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Elftes Kapitel.

Der Blaps.

 

Aus unbedeutendem Gebrest
Erbrütet sich die Herzenspest,
Den Grimm verletzter Eitelkeit,
Den Haß, die Rachsucht und den Neid,
Wer nicht mit Gleichmuth und Geduld
Verstummen macht die bösen Zungen.
Zuletzt verfällt er, wuthbezwungen,
Dem Untergang durch schwere Schuld.

 

Im Pfarrhause an der Sebalduskirche liest man auf der Thür zur rechten Seite des Hausflurs die Aufschrift: »Kirchenbuchführung«. Eingetreten befindet man sich in einem nicht viel über sieben Fuß hohen und etwa zehn Fuß breiten Gemach. Es ist eigentlich nur halbfensterig, da man die offenbar später eingeschaltete Wand, die es vom anstoßenden Zimmer scheidet, so gezogen hat, daß sie die steinerne Mittelrippe des gothischen Doppelfensters fortsetzt. Noch mehr verengt ist es durch Schränke, welche an der Scheidewand bis zur Decke hinaufreichen. Nur der schmälste derselben, ein die Zwischenthür um etliche Zoll überragender von Eisen, bestimmt für die ältesten, früher in einem Thurmgemach bewahrten Urkunden und für die Geheimakten, ist verschlossen, und nicht nur das innere Riegelwerk mit gesperrtem Schlüsselloch, sondern obendrein ein altmodisches, plumpes Vorhängeschloß macht ihn hoffnungslos unzugänglich für jeden Unbefugten. In den offenen Brettfächern der übrigen reihen sich Folianten in braunem Lederbande, die Register der Geburten, Todesfälle, Heirathen, Einsegnungen und Beichtgänge während mehr als viertehalb Jahrhunderten. Auf dem Rücken oben sind die älteren lateinisch, die jüngeren seit etwa fünfzig Jahren deutsch nach ihrem Inhalt, unten mit den Zahlen der enthaltenen Jahrgänge bezeichnet. Von den ältesten, kaum zwei Finger starken nehmen sie mit der Annäherung an die Gegenwart an Dicke stetig zu bis zum vorletzten Jahrzehnt, während die in ihnen beurkundeten Zeiträume immer kürzer werden. Seitdem haben dies Wachsthum und diese Verkürzung nur die Tauf- und besonders die Konfirmandenregister fortgesetzt. Die anderen sind sich theils gleich geblieben, theils schlanker und doch zugleich längere Epochen umfassend geworden, wie namentlich das Kommunionsbuch.

Unweit des Fensters steht ein Schreibpult mit einem Reitstuhl davor.

Das anstoßende, dreimal so breite und anderthalbfensterige Gemach, von dem man einen Theil durch die ausgehobene Thür überschaut, war ehedem ausreichend gewesen, die mäßige Zahl der alljährlich einzusegnenden Kinder während des Winters darin zu unterrichten. Davon hieß es noch immer die Konfirmandenstube. Seitdem man aber zu diesem Zweck einen geräumigen Saal in der Nachbarschaft gemiethet, hatte man die Bänke hinausgeschafft und es theils für die sonstige Kirchenregistratur, theils mit einem Sopha und etlichen Stühlen zum Wartezimmer eingerichtet.

Am Pult des vorderen Zimmers ist Herr Spitzer, der Küster, beschäftigt, anscheinend mit Auszügen aus einem noch ziemlich neu aussehenden Kirchenbuch, in Wahrheit mit Entzifferung und Abschreiben sehr fein und eng mit Bleistift bekritzelter Sedezblättchen. Immer nur eines derselben hat er liegen in dem aufgeschlagenen Folianten. Um es zu verbergen, braucht er nur eine Seite umzuwenden. Ebenso hält er die zu beschreibenden Quartblätter versteckbereit in dem liniirten, ungebundenen Folioheft, in dem er die Eintragungen des Kirchenbuchs zu kopiren vorgibt, ab und zu auch wirklich kopirt, um erforderlichen Falles doch einigen Fortschritt seiner Arbeit vorweisen zu können. Wann er mit einem Sedezblättchen Bleischrift fertig ist und jedesmal mehrere Quartblätter mit dem Inhalt gefüllt hat, thut er es fort in die rechte Brusttasche und zieht ein anderes aus der linken.

An der Wand über seinem Pult hängt ein altes, verblecktes Daguerreotyp. Die darauf eben noch erkennbare Andeutung eines Porträts genügt gerade, mit dem Schein, einer Erinnerung zu dienen, die eigentliche Bestimmung der spiegelnden Metallplatte zu maskiren. Sie erlaubt dem Küster, sich mit einem Aufblick vom Papier zu versichern, daß ihn aus der offenen Thür und dem durch sie übersehbaren Theil der Konfirmandenstube kein Späher von rückwärts her beobachte. Auch schreibt er keine zwei Zeilen, ohne diesen Aufblick zu wiederholen; denn so sehr er sich auch verlassen darf auf die erstaunliche Feinheit eines anderen Organs, seiner Ohren, denen sich der behutsamste Leisetreter, und wenn er auf Sammetsohlen schliche, unfehlbar schon auf zehn Schritte hinter ihm verrathen würde –: die Verstärkung ihrer Wache durch die der Augen scheint ihm keine überflüssige Vorsicht. Seine Arbeit nimmt das Gedächtniß stark in Anspruch, noch mehr seine nur mäßige Uebung im deutschen Stil. Nicht ganz ungerechtfertigt ist also die Besorgniß, daß ihm bei dieser geistigen Anspannung ein Warnlaut doch entgehen könne.

Eben hat er eines der Sedezblättchen halb übersetzt, als er auf eine Schwierigkeit der Entzifferung stößt. Bei der schnellen Aufzeichnung sind da etliche Worte ausgelassen worden. Nachdem er sich eine Weile vergebens bemüht, das Fehlende aus der Erinnerung zu ergänzen, schiebt er, des weiteren Nachsinnens müde, die Bleischrift beiseite, schlägt ein Blatt des Registers um und schickt sich an, zur Abwechslung und Erholung die Kopie des Taufregisters fortzusetzen.

Doch schon beim ersten oberflächlichen Hinschauen auf die jetzt an die Reihe kommende Eintragung fällt ihm ein grober Widerspruch in die Augen. In der Kolumne für die Angabe des Geschlechts liest er »Tochter«; auch ist das Kind in der Zählspalte der weiblichen Geburten des Jahres numerirt. In der breitesten Rubrik dagegen, der für die Taufnamen, steht, von derselben Hand, wenn auch mit anderer Feder und, dem Taufdatum nach, über ein halbes Jahr später geschrieben, der Mannsname Lothar.

Ueber der Freude, eine unverzeihlich grobe Nachlässigkeit des ihm vorgezogenen Domsekretärs beweisen zu können, gönnt er sich keine Zeit, den sonstigen Inhalt dieser Eintragung zu beachten, geschweige denn die nächstfolgende zu lesen. Ja, in der Hast seines hämischen Vergnügens wird er es nicht einmal gewahr, daß ihm das letzte Bleistiftblättchen aus dem Folianten heraus und in den schmalen Raum zwischen Pult und Fensterwand hinuntergeglitten ist. Eiligst verschließt er die fertigen Quartblätter und geht mit dem aufgeschlagenen Kirchenbuch schadenfroh triumphirend in die Konfirmandenstube.

Bevor wir ihn dahin begleiten, mögen einige Striche zur Zeichnung seiner Person und seines Charakters die kleine, aber nicht unwichtige Rolle dieses Mannes verständlich machen.

Wie dem Spechte der hammerstarke Bohrschnabel und die Kletterfüße sein Waldamt unausweichlich vorbestimmen; wie die Eigenart der meisten Thiere beruht auf der Bildung eines Gliedes oder Gliedtheiles, das auf Kosten der anderen bevorzugt ist mit Ueberwuchs: so hatte der Charakter Spitzer's die Ausprägung, sein Lebenslauf die unabwendliche Richtung empfangen von einem seiner Organe. Er trug sein führendes Schicksal am Kopf in seinen übermäßig großen und wunderlich gebildeten Ohren. Weit eigentlicher als andere verdienten sie die Benennung Muscheln. Das Läppchen fehlte ganz, beinahe ganz, wenigstens oben, der umgefalzte Saumwulst. Scharfkantig auslaufend wie Messerschneiden, vom Gehörgang bis zum Rande flach gewölbt, fast ohne Andeutung der Spiralfurchen, sahen sie in der That zwei länglichen Flußmuschelhälften sehr ähnlich. Noch vollständiger machte die Vergleichbarkeit ein fettiges Blinken der straffgespannten röthlichen Innenhaut, indem es an Perlmutterglanz wenigstens erinnerte. Henkelartig abstehend, gaben sie seinem Kopf mit dem breiten Gesicht etwas widerwärtig Thierisches.

Für die erstmalige Wahrnehmung geradezu schreckhaft, dann aber lächerlich verstärkt wurde dieser Eindruck durch ihre Beweglichkeit. Denn erheblichen Spieles fähig geblieben waren unter der Kopfhaut Spitzer's jene Muskeln, welche zwar noch jetzt jeder Mensch von seinen Vorfahren ererbt, aber meistens nur als nutzlose Rudimente, weil ihr Gebrauch verlernt ward und zuletzt verloren ging, seit im Kulturstaat Nachtwächter, Gensdarm und Schutzmann den Sicherheitsdienst übernommen, den weiland in der Wildniß zur Erhaltung des Daseins durch Warnung vor Gefahr die eigenen Sinne des Einzelnen besorgen mußten. Er vermochte die Ohrmuscheln sowohl anziehend etwas flacher zu stellen, als tiefer gewölbt vorzubiegen. Dann hörten sie, dem Eigner ohnehin ihre Häßlichkeit mit bewundernswürdig feiner Lauschkraft vergütend, noch etwas schärfer. Leider aber war es ihm auch so gut wie unmöglich, das zu unterlassen, sobald irgend etwas ihn erregte, Erwartung, Neugier oder ein überraschender Sinneseindruck, auch wenn derselbe mit dem Gehör gar nichts zu schaffen hatte. Davon hatte sich einst in Gegenwart des Pastor Sebald dessen Arzt, Doktor Mannheimer, experimentirend überzeugt, indem er ihm unvermuthet den scharfen Duft seines Riechfläschchens in die Nase strömen ließ, worauf sofort ein kräftiges Zucken der Lauscher eingetreten war.

Seit seiner Kindheit hatte ihm deren instinktive Selbständigkeit häufigen Aerger bereitet und so sehr wesentlich beigetragen, ihn zum boshaften Heimtücker auszubilden. Mehr und mehr hatte er sich zurückgezogen in ein mürrisches Einsiedlerleben, weil schon seine Schulkameraden und später seine Bierhausgenossen sich oft den verabredeten Spaß gemacht, ihn unversehens zu erzürnen oder zu erschrecken, um dann in ein wieherndes Gelächter auszubrechen über sein unfehlbares »Löffelspiel«. Witze darüber machten ihn wüthend, bis er allmälig seinen Ingrimm verbeißen lernte, um sich bei geduldig abgewarteter und ausgespürter Gelegenheit desto empfindlicher zu rächen durch eine hinterlistige Schädigung des Beleidigers.

Selbst den Schiffbruch, den er auf seiner Lebensfahrt erlitten und aus dem er sich mühsam gerettet auf das wenig ehrenvolle und beim Gedanken an die weiland gehoffte Herrenstellung täglich verwünschte Küsteramt, verschuldete der auf ihm ruhende Schicksalsfluch dieser unfreiwilligen Ohrenkomik.

Er war ein verunglückter Theolog. Sein Vater und Vorgänger im Küsteramt hatte ihn das Gymnasium besuchen lassen. Schon wegen seines Vornamens Nepomuk, dessen Wahl er seinen Eltern nie verzeihen gekonnt, ward er da das Stichblatt seiner Mitschüler. Erst beim zweiten Versuch gelang es ihm, das Abiturientenexamen nothdürftig zu bestehen. Sowohl den ersten Durchfall als die endlich erlangte geringe Censur »ziemlich genügend« schrieb der überaus fleißige, aber sehr mittelmäßig begabte junge Mann der feindlichen Gesinnung der Lehrer zu, dies Mißwollen aber wieder seinen Ohren, womit er nicht ganz Unrecht hatte. Denn wie seinen Mitschülern war er auch den Lehrern als eine heimtückische Natur verhaßt geworden, und einen wesentlichen Antheil wenigstens an der Entwicklung seiner Tücke hatten unfraglich seine allverhöhnten Kopfhenkel.

Er bezog nicht die Odenburger, sondern eine der kleinsten Universitäten in beträchtlicher Entfernung von der Vaterstadt, weil er da wohlfeiler zu studiren, vor Allem aber keinen seiner Schulkameraden zu treffen und so vor der Fortsetzung ihres Spottes gesichert zu sein hoffte. Aber auch dort ward er bald die Zielscheibe desselben erboßenden Gehänsels. Schon im zweiten Semester ereilte ihn sein Verhängniß.

Auf einem Kommers erlaubte sich ein stark angeheiterter Studiengenosse einen schnöden Scherz zur Erklärung der beweglichen und riesigen Ohren des Kommilitonen Nepomuk Spitzer: aus einer Meßmenagerie sei eine Hyäne ausgebrochen, und an der habe seine Mutter sich versehen. Kreidebleich vor Wuth griff Spitzer schon nach seinem Taschenmesser. Doch seine Feigheit hielt seinem Ingrimm die Wage und rieth ihm, lieber auf eine Gelegenheit zu gründlichster Rache zu lauern. Eine Stunde später sah er, vermuthlich selbst nicht mehr völlig nüchtern, den Beleidiger in einem Nebenzimmer, der sogenannten Todtenkammer, bewußtlos trunken mir herunterhängendem Kopf auf einer Bank liegen. Flugs nahm er die Kerze vom Tisch und sengte dem Schnarchenden beinahe den ganzen Kopf kahl von den lang niederwallenden Haaren, bis der an mehreren Stellen der Schädelhaut gefährlich Verbrannte aufwachte und auf sein Schmerzgebrüll andere Studenten hereinstürmten. Von diesen auf der That ertappt, ward Spitzer so lahm geprügelt hinausgeworfen, daß er Noth hatte, sich nach Hause zu schleppen. Sein geschändetes Opfer schwebte wochenlang in Lebensgefahr durch eine Hirnentzündung. Ihn aber traf dreimonatliche verschärfte Careerstrafe und infamirende Relegation unter Mittheilung des Urtheils und seiner Gründe an sämmtliche deutsche Universitäten, womit ihm die Wiedererlangung des akademischen Bürgerrechtes überall und für immer abgeschnitten war.

Er mußte zurückkehren in's Elternhaus. Als Abschreiber und später, nachdem er stenographiren gelernt, als Lokalreporter der Zeitungen über Gerichtsverhandlungen und öffentliche Versammlungen erwarb er einigen Zuschuß zu den Kosten des Haushalts, half auch Sonntags die Balge treten und, als nach einer Reihe von Jahren sein Vater fußschwach geworden war, mit dem Klingsäckel die Gottespfennige einsammeln. Durch Fleiß und vorwurfsfreie Aufführung, namentlich durch die musterhafte Nüchternheit, die seit dem verhängnißvollen Kommers sein unverbrüchliches Gesetz geworden, war es ihm allmälig gelungen, jene Schandthat so ziemlich in Vergessenheit zu bringen. Dennoch hatten ihm nur die unermüdlichen Bittgänge seiner Mutter, und nicht ohne Schwierigkeit, die Nachfolge im Küsteramt auszuwirken vermocht, als sein Vater gestorben war.

Schon gegen Ulrich's Vater, in dessen letzten Amtsjahren er seinen Dienst angetreten, hatte ihn die wiederholte, aber vergebliche Ermahnung, sich das lächerliche, in der Kirche störende Ohrenzucken abzugewöhnen, tief erbittert. Vollends verhaßt war ihm der Sohn, der ihm den Spitznamen »Klingbeutelhase« angehängt, weil er beim Einsammeln der Gottespfennige aus dem Fallton Metall und Größe der Münze zu erhorchen trachtete und dabei mit aller Willenskraft nicht im Stande war, seine Ohren still zu halten. Solche Anspielungen hatte Ulrich wiederholt auch seit er seines Vaters Nachfolger geworden, und sie erst vermieden, seit ihn der Küster mit wildem Wuthausbruch und nicht ganz ohne Grund beschuldigt, das schon erwähnte und bei seinem Gelingen mit empörendem Lachduett begrüßte Experiment des Arztes veranlaßt zu haben. Er that, als ob er die Gehörtriller gar nicht mehr bemerke, aber nur um sie desto schärfer zu beobachten als untrügliches Zeichen der Stimmung des verschmitzten Spürers, dessen feindliche Gesinnung ihm längst unzweifelhaft geworden war.

Vollends unbezähmbar wurde des Küsters Erbitterung, als der vorige Domsekretarius und Kirchenkassenrendant einen Posten im Standesamt annahm und Spitzer sich um die erledigte Stelle bewarb, die zwar etwas weniger eintrug als jetzt die Küsterei, ihm aber ehrenvoller dünkte. Doch Ulrich weigerte sich, seine Bewerbung zu befürworten. Er solle bleiben was er sei, aber eigentlich nicht hätte werden dürfen. Mit einem Beförderungsgesuch würde sich der Küster nur einen Bescheid für den einst relegirten Studenten erzwingen. So war denn das bequemere und ansehnlichere Amt dem bisherigen Konservator und Kassirer des naturhistorischen Museums, Herrn Mottwitz, zugefallen, und nach Spitzer's Ueberzeugung lediglich zum Lohne dafür, daß dieser namhafte Entomolog den gegenwärtigen Pfarrer und seinen Bruder Arnulf während ihrer Schulzeit in der Naturgeschichte unterrichtet und oft auf seine Sammelexkursionen mitgenommen hatte.

Seitdem hatte sich Spitzer's Groll und Neid auf den weit jüngeren Hauptpastor, statt dessen, ohne die Tücke des ihn verfolgenden Schicksals, vielleicht er selbst auf der Kanzel stehen könnte, zu schadenbrütendem und bis zur Selbstvergessenheit leidenschaftlichem Haß gesteigert. Mehr als die Hälfte seiner Einnahmen verdankte er der durch Ulrich's Beliebtheit gegen früher mehr als verdoppelten Zahl der Taufen, Trauungen und Konfirmationen, zumal der allsonntäglichen Ueberfüllung der Sebalduskirche, welche ihm für reservirte Sitze ansehnliche Geschenke abwarf. Aber ob ihn nun seine Rachsucht oder ein vorgespiegelter Ersatz blind machte – er sann längst auf Mittel, den Pastor womöglich um sein Amt zu bringen. Ein solches hatte er frühzeitig gewittert und vorbereitet, aber erst jüngst, aus der Ermuthigung seitens eines Andern, einige Zuversicht geschöpft, daß und wie es sich werde in Anwendung bringen lassen, nachdem all' sein Lauern auf irgend eine arge Standeswidrigkeit im Leben seines Vorgesetzten bisher fruchtlos geblieben war.

In der Nebenstube, in der Nähe des Fensters an großem eichenem Schreibtisch, fand er auch Herrn Mottwitz beschäftigt mit einer seinem Amt völlig fremden Arbeit, ihn aber ohne Hehl und Erheuchelung einer wenigstens daneben betriebenen Berufsthätigkeit.

Aus einem weithalsigen Fläschchen mit Spiritus hob er, bald mit feiner Pinzette, bald mit einem Pinsel, Käfer behutsam heraus, meistens recht winzige. Auf einem Blatt weißen Fließpapieres ließ er sie trocken dunsten und legte sie dann in dem aufgeschlagenen Käferbuch dicht neben die farbigen Porträts ihrer vermuthlichen Speziesgenossen, um sie mit denselben durch eine Lupe sorgfältig zu vergleichen. Wann er der Bestimmung sicher war, schrieb er mit karmoisinrother Tinte aus einer fein wie ein Wespenstachel zugespitzten Rabenfeder ihren lateinischen Namen auf ein Spänchen Papier, einen Centimeter lang und drei Millimeter breit, spießte, mit der Geschicklichkeit eines Juweliers beim Fassen sandkorngroßer Diamantsplitter, erst das Insekt, dann sein Etikettchen auf eine haardünne Nadel und steckte es fest im Korkparquet des »Wartezimmers«. So nannte er den Kasten mit gläsernem Schiebdeckel, in dem er die Beute seiner Jagden vorläufig unterbrachte, bis er Muße fand, jedem Käfer in seiner großen Sammlung den Platz zwischen den zweien ihm nächstähnlichen anzuweisen. Denn er strebte nach einer Aufstellung der gesammten Käferschaft, welche die weitest verschiedenen Gestalten durch eine lange Reihe von Zwischenformen von möglichst allmäliger Abstufung zu einem in sich zurückkehrenden Kreise verbände.

Mit seinen wenig umfangreichen Amtsgeschäften pflegte der schnell arbeitende Domsekretär bald fertig zu sein. So war es dem Küster nichts Neues, ihn die üblichen Dienststunden mit Lesen und Ausziehen mitgebrachter Bücher und andern »Allotrien« ausfüllen zu sehen. Auch war es ihm nicht unbekannt geblieben, daß Mottwitz seine freie Zeit zumeist der Insektenjagd widmete. Doch heute zum ersten Mal sah er ihn hier am dienstlichen Schreibtisch so ungescheut hantiren mit dem Spiritusfläschchen voll Ungeziefer, der winzigen Scheere zum Zurechtschnitzeln der Papierspänchen, mit der Rabenfeder, mit einem ganzen Besteck von Zängelchen, Pinseln und Lupen, mit einer vielfächerigen Schachtel endlich voll Stecknadeln vom stärksten bis zum allerschwächsten Kaliber. So vergaß er für einen Augenblick, in welcher Absicht er eingetreten, legte den Folianten offen auf den Tisch vor dem Sopha und schaute neugierig, aber nicht ohne ein geringschätziges Lächeln zu, wie der Sammler den schon dicht vollgespießten, starken Kampfergeruch verbreitenden Vorsaalkasten mit neuen Ankömmlingen immer noch gedrängter bepflanzte.

Mottwitz ließ sich nicht stören und schien von seiner Gegenwart kaum Notiz zu nehmen. Erst als er fertig war mit der subtilen Spießung eines Käferchens, das selbst kaum die Größe eines Stecknadelkopfes erreichte, und es etikettirt in den Korkboden gesteckt hatte, blickte er auf.

»Was wollen Sie, Spitzer?« frug er verdrießlich, setzte aber, als er den spöttischen Ausdruck im Gesichte des Küsters bemerkte, sogleich hinzu: »Meine Arbeit dünkt Ihnen wohl Kinderspiel? Oder gar ein Sakrilegium in der sogenanten Konfirmandenstube auf dem Amtstisch des Kirchenrendanten? Sie pinseln sechs Zeilen in der Stunde am Duplikat der Geburts-, Sterbe- und Kopulationsregister. Das ist, beiläufig bemerkt, reine Papierverschwendung, seit durch die Standesbuchführung sogar die Register selbst so gut wie überflüssig geworden sind und die Regierung die Kopieen nicht mehr verlangt. Aber es wird, auch zwecklos, so fortgeschlendriant, weil es früher Sinn hatte und Ihnen dafür hundertundfünfzig Mark Zuschuß ausgesetzt sind. Ich verstehe die Kunst nicht, mein bischen Arbeit so auszurecken. Brauche kaum eine halbe Stunde täglich, um die paar Anweisungen oder Einträge in's Kassenbuch zu beschicken, oder die wenigen Atteste zur Unterschrift für den Hauptpastor fertig zu stellen, die noch aus den Zeiten vor Einrichtung des Standesamts, und mit jedem Jahre seltener, von uns verlangt werden. Soll ich die langen Dienststunden müßig absitzen? Der Zweibeine geringer Attestbedarf erlaubt mir's, diesen Sechsbeinen Taufscheinchen auszustellen. Uebrigens, Herr Nepomuk Spitzer, sind aus der Käferei bedeutsame Lehren zu gewinnen, sogar für uns Beide.«

»Für uns? Von den Käfern?« frug der Küster, der seine Neugier nicht unterdrücken konnte, obwohl ihn die Anrede mit seinem unliebsamen Vornamen schon etwas kopfscheu machte und irgend eine boshafte Anspielung wittern ließ.

»Freilich! Sehen Sie, da hab' ich einen erst heute und sogar hier unter meinem Schreibtisch gefangenen. Nicht für meine Sammlung, nur um die ekelhafte Kreatur schnell abzuthun, warf ich ihn in den Spiritus. Denn es ist ein gemeines Vieh, von dem ich schon bessere Exemplare eingereiht habe. Der ist vielleicht sogar Ihnen schon bekannt?«

»Ja, ebensolche hab' ich zuweilen in meiner Wohnung zertreten. Meine selige Mutter hatte abergläubische Furcht vor ihnen und nannte sie Todtenkäfer.«

»Ganz recht, blaps mortisaga. Stinkt abscheulich und schleicht auf unsicher wackeligen Beinen in stockigen Häusern und Kellern lichtscheu umher wie ein schwarzes Gespenst. Beachten Sie jetzt seine merkwürdigste, nutzanwendliche Eigenschaft. Da, nehmen Sie diese Lupe. Seine hinten in einen Stachel auslaufenden Flügeldecken sind in der Naht zusammengewachsen. Er kann sie nicht aufklappen. Sehen Sie, selbst nachdem ich sie behutsam abgelöst habe, bleiben sie zu kleiner Mulde verkittet. Was hat er gleichwohl darunter? Zwei Flügel gleich andern Käfern. Auseinander gefaltet wären sie noch lang und breit genug, den Wicht durch die Lüfte zu tragen. Aber in ewige Finsterniß regungslos eingesperrt, sind sie verkümmert zu halbdurchsichtigen, schleimig weichen Lappen mit kaum noch wahrnehmbaren, etwas dunkleren Strichen anstatt der vormaligen Spreizgräten. Sie haben ihre Spannkraft völlig eingebüßt. Auch von den Muskeln, sie in schwirrende Bewegung zu setzen, sind noch die Stümpfchen vorhanden, aber nur als schlagflüssig lahme Gallertquästchen. Kann Ihnen seine Stammvettern zeigen, prachtvoll gefärbte, metallglänzende Laufkäfer, die noch sehr gut fliegen, obwohl auch sie schon anfangen es sich abzugewöhnen und lieber zu Fuß als flinke Räuber ihrer Beute nachjagen. Sehen Sie, da steckt einer, mit goldig grünen gerieften Flügeldecken, dunkel bronzenem Brustschild und purpurglänzender Bauchseite, Goldhenne genannt, carabus auratus. Von ebenso begabten und schmucken Vorfahren stammt dieser verkommene und häßliche Blaps. Seine Ahnen lernten, vielleicht in Zeiten unergiebiger Jagd, ihren Hunger mit Moderstoff und faulem Abfall stillen, fanden die ekle Kost schmackhaft, suchten und erlangten sie reichlich in Erdlöchern und finsteren Ritzen, wurden bequem, träge, lichtscheu; verloren, da die Sonne sie nie mehr beschien, Glanz und Farbe, endlich auch die Brauchbarkeit der nie gebrauchten Flügel, bis ihnen zuletzt die Natur zur Strafe dafür deren nie geöffnetes Futteral über dem Leibe zusammenschmolz. Ist die Entartungsgeschichte dieses erbärmlichen Finsterlings und Schleichers nicht wundersam lehrreich? Hat nicht über der Gewohnheit, sein Futter und seinen Vortheil nur im gemeinen Schmutz und auf dunkeln Schleichwegen zu suchen, auch mancher Mensch die Fähigkeit zum Aufschwung in eine höhere und reinere Region, in der sich mit redlichem Fleiß bessere Befriedigung erarbeiten ließe, so völlig eingebüßt, als wäre seine unsterbliche Seele und ihr Gewissen gerade so regungslos verkümmert, wie die Flügel des Blaps unter dem wasserdichten, glanzlos rußschwarzen Hornpanzer zum Schutz gegen sein Lebenselement, den Moderkoth? Um aber auf uns zu kommen: was sind diese Flügel? Unbrauchbare, überflüssige Erbstücke. Und was werden wir, ich, der Domsekretarius und Kirchenrendant, und Sie, der Küster, Balgentreter und Registerkopist der Sebalduskirche, mit jedem Tage mehr? Ueberflüssige Erbstücke. Ja, die Sebalduskirche selbst, so gedrängt voll die noch allsonntäglich ist, wann unser Herr Hauptpastor predigt, hat mir, seit ihn das Fieber von der Kanzel fern hält, mit der trostlosen Leere ihrer Bänke die Ahnung geweckt, daß sie nächstens auch zu den überflüssigen Erbstücken zählen dürfte. Sie schütteln den Kopf. Mit Ihrer Ueberfrömmigkeit finden Sie das beinahe lästerlich. Aber hat Sie nicht, vermittelt durch Ihren Beutel, schon ein ähnliches Bangen beschlichen, seit Herr Pastor Schlaube und die Kandidaten seines Schlages stellvertretend predigen? Sonst muß Ihnen jeder Sonntag mindestens zwanzig Mark eingebracht haben für die reservirten Sitze – die letzten vier schwerlich auch nur einen Nickel. Lassen Sie Herrn Sebald abgehen oder gar abgegangen werden, – und etwas der Art fang' ich an vorzuwittern – dann werde ich statt der achtzig Trauungen und dreihundert Konfirmationen jährlich noch nicht ein Zehntel so viel einzutragen haben, gerade wie jetzt schon der Kirchenschreiber der Andreaskirche. Wie viel weniger an Silberlingen Sie dann fischen werden aus der Taufschüssel, welchen Ausfall an Bräutigamsgaben für den Trauteppich erster, zweiter und dritter Klasse und an Einsegnungsgeschenken Sie dann erleiden dürften, das werden Sie selbst leicht ausrechnen.«

Erbleichend hatte Spitzer die an den Blaps geknüpfte moralische Nutzanwendung vernommen und über verständnißvollen, tiefgefühlten Empfang des ihm versetzten Stichs bündige Quittung ausgestellt mit dem Gezitter seiner Ohren. Jetzt zuckten diese noch stärker. Ein Schreck war ihm in die Glieder gefahren. Was er bisher kaum überlegt: daß er mit Sebald's Vertreibung seine Jahreseinnahme auf ein Drittel der gegenwärtigen verkürzen könne, das war ihm plötzlich einleuchtend geworden durch die Erinnerung an den wirklich in den letzten Wochen schon erlittenen Ausfall. Er stand einen Augenblick wahlschwankend zwischen den Eingebungen seiner Rachsucht und dem Rath zur Umkehr, den die Gewinnsucht ihm zuflüsterte. Aber nur einen Augenblick. Im Nu war er hinaus über allen Zweifel mit dem Entschluß, den vorbereiteten Schlag erst dann zu führen, wann er von seinen Anspornern einen genügenden Zuschuß zu seinem Erbtheil und seinen eigenen, schon beträchtlichen Ersparnissen in Händen habe, um auch ohne die Erfüllung ihrer Verheißungen unabhängig leben zu können.

Mit dieser Zukunftsrechnung fertig, gehörte er wieder ganz der Gegenwart. Zunächst galt es, den von Mottwitz angedeuteten Verdacht abzulenken, als ob er, der Küster, Sebald's Entfernung wünsche oder gar betreibe. Dann konnte er sich der Schadenfreude widmen, zu deren Befriedigung er mit dem Taufregister eingetreten, und dabei Vergeltung üben für die boshafte Allegorie mit dem Todtenkäfer.

»Seine Hochwohlehrwürden sind ja fast wiederhergestellt!« sagte er mit dem demüthigsten und theilnehmendsten Ton, den er seiner Kehle abzugewinnen wußte, und im Weitersprechen immer desto süßer, je mehr Gift für den Domsekretär einzuträufeln er bemüht war. »Bei so robuster Leibesverfassung und für einen Hauptpastor sonst unerhörter Jugend, sichert seine Beliebtheit mir meine kleinen Nebenverdienste wohl bis an mein Ende, und Ihnen bis an's Ihrige Eintragungen genug, um täglich ein Viertelstündchen des Zeitvertreibs mit dem lehrreichen Ungeziefer entbehren zu können. Aber dies Viertelstündchen, Herr Domsekretarius und Kirchenkassenrendant, scheint doch nicht ganz ausreichend. Es ist wahr, ich pinsele mitunter fast eine Stunde an sechs Zeilen und bin, wenigstens mit der Kopie des Taufregisters, um drei Jahrgänge im Rückstand. Sie schreiben viel geschwinder, aber aus ungeduldiger Sehnsucht nach dem Käferpinsel auch etwas überhastig. Diese Tochter, Nummer 127 der weiblichen Geburten des Jahres, hat den Taufnamen Lothar bekommen.«

Ein Blick auf die Stelle des Registers, die Spitzer's Finger bezeichnete, genügte Herrn Mottwitz, sich in's Gedächtniß zurückzurufen, was diese unrichtige Eintragung verschuldet hatte. Mit der Spitze des Federmessers, mit dem er vorhin die Flügeldecken des Blaps abgelöst, wies er auf die nächstfolgende Buchung und sagte gelassen:

»Sechs Zeilen weiter lesend hätten Sie die Erklärung gefunden. Hier sehen Sie, von derselben Geburtshelferin der in unserem Sprengel gelegenen Frauenklinik unter demselben Datum gemeldet, ein uneheliches Kind als männlichen Geschlechtes eingetragen, das später in der Taufe den Namen Friederike erhalten hat. Die Hebamme ist eben zerstreut, oder, wie das der Frau Hunike nicht selten begegnet, etwas beschnapst gewesen und hat die Tochter einer Dienstmagd als Knaben angezeigt, wie bei demselben Besuch unmittelbar zuvor als Mädchen den Sohn der Kunstreiterin Arabella.«

Der Küster sah sich plötzlich auf der Spur zu erwünschten Entdeckungen. Trotz aller Uebung beherrschte er sich nicht genug, um einen Ausruf des Staunens zu unterdrücken, dem etwas von freudiger Erwartung anzuhören war.

»Kunstreiterin?« frug er. »Wohl gar dieselbe …« Er besann sich und verschluckte die Fortsetzung.

Nach einem forschenden Blick in's Gesicht und auf das Ohrenspiel des Küsters versetzte Mottwitz gelassen lächelnd:

»Im vergnügten Eifer, mir einen Schnitzer unter die Nase zu reiben, scheinen Sie weiter nichts beachtet zu haben als den Widerspruch zwischen Geschlechtsangabe und Taufnamen. Da steht es ja deutlich zu lesen: Mutter, Arabella, unverehelicht, Mitglied der Gesellschaft Zalesky. Der nächstfolgende Eintrag mit demselben, nur umgekehrten Fehler, hätte Ihnen den Irrthum erklärt und die Verschulderin verrathen. Auch sollten Sie wissen, daß Korrekturen und Rasuren in den Kirchenbüchern streng verboten sind und die Berichtigung einer falschen Aufnahme nur erfolgen darf in besonderer Erklärung, die der Hauptpastor eigenhändig zu schreiben, zu unterzeichnen und mit dem Kirchensiegel zu stempeln hat. Hier, zwei Blatt weiter, steht eine solche.«

Spitzer las aufmerksam die von Ulrich Sebald selbst in großen Buchstaben querweg über alle Kolumnen eingetragene und zwei Drittel der sonst leer gelassenen Folioseite einnehmende Erklärung des doppelten Irrthums. Ein später datirter Nachtrag lautete:

»In Bezug auf Lothar, Sohn der weiland mit der Gesellschaft Zalesky unter dem Namen Miß Arabella reisenden Kunstreiterin, beurkunde ich hiemit für den Fall meines Todes oder meiner Versetzung zur eventuellen Kenntnißnahme meines Amtsnachfolgers, daß mir durch letztwillige Verfügung seiner in ihrem Berufe verunglückten Mutter Dokumente über seine Herkunft unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses anvertraut worden sind. Nebst einer beglaubigten Abschrift des Testaments, das ihre Geheimhaltung bis zu anderweiter Verfügung des Vormunds anordnet, ferner einem am Sterbebett der Mutter aufgenommenen Protokoll und einer Kopie der Vollmacht für mich, den unterzeichneten Vormund, befinden sich dieselben im eisernen Spinde der Kirchenregistratur, Fach 3, Fascikel 2, etikettirt: Lothar–Arabella.

Ulrich Sebald, Hauptpastor.«

»Der Pfarrer selbst also,« dachte Spitzer, »bekennt sich als Vormund dieses Bankerts einer Kunstreiterin! Was kann ihn bewogen haben, sich dazu herzugeben?« Seinem stets das Schlimmste zu glauben geneigten Argwohn flüsterten die Wünsche seiner Rachsucht zu: »Er selbst ist der Vater des unehelichen Sprößlings.« Leicht verwand er jetzt den Aerger, dem Domsekretär keine Nachlässigkeit im Amt vorwerfen zu dürfen. Daß er zu diesem Zweck eingetreten, vergaß er ganz über der brennenden Begier, seinen Verdacht bestätigt zu sehen. Er warf einen hoffnungslos verdrossenen Blick auf den eisernen Geheimschrank, nahm sich aber vor, die in ihm verborgene Lösung des Räthsels auf anderem Wege dennoch auszuspüren und eine schon früher einmal verfolgte, aber voreilig, wie er jetzt meinte, verlassene Fährte wieder aufzunehmen.

»Eine merkwürdige Geschichte!« sagte er möglichst gleichgültig. »Was meinen Sie, Herr Domsekretarius, hab' ich in dem Duplikat des Taufregisters auch diese Berichtigung und den Nachtrag zu kopiren?«

»Die Berichtigung unfraglich,« versetzte Mottwitz, der sich eben wieder anschickte, Käfer aus dem Spiritus zu fischen. »Was den Nachtrag betrifft, fragen Sie lieber den Herrn Hauptpastor selbst.«

Spitzer war eifrig bereit, diesen Rath sogleich zu befolgen. Er hoffte dabei vielleicht den Mienen Sebald's etwas abzulauern, was seine Vermuthungen unterstütze. So klappte er schon den Folianten zu, nahm ihn unter den Arm und wandte sich zum Abgang. Doch Mottwitz, der eben die Luftscheibe des Fensters geöffnet und hinausgeschaut hatte, hielt ihn zurück:

»Warten Sie noch. Vor dem Pförtchen hält der Einspänner des Doktor Mannheimer. Erst lassen Sie den seinen für diesmal hoffentlich letzten Krankenbesuch abstatten. Aber öffnen Sie ihm die Hausthür, wenn er klopft. Die Haushälterin hört' ich ausgehen.«

»Ich will in der Küche nachsehen,« versetzte Spitzer verdrießlich, »und wenn sie wirklich fort ist, von dort aus mit dem Drahtzug öffnen. Sie wissen's ja, ich mag dem Doktor nicht begegnen.«

Er legte den Folianten auf den Schreibtisch und ging. Dem Domsekretär war das große Buch bei seiner Käferei im Wege. So trug er es in das vordere Zimmer zurück und legte es auf den Schreibeplatz des Küsters. Dabei bemerkte er das zwischen dem Pult und der Fensterwand am Boden liegende Blättchen und hob es auf.

»Dacht' ich's doch!« sagt' er, das für ihn unentzifferbare Hakengewirr der Schnellschrift beschauend, und schob es in seine Tasche.


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