaus schmucklos gebaute reformirte Kirche auch im Innern zu besichtigen. Sie war aber verschlossen.

Während er vor der Thür auf den Küster wartete, den Heiri holen gegangen, sah er einen Herrn und an seinem Arm eine Dame in schwarzem Anzug nach der benachbarten wenig mehr als halb so großen, aber offenbar viele Jahrhunderte ältern katholischen Kirche vorüberschreiten. Der Herr trug auch einen Trauerflor um den Hut. Seine Haltung und hohe Gestalt erinnerten Ulrich ein wenig an seinen verstorbenen Vater, die Gesichtsbildung des Fremden aber, als er näher kam, noch weit entschiedener an das Sakristeibild seines Urgroßvaters Dietleib Sebald. Die Züge der schlanken, die mittlere Frauengröße auch beträchtlich überragenden Dame entzog ihm ein schwarzer Schleier. Das Paar trat in die Kirche, wie es schien, ohne ihn bemerkt zu haben.

Bald darauf erschien Heiri und berichtete achselzuckend, der Küster und seine Frau seien nach Aussage ihres Töchterchens auf einer Hochmatte des Wiggis zum Heumachen, der Prediger auf einer Fußreise, der Kirchenschlüssel nicht zu erlangen.

– »Uebrigens, lieber Herr,« fügte er hinzu, »verliert Ihr dabei nichts. Die grell weiß getünchte Kirche mit ihren Bänken von Tannenholz und dem glatten Eichentisch anstatt des Altars sieht sehr sauber aus, aber auch kümmerlich leer und nüchtern. Der Wiederhall ist so stark, daß immer ein Wort das andere zudeckt und man von der Predigt desto weniger versteht, je lauter der Pfarrer spricht. Die hohen Fenster mit ihren immer sauber gewaschenen Glasscheiben machen's zwischen den jährlich frisch überkalkten kahlen Wänden ohne Bilder, Gedächtnißtafeln und Familienandenken so zudringlich hell, daß Einem die inwendigen Augen davon blind werden und im Gemüth nichts aufkommen kann von dem ehrfürchtigen, geheimnißvollen Erbangen, wie's ein Christenmensch doch 'mal fühlen will, wann er mit seinem Herrgott zu reden hat. Nicht 'mal Schemel zum Knieen hat man drin leiden wollen. Seht, Herr, ich bin selbst zwingli'sch. Mein Großvater ist übergetreten. Im Glärnisch beim Helfen von einer Lawin überschüttet, hatte sich die Großmutter erkältet und ein ganz verschwollenes lahmes Bein bekommen. Da ließ sie sich ein ähnliches kleines Beinchen von Wachs bosseln, fuhr damit nach Einsiedeln, und ließ sich vom Großvater, da sie nicht gehen konnte, auf dem Rücken in die Wallfahrtskirche tragen, um es da eigenhändig aufzuhängen und das wunderthätige Marienbild anzuflehen um Heilung ihres Gebrestes. Für das Wachsbein, den Wagen zur Hin- und Rückfahrt und das dem steinreichen Kloster geopferte Goldstück war mehr als der halbe Ertrag der Heuernte draufgegangen, so daß der Großvater sich etliche Jahre zu plagen hatte, um das geborgte Geld allmälig abzuzahlen. Geschwulst und Lähmung aber wurden noch viel ärger. Hernach hat der damalige reformirte Prediger, ein kluger Herr, sie mit Schwitzbädern, Kräutertrank und Salben in vier Wochen gesund kurirt, und da wurden sie zwingli'sch. Ist ihnen und hernach ihren Kindern und uns Enkeln auch sehr gut bekommen. Weniger Feiertage, mehr Arbeit, mehr Verdienst. Dennoch, Herr, geh' ich lieber in die katholische Kirche, wann ich was auf dem Herzen habe und still für mich beten will, und das versäum' ich nie, wenn ich auf dem Weg zu meiner gefährlichen Arbeit im Glärnisch hier durchkomme. In der halbdunkeln Wölbung, beim Schein der Altarkerzen und des ewigen Lämpchens, vor den alterschwarzen Bildern, den Weihgeschenken und Familienreliquien von fast tausend Jahren, besonders wenn die Orgel spielt und aus den Rauchschwingeln duftiger Nebel aufquillt, überkommt mich ein heiliges Gruseln, und das hilft mir zur Andacht. Was mich aber noch besonders hineinlockt, das ist die an einem Pfeiler aufgehängte, dick überrostete Sensenklinge meines Urgroßvaters.«

»Welche Bewandniß hat es mit der?« fragte Ulrich.

»Mein Urgroßvater, Ruodi Sterzing – auch ich heiße Sterzing mit Vatersnamen, aber die Leute nennen mich nie anders, als den Heiri von Mollis – war auch Wildheuer. Vor jetzt neunundsiebenzig Jahren und einem Monat, am Sankt Vitustag, hatte ihn ein Sennbub zuletzt gesehen, wie er in schwindelnder Höhe am Reiseltstock, am Seil hängend, mähte. Dem hatte er noch einen Gruß herunter gejodelt. Seitdem war er spurlos verschollen. Als hoher Siebenziger fand derselbe Sennbub im Geröll vor dem weit zurückgegangenen Gletscher eine Sensenklinge. Als er von ihrem Rücken, dicht am Zapfen, wo wir Wildheuer unser Zeichen einstempeln lassen, den Rost abschliff, waren da die Buchstaben R. S. noch deutlich zu erkennen. Wo des verstürzten Ruodi Gebein verwittern mag, das weiß nur Gott im Himmel. Die Sensenklinge ließ mein Vater in der katholischen Kirche aufhängen, da sie das in der reformirten nicht leiden wollten. Auf dem Schemel vor dem Pfeiler, an dem sie mit einem Inschrifttäfelchen darunter festgemacht ist, geht mir das Beten am besten vom Herzen. Kommt mit, lieber Herr. Kann mir denken, daß in Eurer Betrübniß auch Ihr Zwiesprach halten wollt mit Dem dort oben. Wenn Ihr auch lutherisch seid und sogar selbst Pastor, glaubt's mir, die Muttergottes und die Heiligen werden Euch nicht stören in Eurer Andacht.«


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