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Vierzehntes Kapitel.

Uebernatur.

 

Ich lobe das Neigen
Und kann's nicht erlauben.
Die längst unser eigen
Darf ich nicht rauben.

 

Allmälig und unwillkürlich hatte sie während dieser Worte den Schleier auf die Seite und hinter sich fallen lassen. Fragend und mit dem Blick inniger Bitte ruhten jetzt ihre großen graublauen Augen auf Sebald.

Tief bewegt schaute dieser in ein Gesicht von hochveredelter, plastischer Schönheit, mit nicht eben breiter, aber kühn ausgewölbter und an Höhe das weibliche Durchschnittsmaß auffällig überragender Stirn. Ihr seidig feines, über dem Scheitel in dickem Zopf aufgeschnecktes Haar hielt die Mitte zwischen Aschblond und goldigem Hellbraun; harmonirend mit der blendend weißen, nur in der Mitte der Wangen von der Aufregung gerötheten Hautfarbe, ließ es in ihr weit eher die Tochter einer nordgermanischen alten Adelsfamilie vermuthen, als die Jüdin. Nur der Wissende entdeckte nachträglich eine Andeutung semitischer Herkunft in den dichten, flach sichelförmigen, kohlschwarzen Brauen und in der länglich schmalen, mit leichter Biegung zugespitzten Nase.

Diese Züge waren wohl geeignet, ihn zurück zu locken in die Stimmung vor ihrem Eintritt. Eine zugleich den Geistlichen in ihm bestechende Freude konnte diese Gefahr keineswegs vermindern. Er hatte ein Band der Zusammengehörigkeit sich knüpfen gefühlt von ihrem Herzen zum seinigen, als sie mit ähnlichen Worten, wie er sie kurz zuvor zu Mannheimer gesprochen, erzählt, wie das magisch beleuchtete Kruzifix ihr Gemüth ergriffen. So hätte sein erbstarkes Berufsgefühl doch vielleicht nicht so schnell zu siegen vermocht über die Regungen des lebenslustigen Wittwers, wenn ihm nicht ein Erinnerungsbild zu Hülfe gekommen wäre, das ihn feite gegen die Reize der entschleierten Jüdin.

»Sie ist noch schöner als Hildegard!« hatte er sich gesagt, während ihr Antlitz allmälig schleierfrei geworden. Aber dies persönliche und von Sinnlichkeit wenigstens angehauchte Urtheil blieb auch der einzige Gedanke von dieser Färbung und wirkte zugleich als Gehorsam erzwingender Abweis weltlicher Wünsche. Als dann ihre letzten Worte so schlicht als unwiderstehlich den Beistand des Gottesdieners forderten, da war wieder vollgültig für ihn der Vers Goethe's:

»Und hinter ihm in wesenlosem Scheine
Lag, was uns Alle bändigt, das Gemeine.«

Er war sich völlig klar, sowohl des unerschütterlichen Gehorsams, den er dem Gesetz schulde, als des Verfahrens, das ihm sein Glaube, seine Auffassung des Christenthums und seine Ueberzeugung von den Pflichten des geistlichen Amtes vorschrieben. Dennoch schwieg er eine Weile, um für das, was er zu sagen hatte, mit der Schnelligkeit des geübten Redners die für das Verständniß und die Beruhigung der Jüdin bestgeeignete Anordnung und Ausdrucksweise zu überlegen. Sie schien das zu merken, setzte sich nochmals und wartete geduldig. Endlich begann er:

»Fräulein Mendez …«

»Sie kennen mich schon?« unterbrach sie mit überraschtem Aufblick.

»Ihr Gesicht,« erwiederte er, »erblick' ich heute zum ersten Male; aber was Sie erwähnten von Ihrem Herrn Vater, hat mir Ihren Familiennamen verrathen. Sie sollen sich in mir nicht geirrt haben. Ich bin weder befugt, noch geneigt, Ihr Verlangen in Ihrem Sinn zu erfüllen; helfen aber will ich Ihnen dennoch und hoff' es auch zu können. Um Ihnen das verständlich zu machen, muß ich freilich schon heute für ein Stück Unterricht um Geduld und Aufmerksamkeit bitten, wenn Sie sich deren fähig fühlen nach dem Gemüthsaufruhr, der Sie hiehergeführt.«

»Reden Sie, reden Sie! Ich höre Ihnen so gerne zu. Schon Ihre Stimme wirkt auf mich wohlthätig beruhigend.«

»Wohlan denn! Ich will es nicht verhehlen, daß ich es zur Zeit wohl wagen dürfte, die Taufe sogleich an Ihnen zu vollziehen, ohne durch die Gesetzwidrigkeit des Aktes mich selbst ernstlich zu gefährden. Sie werden gehört haben von der gewissenlosen Proselytenmacherei der katholischen Kirche. Sie verschmäht es nicht, selbst offenbaren Raub auszuüben, zumal an Ihren Stammgenossen. In den meisten Fällen der Art haben die Eltern erfolglos den Staat und seine Gerichte angerufen gegen die wider ihren Willen vorgenommene Bekehrung und dauernde Entfremdung ihrer Kinder. Derselbe Eifer schwält jetzt bedenklich auch in der protestantischen Kirche, namentlich in der Geistlichkeit, die der heute fast allein herrschenden Richtung angehört. Der Uebertritt der Tochter einer weitbekannten und hervorragenden Israelitenfamilie wäre den Herren in der mir vorgesetzten Behörde so hochwillkommen, daß meine Mitwirkung ihres Beifalls, mein Ungehorsam gegen das Gesetz der Vertuschung und sogar des staatlichen Schutzes ziemlich sicher sein würde. Ja, ich weiß es nur zu gewiß, daß meine Weigerung, wenn sie bekannt würde, sogleich als ein schwerer und weiterer Anklagepunkt gebucht stände in dem Sündenregister, welches meine Oberen gegen mich vorbereiten, weil ihnen der freie Geist meiner Predigten längst ein Dorn im Auge ist.

Aber es dürfen für mich weder Gunstgewinn, noch persönlicher Nachtheil in Betracht kommen. Ich habe die Aufgabe, wie in meinem Amt überhaupt, so nun für Sie nicht Ulrich Sebald, sondern Der zu sein, auf dessen Wort aus meinem Munde Sie verzichteten auf den frevelhaften Entschluß, Befreiung von Mühsal und Last im Tode zu suchen, um vielmehr Seinem Ruf zu folgen und von Ihm fordern zu kommen, was Er allen Mühseligen und Beladenen verheißen hat: das ist, nach dem griechischen Wort des Evangeliums, ›Stillung des Leides‹, nach Luther ›Erquickung‹, was in der Sprache seiner Zeit nicht blos ›Labung‹ bedeutete, sondern ›neue Belebung‹.

So muß ich Ihnen erst sagen, wie der Pastor Sebald, der schlichte Mann von mittleren Gaben, das scheinbar so Vermessene, die Stellvertretung Christi, zu leisten versucht.

Die von unserem Herrn und Meister überlieferten Sprüche tragen den Stempel eines Genius von erstaunlicher Lauterkeit des Willens. Sie zeigen uns die Denkweise, deren Eigenart den bisher gewaltigsten Umschwung der Geschichte einleitete. Da das Grundwesen des Menschen und die guten und bösen Eigenschaften seines Herzens dieselben geblieben sind, kann man aus dieser Denkweise unschwer die Antworten ableiten, welche Jesus selbst geben würde auf alle Hauptfragen der Sittlichkeit und der Pflicht gegen unsere Nebenmenschen.

Die Kühnheit und die Tiefe dieser Denkweise sind um so bewundernswürdiger, als die Urkunden sie gewonnen zeigen von einem schlichten Handwerker, aus den Erfahrungen eines überaus engen Gesichtskreises, in einer Gesellschaft von kindlich einfachen Verhältnissen, in einem seitab gelegenen Ländchen ohne staatliche Selbständigkeit, ohne Kunst, ohne Wissenschaft.

Aber wir dürfen es uns auch nicht verbergen wollen, daß eben deshalb seine Heilslehre keinen führenden Bescheid gibt für gar viele, große und wichtige Gebiete unseres Lebens, welche für ihn noch gar nicht vorhanden waren.

Wir sind die Geschöpfe und Erinnerungseigner einer neunzehn Jahrhunderte weiter verlaufenen Geschichte. Wir sind Zöglinge einer damals undenkbaren Gesellschaftsordnung und Staatseinrichtung. Wir erfreuen uns einer damals kaum als möglich geahnten Kunde des Universums und der Naturgesetze. Wir sind im Vergleich zu den Menschen von damals, den fast ohnmächtigen Sklaven der Natur, vermöge der Wissenschaft ihre der Allmacht zustrebenden Beherrscher. Wir sind die Erben der Staatsweisheit und bewundernswerthen Rechtslehre Roms, der griechischen Bildung und Kunst. Für uns haben Phidias, Praxiteles, Päonios, Thorwaldsen und Rauch gemeißelt, Rafael, Andrea del Sarto, Titian, Murillo und ihre Nachfolger gemalt, Michel Angelo, Erwin und andere Meister gebaut, Bach, Haydn, Händel und Mozart komponirt, Homer, Aeschylus, Sophokles, Shakespeare, Goethe und Schiller gedichtet, Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton, Kant, Laplace, Hörschel, Bessel und Darwin geforscht und entdeckt, die Entstehung unserer Sonnenwelt faßlich gemacht, das allmälige Emporsteigen der Lebewesen auf einer Stufenleiter, die Milliarden von Jahren durchragt, erklärt und das Geheimniß unserer Herkunft entschleiert.

Wie soll zur Leitung im tausendfach gangreicher gewordenen Pflichtenlabyrinth des Menschen im heutigen Staat und in der heutigen Gesellschaft der schlichte Faden ausreichen, der für den Bedarf Galiläas gesponnen wurde? Wie sollen die bösen Gelüste des starken Gebieters und Erkenners der Natur gebändigt werden von einer Furcht vor Gott, die sich nur so lange wirksam bewähren konnte, als der Sünder sich auf Schritt und Tritt bewacht glaubte von einem unweit über den Wolken thronenden und von da mit eigener Hand strafend herabgreifenden Jehova? Wer weiß es denn heute noch nicht, daß das blaue Gewölbe da droben nur Erscheinung ist des nirgend begrenzten Weltraums, keine feste Decke, darauf ein Palast voll himmlischer Heerschaaren stehen könnte? So wenig als die Anschauung eines Zeitalters der Unwissenheit haltbar und vertheidigungswerth ist, nach welcher die Erde, als unabsehbare Scheibe auf geheimnißvollen Säulen ruhend, in der Mitte der Welt deren Hauptstück bildete, Sonne, Mond und Sterne nur zu ihrer Beleuchtung an der überwölbenden Decke befestigt hingen, ebensowenig kann doch die nach ihr gemodelte Gottesvorstellung annehmbar und erbaulich sein für Den, der auch nur so viel von der Astronomie weiß, als in seinem Kalender steht.

Wie, frage ich, kann dennoch für den Kulturmenschen an der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts dieselbe Religion gültig bleiben und wieder ausreichend werden, deren Stifter noch durchaus nichts wissen konnte von der Fülle der inzwischen hinzugewachsenen Offenbarung?

Ich weiß dazu nur einen Weg, und dieser Weg ist nicht etwa von meiner Erfindung, sondern lediglich Fortsetzung ganz desselben, den schon die Apostel und alle ihre selbstlos ehrlichen Nachfolger je nach ihrem Wachsthum an Bildung einschlugen, ja, desselben, auf dem auch die gesammte Christenheit kraft des ihr eingeprägten Triebes vorangeschritten ist.

Vom Kirchenbau, vom Gottesdienst mit Gesang und Orgelspiel, von den Ceremonieen des Kults in Räumen, die zur Andacht stimmen mit der ernsten Erhabenheit ihrer Architektur, mit ihrem Bilderschmuck, ihren Skulpturen, ist auch nicht eine Silbe zu finden in den Sprüchen Jesu; ja, es kommen in diesen sogar Aeußerungen vor, die sich auslegen lassen und ausgelegt worden sind als Verwerfung solcher sinnlichen Hülfsmittel der Heiligung. Aber es ist eingeborenes Bedürfniß des Menschen, sich in das unlösbare Welträthsel in feierlichem Spiel zu vertiefen und sich auf die unabweislichen Fragen, die seiner Forschung noch spotten, ja, mit einer Nachkommenschaft von drei neuen Mysterien für jedes enthüllte auch der höchst erreichbaren Wissenschaft immerdar spotten werden, wenigstens beschwichtende Scheinantworten zu geben mit Gleichnissen und Sinnbildern. Trotz der mangelnden Autorisation durch den Stifter und seine ersten Nachfolger hat dies Bedürfniß unsere Kirchen, ihre Musik, ihren Kunstschmuck, ihr Ceremoniell, ihre Festgebräuche, theils neu entstehen, theils, und zwar weit überwiegend, aus den Tempeln Aegyptens, Jerusalems und Roms übernehmen lassen. Nur Eiferer von flacher Nüchternheit und Unkenntnis; des Menschengemüths haben sich, angesichts mißbräuchlicher Uebertreibung, so weit verirrt, das Unding einer Religion ohne Kunst zu fordern, und leider muß ich gestehen, daß in dieser Richtung auch die Kirche unseres Bekenntnisses viel gesündigt hat.

Nun wohl! Wie ohne Weisung des Stifters die Kirche die Kunst mit aufgenommen hat und nach meiner innigsten Ueberzeugung sich nicht länger der ernsten Pflicht entziehen darf, statt der alten und verkümmerten Reste von Kunst, mit denen sie sich noch immer behilft, alle Künste in deren gegenwärtiger Vervollkommnung in ihren Dienst zu ziehen: gerade so muß ihre Lehre zur Lebensführung alles das mit aufnehmen und verbinden mit ihrem unvergänglich gültigen Urkern, was die Gesammtheit unserer Wissenschaften nach erkannten Gesetzen der Natur und Geschichte für das Wohl des Einzelnen, der Familie, des Staates, des Menschengeschlechtes vorschreibt.

Was der Glaube im Lauf der Jahrhunderte gethan hat, indem er den Sohn des Zimmermanns von Nazareth verwandelte in den allmächtigen und allwissenden Gott, das wiederhole ich in wunderloser, schlichterer Weise, indem ich ihn aus der Zeitenferne lebend herübernehme in die Gegenwart und ihn zur Denkart seiner Sprüche ausstatte mit aller Macht, aller Kunst, Wissenschaft und Weisheit, die uns inzwischen hinzuerworben ward von sämmtlichen Granden des Menschengeschlechts, deren ich vorhin etliche genannt habe.

Und dies Denkbild ist mehr als Phantasma. Es ist Dichtung, sofern es vor meinem Schauen steht als die einzelne kolossale Menschengestalt des wiederbelebten Gekreuzigten. Aber es ist wahre Dichtung; es ist auch wirklich, es ist leibhaft und lebendig vorhanden. Es ist die bescheidenere, aber auch in ihrer Ermäßigung für uns unermeßlich groß bleibende, nur um so werthvollere Wahrheit, welche das Kirchendogma vom allwissenden, allmächtigen, allgütigen Gotte Jesus Christus zum segensvollen Kern hat und in der kindlichen Sprache der Symbolik ausdrückte, ausdrücken mußte. Denn in keiner andern Sprache können die höchsten und tiefsten Wahrheiten für die Menge wenigstens annähernd faßlich und erziehungskräftig genug werden, um endlich nach vielen, vielen Generationen auch die Erkenntniß ihres eigentlichen Sinnes zum Gemeingut zu machen.

Mein kolossalischer Jesus Christus lebt auf Erden in der Gegenwart als Christenheit. Sie ist nicht Gott; aber das Göttliche hat in ihr die zur Zeit höchste Stufe der Menschwerdung erreicht. Sie ist nicht allgütig, sondern auch im Großen und Ganzen immer noch behaftet mit schlimmen Eigenschaften und argen Gebresten. Aber sie hat ein Wollen des Guten, eine Erfüllung der Pflichten der Nächstenliebe, eine Erziehung dazu, eine Bändigung des Bösen, eine Unterdrückung des Verbrechens, eine Annäherung zum Frieden, zur Aufgabe ihrer Gesetze und Staatsordnung gemacht, wie nirgend sonst und niemals zuvor. Sie ist nicht allwissend noch allmächtig; aber sie verfügt mit der Gesammtheit ihrer Wissenschaften über ein Maß von Kenntnissen, und mit deren Anwendung in der Arbeit über ein Maß von Macht, gegen welches die kindlichen Vorstellungen früherer Jahrhunderte von der Allmacht und Allwissenheit der Götter und Gottes weit zurückbleiben.

Dieser Gesammtgeist der Christenheit, dies den Erdball umrankende Riesengewächs aus dem vom Sohne des Joseph und der Maria gepflanzten Keim, ist mein lebendiger, gegenwärtiger Jesus Christus. Von seiner Weisheitsfülle und Heilskunde so viel zusammenzufassen, als mit unermüdlichem Fleiß und hingebendem Eifer der Einzelmann sich anzueignen vermag, was denn freilich immer nur in bescheidener und schwächlicher Annäherung gelingen kann, um dann, so geklärt als möglich von der Trübung durch die eigene Beschränktheit, dieses in sich erkunstete Nachbild des Menschheitsideales aus sich heraus reden, die Gemeinde erbauen, belehren, den Rath suchenden Einzelnen wegweisend führen zu lassen: das ist nach meiner Auffassung der Beruf des Geistlichen. Dieser Auffassung muß ich auch Ihnen gegenüber treu bleiben.

Meinen orthodoxen Berufsgenossen ist dies Bekenntniß nichts als greuliche Ketzerei. Mit vollster Ueberzeugung, damit ein gottgefälliges Werk zu thun, würden sie mich verbrennen, wenn sie könnten. Da sie das nicht mehr können, setzen sie wenigstens alle Hebel in Bewegung, mich durch Vertreibung aus meinem Amt in ihrem Sinn unschädlich zu machen. In ihrem zornigen Trotz gegen den großen Zuwachs an neuer Offenbarung, in ihrer noch weit mehr durch bequeme Trägheit verschuldeten als von mangelnder Begabung verursachten sträflichen Ignoranz verlangen sie, daß man die naturwidrigen Wunder ihrer Dogmen buchstäblich für wahr halte. Der Heiland soll eben so, wenn auch in geheimnißvoller Weise, der Sohn Gottes aus dem Schooße der Maria geworden sein, wie Sie die Tochter Ihres Vaters und Ihrer Mutter. Wer in solchem Glaubenssatze nur die größeste Heilswahrheit der Geschichte bildlich ausgedrückt findet, ist ihnen ein Antichrist, ein Leugner und Lästerer Gottes.

Nach dem Christenthum dieser Herren sind Sie als Judenmädchen ein verlorenes Geschöpf, ein verirrtes und dem Abgrund verfallenes Schaf, aller Gnaden verlustig, nicht nur für die Zeit Ihres Erdendaseins, sondern für die Ewigkeit. Indem ich mich weigere, Sie unverweilt durch die magische Kraft einiger Tropfen Wasser und des zugehörigen Spruches im Nu in eine der Erlösten zu verwandeln, die allein privilegirt sind auf die ewige Seligkeit, begehe ich im Sinne dieser sogenannten Gottesdiener eine der allerschwersten Sünden.

Ganz anders nach meinem Christenthum, wie ich es Ihnen, für diesmal auf Andeutungen beschränkt, mit nothbehelflichen Umrißstrichen zu kennzeichnen versucht habe. Als dessen gewissenhafter Diener sage ich Ihnen erstlich:

Sie hatten Recht, als Sie sich schon jetzt die Unserige nannten. Ja, Sie gehörten zu uns schon vor Ihrem Entschluß.

In welcher Elternreligion man auch geboren sei, Glied eines europäischen Kulturstaates und nicht in allem Wesentlichen auch Christ zu sein, ist ganz unmöglich. Es ist gerade so unmöglich, als auf unserem Erdstern zu leben, ohne Wasser zu genießen und sogar weit überwiegend aus Wasser zu bestehen. Wie auch der eigensinnigste Sonderling, der sich jeden Tropfen dieses Lebenselementes verböte, es in vielerlei Gestalt, in jedem andern Getränk, jedem Nahrungsmittel, ja mit jedem Athemzuge in sich aufnehmen und seinen Leib aus ihm zusammensetzen muß, gerade so geht es mit dem Christenthum sogar Ihrem Vater, welchen übermäßigen Aufwand er auch treibe an Mühen und Selbstkasteiungen, um sich durch Beobachtung veralteter Lebensregeln und Speisevorschriften so grell als möglich von uns Christen zu unterscheiden. Nicht jetzt kann ich das beweisend ausführen. Es bleibe künftigen Stunden überlassen; denn Sie zu unterrichten, werd' ich auch ferner bereit sein.

Zweitens erinnere ich, daß Jesus selbst ein Jude war und die mosaische Religion reformiren, keinesweges abschaffen wollte. Sie ist wirklich auch für uns nicht abgeschafft. Auch uns ist das Alte Testament heilige Schrift; auch für uns gelten die zehn Gebote. Nicht mit einer Sünde gegen das vierte dürfen Sie, die uns Zugehörige, das Zeichen dieser Zugehörigkeit ertrotzen wollen. Ihr Vater irrt, aber er meint es ehrlich. Sie würden ihn vielleicht tödtlich kränken mit Ihrer Losreißung, mit Ihrer dann unvermeidlichen Selbstverbannung aus seinem Hause, aus Ihrer ganzen Familie.

Aber Vater und Mutter ehren bedeutet nicht sklavisch gehorchen auch gegen das eigene Gewissen. Schon Heirathen ohne Liebe ist bedenklich; Heirathen mit Widerwillen ein schweres Vergehen, weil nicht nur Selbstverdammniß zum Elend, sondern zugleich Schädigung des kommenden Geschlechtes. Sie haben ein unveräußerliches Recht, die Verbindung mit einem Ihnen widerwärtigen Manne zu verweigern. Bewähren Sie denn auch den Muth dieses Rechts. Nach so glücklicher Fügung wird ein entschiedenes ›Ich will nicht‹ Sie bewahren vor dem verhaßten Bunde.

Jetzt noch Eines. Daß Sie bei sonntäglichem Orgelklang an unserer Kirche vorüber kamen; daß ich Paul Gerhard's berühmtes Lied singen ließ als beste Vorbereitung auf meine Predigt; daß mich der freiwillige Tod eines Jünglings aus hochachtbarer Familie bewog, gegen den Selbstmord zu sprechen und daß ich zum Bibeltext meines Themas jenen vorzüglich geeigneten Spruch gewählt hatte: – alles das hat sicherlich kein außergesetzlicher Zauber bewirkt. Vermag ich doch sogar die geheimnißvolle Macht ein wenig zu entschleiern, mit welcher bei Ihrer Stimmung das Orgelspiel Sie ergreifen mußte. Nach meiner Gewohnheit hatte ich unsern vortrefflichen Organisten bekannt gemacht mit dem Inhalt meiner Predigt und mich dann sehr einverstanden erklärt mit seinem Erbieten, im Vor-, Zwischen- und Nachspiel Passagen zu verwenden aus Mozart's Requiem.

Aber den Freigeist möcht' ich doch sehen, der Ihnen das Recht bestritte, in dem Zusammentreffen aller dieser Umstände eine gnädige Führung zu erkennen! Ja, ich gehe weiter. Ich sage: zu Ihrer Rettung ist nichts natürlich, alles übernatürlich geschehen.

Sie schauen mich betroffen an, als zweifelten Sie an meinem Verstande. Erschrecken Sie nicht. Ich meine nicht, daß eine unsichtbare Hand aus Nirgendheim herabgegriffen, um Sie an unsere Kirche und hinein zu führen. Ich mein' es ganz verständig und schlicht.

Das unbedingteste Lebensgebot der Natur lautet: friß, oder sei gefressen. Der Mensch ist aus der Natur geboren und noch überwiegend ihr Unterthan geblieben mit seinem leiblichen Dasein. Aber er hat sich auch weit über sie erhoben mit seiner Kultur, seiner Kunst und Religion. Er hat endlich gegen jenes allgemeine Naturgebot das Gebot der Nächstenliebe proklamirt und zu dessen Erfüllung in der Christenheit deren Kirche, deren Staatsordnung gegründet. Diese Steigerung des Menschen über die Natur hinaus ist die einzige auf unserem Planeten deutlich erkennbare Offenbarung des in der Natur schlafgefangenen Göttlichen. Lauter Thaten dieses Göttlichen haben Sie gerettet, nicht unnatürlich, nicht widernatürlich, aber übernatürlich. Ein paar Beispiele werden Ihnen diesen, so viel ich weiß mir ureigenen und darum einstweilen noch seltsam klingenden Gedanken vielleicht faßlicher machen.

Die Centifolie verdankt ihre Blätterfülle der nahrungsreich zubereiteten Erde des Beets, der zu ihrer Erziehung getroffenen Auswahl bester Absenker des Mutterstrauches, ihre vollendete und unversehrte Gestalt dem Schutz vor den Unbilden des Wetters und der Verletzung durch Gethier, also der Anwendung von lauter natürlichen Mitteln. Aber sie ist eine weit über die Natur ihrer Ahnen hinaus gesteigerte Blume, ein übernatürliches Geschöpf, welches der Schönheitssinn der Menschen in vieltausendjähriger Pflege erzogen hat aus dem wilden Hageröschen. Das, womit Ihnen unsere Orgel das Weitergehen wehrte, waren streng naturgesetzlich verlaufende Luftwellen. Aber in gleichem Sinne, nur noch weit höher übernatürlich als die Centifolie gegen das Hageröschen, ist doch die wundersamste der Künste, die Musik, gegen die Wildkeime von ihr, welche die Natur vorbildet, indem sie die Grille mit einem Kamm der Beinschiene auf einem Häutchen geigen, im Schlage des Finken, im Liede der Nachtigal ein kindlich holdes Traumlallen anstimmen läßt. Hatte nicht ein Mozart komponiren müssen, um Sie vor dem Kirchenportal festzuhalten? Hat es nicht der Sprache bedurft, dieser folgenreichsten Errungenschaft, die den Aufschwung des Menschen über die Natur zumeist ersiegt, indem sie seine Fortschritte vererblich, sein Wesen dadurch unsterblich machte? War es nicht die Schrift, diese dem Wilden allerunbegreiflichste Erfindung, vermöge deren Worte in Ihr Ohr klingen konnten, die vor sechzig Menschenaltern in Palästina gesprochen waren?

So behaupt' ich denn kühnlich, zu wissen, daß Sie von Gott uns zugeführt wurden und daß es sein Wille ist, Sie künftig ganz die Unserige werden zu lassen. Wie? Das sehe, das weiß ich noch nicht. Aber der Glaube ist ja Fürwahrhalten dessen, das man nicht siehet und Vorwegnahme dessen, das man hofft. So glaub' ich denn, daß auch der Tag kommen wird, an dem ich nach Erfüllung Ihres Wunsches unten in das große Buch schreiben darf: Getauft Fräulein … Ja, wie heißen Sie mit Ihrem Vornamen?«

»Cäcilie.«

»Ein Name von schönster Vorbedeutung, der eine helle Zukunftsvision vor mir aufsteigen läßt. Sie kennen wohl das Bild der heiligen Cäcilia, der Orgelspielerin? So seh' ich Sie, die von unserer Orgel Gewonnene, auf der Organistenbank vor der Klaviatur sitzen und höre Mozart's Requiem als Vorspiel zum Choral: Befiehl du deine Wege.«

In entschlossenem Ton und mit leuchtendem Blick entgegnete Cäcilie:

»‹Weissagungen,‹ las ich irgendwo, ›wirken ihre Erfüllung!‹« Dann stand sie auf, reichte ihm die Hand und rief:

»Ich danke Ihnen, danke Ihnen innigst. Ich habe schwerlich schon Alles richtig verstanden. Ich hätte Tausenderlei zu fragen; aber jetzt muß ich mir das wohl verbieten. Sie haben Blitze geredet; die leuchteten hinein in eine bisher nachtbedeckte Region, aber sie gewährten keine Ueberschau, nur schnell erlöschende Angenblicksbilder. Sie ließen mich reizende Lustwege, traute Wohnplätze mehr vermuthen als gewahren. Ihre Worte haben mich verwirrend überflutet mit Ahnungen eines neuen Lebens. Ich bin beruhigt über meine Zukunft und werde mir nach Ihrem Rath meine Freiheit muthig selbst zu sichern wissen. Ich bin vor Allem beglückt durch Ihre Zusage, mich ferner zu unterrichten. Ich war eine fußwund verdurstende Wüstenpilgerin. Die Führer der Karawane geboten mir, unter noch ärgeren Entbehrungen und Leiden als bisher weiter zu wandern durch die unabsehbare Oede von Felsgetrümmer und glühendem Sande. Schon gedacht' ich, lieber hinunter zu springen in die Finsterniß eines bodenlos gähnenden Abgrunds. Schon stand ich an dessen Rande. Da drückt mir eine unsichtbare Hand erquickenden Trunk an die Lippen. Ich blicke wieder auf, statt in die Tiefe, – und siehe, ein freundlicher Himmelsbote steht neben mir. Seine Rechte weist vorwärts; über den Abgrund schwingt sich auf seinen Wink eine sichere Brücke. Drüben liegt gesegnetes Fruchtland voll arbeitsamer Menschen, die mir zurufen: ›Komm', sei fleißig mit uns und glücklich.‹ Wann darf ich wieder kommen? – oder …«

Sie stockte. Sie war erschrocken über ihre Frage. Denn der Pastor, der ihr während seiner Rede erschienen wie ein ehrfurchtgebietender Prophet, sah ihr jetzt, nach ihren innigen Dankesworten, doch anders aus und schaute sie anders an. Ihre Verlegenheit beim Eintritt war überwiegend die des schweren Entschlusses zu ihren Bekenntnissen gewesen. Jetzt erst überfiel sie das Bewußtsein, als junges Mädchen einen nichts weniger als bejahrten Mann allein besucht zu haben. Jetzt erst ertappte sie sich auch darauf, daß unter den Beweggründen, die sie hergeführt, neben der herzgewinnenden, wohllautenden, von der Kanzel gehörten Stimme, doch auch die stattliche Figur und der schöne Kopf Sebald's ein wenig mitgespielt hatten. Kaum aber regte sich die Befürchtung, etwas von diesem Selbstgeständniß in Haltung und Miene verrathen zu haben, so war auch die weibliche Schlauheit bei der Hand mit einer List, es zu verbergen. Die verschämt gesenkten Lider dreist wieder aufschlagend, schweiften ihre Augen über das wenig geräumige, überaus einfach ausgestattete und bedrückend niedrige Zimmer mit einem Blick, dem sie einen Ausdruck von Geringschätzigkeit beizulegen wußte. Dann erst schloß sie in fast geschäftlich nüchternem Ton:

»Oder wo sonst darf ich hoffen auf künftige Lektionen?«

»Bei mir!« antwortete eine Frauenstimme aus der jetzt völlig aufgehenden, aber längst schon leise geöffneten Thür des Schlafzimmers.

»Mein geliebter Uli,« sagte Frau Sebald eintretend und den Sohn umarmend, »erst laß deine alte Mutter ihrer Wonne Luft machen, das Kind ihres Schooßes seiner Ahnen so würdig zu wissen. Nicht wahr, Fräulein Cäcilie,« wandte sie sich dann an diese, dabei immer noch den linken Arm um den Nacken des Sohnes geschlungen und mit der rechten Hand sein gelocktes Haar und seine Wangen zärtlich streichelnd, »nicht wahr, das ist ein Gottesmann, der es verzeihlich macht, wenn sich im Herzen seiner alten Mutter etwas regt, das an stolzes Madonnengefühl anstreift? Aber was ist Ihnen? Was füllt Ihnen die Augen plötzlich bis zum Ueberlaufen mit Thränen?«

Mehrmals von Schluchzen unterbrochen stammelte Cäcilie:

»Ich hatte auch eine so schöne, so gute, so kluge Mutter! Aber sie liegt in der Erde zwischen vier ungehobelten Brettern.«

»Arme, verlassene Seele!« versetzte Frau Sebald, indem sie ihren Ulrich losließ. Dann trat sie zu Cäcilie und ließ ihr wiederholt beide Hände über das Haar, über die Schläfen und die schmalen, nach dem Kinn zu sich rasch verjüngenden Wangen gleiten, als könne sie so die Betrübniß aus ihrem Gemüthe wegstreicheln.

»Ich will Sie lieb haben. Ich that es schon als ich Ihnen zuhörte, und thu' es jetzt noch mehr, da ich Sie taste. Denn Sie müssen wissen, ich habe Seelenkunde in meinen Fingerspitzen. So seidenweiches Haar, so sammetfühlige Wangen haben meinen Schluß auf ein feines Herz noch niemals getäuscht.«

Dies Empfinden war gegenseitig. Das gestreichelte Mädchen schloß die Augen wie zum Schlaf. Ihr statuenschönes Antlitz, eben noch erinnernd an den Kopf der trauernden Niobe, umfloß nun ein Ausdruck seliger Beruhigung und Hingabe, als wolle sie noch recht lange den wohligen Berührungszauber in sich einströmen lassen. Dann aber ergriff sie diese wunderthätigen Hände und preßte sie, mit heißen Thränen benetzt, an ihre Lippen, bis die tief gerührte Matrone sie ihr entzog, um nun auch sie mütterlich zu umarmen und auf die Stirn zu küssen.

In stummer Bewunderung schaute Sebald zu. Hätten nicht eben jetzt von draußen an sein Ohr schlagende Laute und deren Wirkung auf Cäcilie seinen Gedankenflug unterbrochen, so würde wohl beim Anblick dieser Zärtlichkeiten zwischen seiner Mutter und der schönen Jüdin ein gewisses Erinnerungsbild bedenklich erblaßt sein und starke Einbuße erlitten haben an seiner schirmenden Kraft.


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