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Viertes Kapitel.

Die Stammcousine.

 

Warum ich wohl wie längst bekannt
Beim ersten Sehn ihr Antlitz fand?
War das der Liebe Himmelswink?
War's doch nur ein Erinnrungsblink?

 

Sie traten ein in das altehrwürdige, wenn auch kleine Gotteshaus. Heiri wählte zu seiner Andacht das gewohnte Plätzchen am Pfeiler. Ulrich sprach mit vorgehaltenem Hut ein leises Gebet und setzte sich dann in eine der hintersten Kirchenbänke.

Auf dem Altar, beleuchtet von vier hohen Wachskerzen, standen Kelch nebst Kännchen und das Ciborium bereit. Neben der untersten Stufe der Estrade hielten zwei Chorknaben die Weihwasserschale, den Wedel und das an drei vergoldeten Kettchen hängende Rauchgefäß. Der Geistliche, ein schöner alter Mann mit liebreich mildem Gesicht, stand noch nicht vor dem Sakrament, sondern auf einem rothbeschlagenen kleinen Podium, nahe vor den beiden Messehörenden in der vordersten Bank. Von der vorbereitenden deutschen Rede, die er da gehalten, hörte Ulrich nur noch den letzten Satz, einen Anruf Gottes, des Heilandes und der Heilandsmutter. Dann sprach er lateinisch, vermuthlich vorgeschriebene Formeln, aber zu rasch und leise für das Verständniß des entfernten Lauschers. Desto deutlicher verstand dieser die mit einem Exaudite beginnenden letzten Worte: »Erhöret die Gebete, welche Vater und Schwester beim heiligen Meßopfer empor senden für das ewige Heil ihres Sohnes und Bruders, des heute vor drei Jahren im Kampfe gefallenen Lothar Sebald, Grafen von Sebaldsheim.«

Hienach vermochte Ulrich Sebald geraume Weile nichts mehr mit rechtem Bewußtsein zu vernehmen oder zu schauen, so sehr waren vom eben Gehörten seine eigenen Gedanken und Phantasmen entfesselt. Diese Erklärung der draußen bemerkten Ähnlichkeit, obwohl nicht völlig ungeahnt, traf ihn dennoch wie mit einem elektrischen Schlage.

Für den Majoratsherrn vor ihm, der nun schon drei Jahre in Trauer ging um seinen einzigen Sohn und seinen Schmerz vermuthlich jeden Tag aufgefrischt fühlte bei der Vorstellung, Besitz und Würde nicht einem Leibeserben, sondern irgend einem gleichgültigen oder gar verhaßten Seitenverwandten hinterlassen zu müssen –: für den ließ er einen Enkel verborgen erziehen in seinem Mündel, dem Sohn der verunglückten Kunstreiterin Karola von Mojenyi, genannt Arabella, doch berechtigt gewesen auf den Titel einer Gräfin von Sebaldsheim. Und er, ein Sprößling der ältern Linie desselben Geschlechts, die das längst verjährte Recht auf den Rückfall des weiland freiwillig abgetretenen Familienbesitzes noch immer nicht vergessen hatte, er war durch sein Gelöbniß am Sterbebett Karola's, durch deren Testament und die übernommene Vormundschaft verpflichtet, einst vielleicht hinzutreten vor diesen Stammvetter, um eben diesen Familienbesitz für seinen Schützling in Anspruch zu nehmen. Zugleich aber band ihm Karola's mündlich und schriftlich ausgedrückter letzter Wille vorläufig die Zunge und erlaubte ihm nicht, dem Grafen die Existenz des Enkels früher zu verrathen, als bis er in seinem Gewissen überzeugt sei, daß der Knabe aus dem Schooße der abenteuernden Kunstreiterin seinen väterlichen Vorfahren hinlänglich nacharte, um des Erbantritts würdig erachtet zu werden.

So überkam den jungen Geistlichen ein bängliches Empfinden, dazwischen aber auch die Erwartung eines bedeutsamen und vielleicht nicht unerfreulichen Erlebnisses. Ueber seinem schneller pochenden Herzen wähnte er die Berührung zu fühlen von der unsichtbaren Schicksalshand, welche hier, nach fast zweihundertjähriger Scheidung durch den Glauben, Sprossen desselben Stammes bei gleichzeitiger Familientrauer zusammenführte.

Er hörte noch lateinisches Gemurmel, aber ohne ein Wort zu verstehen von der ihm sonst so wohl vertrauten Kirchensprache. Er sah noch, wie in halbem Schlafe, oben auf der Estrade den altarwärts gekehrten Priester unter Knixen und Bücklingen mit dem Meßgeräth hantieren oder den Sprengwedel und das Rauchfaß schwingen. Aber deutlicher fast schaute er Bilder, die draußen gar nicht vorhanden waren, aus seinem Innern in diese Wirklichkeit hinein.

Der in seiner Familie von jeher erblichen Eigenheit einer fast zügellos waltenden Einbildungskraft, war Ulrich Sebald in besonders hohem Maße theilhaft geworden. In Momenten von wahrscheinlich entscheidender Bedeutung für sein Leben und seine Pläne verwoben sich ihm zauberschnell die Erscheinungen der Umgebung zu traumhaft durcheinander wogenden Gemälden und Wandeldekorationen einer Bühne, über welche bald Erinnerungen, bald allegorische Gebilde seines Glaubens, zu Visionen verkörpert, hinschritten.

So erging es ihm jetzt. Selbsterlebtes gerann wieder zu farbigem Dasein; Ueberlieferungen seiner Familie stiegen auf als leibhafte Gestalten.

Dort, unweit des Pfeilers, den eben erst Heiri aufstehend verlassen, steht nun sein Bruder Arnulf. Vorwurfsvoll blickend, deutet er mit dem Finger auf eine zierliche kleine Gestalt, ein Mädchen im Ballschmuck, dann auf die rostige Sense des verstürzten Wildheuers Ruodi Sterzing. Schauerlich! Ein Knochenmann reißt diese Sense vom Pfeiler, steckt sie auf eine Stange, stürzt, indem er sie drohend schwingt, auf das geputzte Mädchen los und ist mit diesem im Nu zu Luft zerflossen. Dort aber, hinter dem Altar hervor, durch den bläulichen Weihrauchnebel, sieht er, wie leibhaft herausgetreten aus dem Rahmen des Sakristeibildes, den hünischen Dietleib Sebald geschritten kommen im langen schwarzen Talar, an der Hand jenen Ahnen haltend, der den hoffnungslosen Rechtsstreit mit dem Grafen Kurt zu beginnen gewagt, den vertriebenen Ulrich. Dieser hält entfaltet ein vergilbtes Pergament. Sie treten an die vorderste Sitzreihe, vor den Grafen und seine Tochter, und zeigen das Pergament. Die Beiden stehen auf und verbeugen sich. Da springt zwischen sie aus der Luft eine blasse Frau mit verbundenem Kopf in goldgesticktem rothem Sammetmieder und flitterbesetztem Sylphidenröckchen von weißem Musselin. Sie hält ein Knäbchen an der Hand, ergreift das Pergament und wirft es zerrissen auf die Erde. Aber was ist das? Riesengroß, fast bis an die Deckenwölbung ragend, erscheint hinter der Gruppe Udo der Kreuzfahrer, an der Seite das ungeheure, scheidelose Schwert mit geschlängelter Klinge, mit beiden Händen das große Kruzifix der Sebalduskirche zwischen die Nachkommen haltend. Das küssen sie, und dazu spricht vom Altar der Priester den lateinischen Segen. Der Graf hebt das Knäbchen an seine Brust; die Sylphide fliegt in die Höhe und ist aufgelöst verschwunden. Jetzt reicht die schwarzgekleidete junge Dame dem vertriebenen Ulrich die Rechte. Aber nein, das ist ja nicht Ulrich der Ahne, sondern sein eigenes Spiegelbild! Sich selber, den Schauenden, sieht er in ihm wiederholt. Ueber dem Haupte seines Doppelgängers, im Sargkleide, den Kranz von weißen Rosen auf der marmorbleichen Stirn, die geschlossenen Augen noch einmal aufschlagend zu dankendem Blick, mit der Rechten einen Scheidegruß winkend und dann auf die Grafentochter deutend, schwebt dort zur Wölbung empor und verschwimmt im Weihrauchgewölke die Gestalt Cölestinens.

Ulrich fuhr auf. Zwei Hände faßten ihn kräftig schüttelnd an den Schultern.

»Was ist Euch, Herr?« flüsterte Heiri. »Kommet hinaus. Ihr seid kreidebleich und dicke Schweißtropfen stehen Euch auf der Stirn. Die Kirchenluft und das süßliche Gedüfte hat Euch nicht gut gethan.«

Er strich sich mit der Hand über die Augen, athmete tief auf und erhob sich.

Im Mittelgange kam eben der Graf langsam der nahen Kirchenthür zugeschritten, am Arme seine Tochter. Die hatte den Schleier zurückgeschlagen und Ulrich erblickte ihr Gesicht. Er taumelte zurück in seinen Sitz. Diese Züge kamen ihm wundersam bekannt vor, und zeigten doch keine Aehnlichkeit mit irgend einem der Frauenbilder in seinen Erinnerungen. Aber sich Rechenschaft zu geben über die empfangene blitzartige Wirkung ließ ihm ein stärkerer Schreck keine Zeit.

Kaum hatte Hildegard ihn in's Auge gefaßt, als sie mit dem gellen Aufschrei: »Lothar!« zurückprallte und umgesunken wäre, wenn der Vater sie nicht in die Arme genommen. In fallender Haltung, von diesem umschlungen, starrte sie den kaum weniger entsetzten, die Armlehne des Kirchenstuhls umkrampfenden Ulrich an, todtenbleich und mit weit aufgerissenen Augen.

Auch das Gesicht des Grafen verrieth ein abergläubisches Erschrecken beim ersten Blick auf Ulrich.

»Der fünfzehnte Juli!« murmelte er und dachte für sich weiter: »Bringt er uns schon wieder ein Unheil?«

Rasch aber nahm er sich zusammen und flüsterte seiner Tochter in's Ohr:

»Beruhige Dich, mein Kind. Was Dich entsetzt, ist nur eine zufällige, allerdings überraschend große Aehnlichkeit.«

Dann wandte er sich an Ulrich:

»Darf ich fragen, mein Herr, wer Sie sind?«

»Draußen, draußen!« stammelte Ulrich.

Näher tretend, zeigte er sich bereit, die sich langsam aufrichtende, aber immer noch zitternde Hildegard auch auf ihrer linken Seite stützen zu helfen.

Sie wies ihn zurück mit ablehnender Handbewegung. Dabei flog durch ihre Züge ein Schatten verstimmenden Argwohns, der ihr wohlgebildetes Gesicht keineswegs verschönerte. Ja, es lag vielleicht in ihrer Absicht, diese Scheu vor Ulrich noch auffälliger und wohl gar kränkend dadurch zu machen, daß sie den jungen Wildheuer heranwinkte und ihm ihren linken Arm gab.

Ulrich indeß war selbst viel zu sehr erregt, um auf diese Auslegung zu verfallen. Ihr Schreckenswahn, den verstorbenen Bruder in ihm zu erblicken, ihm selbst erklärlich nach dem, was er von Arabella über seine Ähnlichkeit mit Lothar vernommen, entschuldigte ihm zur Genüge diese Bevorzugung seines Führers.

Zwischen dem Vater und Heiri schritt sie aus der Kirche und über die Straße nach dem nahen Gasthause. Dabei sah sie sich mehrmals nach Ulrich um, der neben Heiri mitging, und jedesmal gefaßter, kühler, zuletzt mit einem unverkennbar spöttischen Lächeln. Im hellen Tageslicht mußte sie seine Aehnlichkeit mit dem Verstorbenen zwar immer noch zugeben, fand sie aber doch bei Weitem nicht hinreichend zur Entschuldigung des gespenstischen Wahnes, der sie in der Kirche überkommen. Sie erklärte sich diese Aehnlichkeit jetzt ganz anders, und was sie vermuthete, das gereichte dem Träger derselben in ihrer Meinung offenbar nicht zum Vortheil.

Auch Ulrich hatte derweilen eine Wahrnehmung gemacht, welche ihm in der halbdunkeln Kirche entgangen war: zwei kleine Zeichen auf Hildegard's Stirn. Sie weckten in ihm ein schwankendes Ahnen, daß es doch auch eigene Erinnerung sein könne, was ihm ihr Gesicht bekannt erscheinen ließ. Jetzt indeß hatte er noch nicht Grübelmuße genug, das zweifelhafte, jedenfalls aus bedeutender Zeitferne aufschimmernde und bis dicht an's Erlöschen erblaßte Gedächtnißbild aufzufrischen bis zu voller Deutlichkeit. Erkundigungen des Grafen nach seiner Person und Herkunft rissen ihn in die Gegenwart zurück vom Hinuntertauchen in die Knabenzeit, um das ihr angehörende Erlebniß an die Oberfläche zu holen. Indem er anfangs zerstreut, dann aber auch mit merklicher Absicht zurückhaltend und ausweichend antwortete, trug er selbst dazu bei, den Verdacht Hildegard's zu bestärken. Nach dem Ton der Fragen glaubte er voraussetzen zu dürfen, daß der Graf und seine Tochter von der Familiengeschichte weit weniger wüßten als er, und vielleicht gar nichts mehr von den Umständen, unter denen sich ihre jüngere Linie von seiner älteren abgezweigt. So bekannte er nur, auch Sebald zu heißen und zu wissen, daß der Stammvater seiner bürgerlichen Eltern der Sohn eines Freiherrn Sebald von Sebaldsheim gewesen sei. Er spürte eine Regung des Gewissens, als er es unterließ, die Deutung dieser Angabe zu widerlegen, welcher der Graf zwar nicht mit Worten, wohl aber mit einem schalkhaften Lächeln einen sehr verständlichen Ausdruck gab. Noch etwas lauter vernahm er den Vorwurf seiner inneren Stimme, als er auf die Frage nach seinem Stande sich lediglich für einen Gelehrten und Schriftsteller ausgab, womit er zwar keine Unwahrheit, aber doch nur die halbe Wahrheit sagte. Ein Gefühl, dessen er nicht Herr werden konnte, hielt ihn ab, sich schon jetzt als Lutheraner und gar als lutherischer Pastor zu bekennen. »Das,« entschuldigte er sich selbst, und vielleicht nicht vollkommen ehrlich, »das will ich mir versparen auf die zu hoffende nähere Bekanntschaft.«

Diese Hoffnung aber ward ihm vorerst getäuscht. Kaum eine Stunde, nachdem sich der Graf sehr höflich und Hildegard sehr kühl von ihm verabschiedet, sah er aus dem Fenster der schräg gegenüber liegenden Wirthschaft zum Schwert, in die er mit Heiri zu einer Mahlzeit eingekehrt, ein leichtes Wägelchen am Storchen vorfahren und in diesem die beiden Stammgenossen bergwärts von dannen rollen. Die Erkundigung Heiri's ergab, daß sie das Fuhrwerk zur Fahrt nach dem Klönsee gemiethet.

Ebendahin brachen bald auch die beiden Wanderer auf. Jetzt fiel es Ulrich nicht ein, den stark ansteigenden schmalen Fahrweg entlang dem wild brausenden, aus einer ununterbrochenen Folge von Wasserfällen bestehenden Löntsch zu verlassen, obwohl auch hier mehrmals ein Fußpfad seitwärts abzweigte.

Die Sonne war längst hinter dem massigen Rücken des Wiggis verschwunden, mochte aber vom wahren Horizont noch eine Viertelstunde entfernt sein, als die Wanderer auf einem baumlosen, spärlich begrasten Hügel rechts das kleine Wirthshaus erblickten. Gleich darauf rückte ihnen der Wasserspeiser des wilden Löntsch, der Klönsee, in Sicht, erst in flußartiger Schmäle, dehnte sich aber den rüstig Emporschreitenden schnell aus zu einem west- und ostwärts zugespitzten Becken, ungefähr geformt wie der Kern einer Pflaume oder ein halbgeschlossenes Auge. Die hellere, spiegelglatte Südseite der schwarzgrünen Fläche verdoppelte wundersam scharf die ungeheuern, schneegefleckten Felskolosse des Glärnisch, dessen Fuße hier nur ein schmaler Streifen Ufergeländes vorlag, theils Wiese, theils Gebüsch, das sich westwärts zu niedrigem Waldwuchs verdichtete. Die bereits überschattete Nordseite, an deren Rande die Fahrstraße weiter lief, spiegelte von den Schroffen des Wiggis nur einen verwaschenen Umriß. In der Mitte hier und dort lichter gefleckt vom Wiederglanz einer abendrothen Wolkenflocke schaute der ernst schöne See aus der Tiefe seines Rahmens von himmelhohen Felswänden herauf als schlummermüde blinzendes, träumerisches Auge des dunkeln Längsthales.

Jetzt glaubte Ulrich unweit des Westendes aus dem schwarzen Nordsaum des Wassers einen Nachen der lichteren Mitte zugleiten zu sehen. Er zog sein Fernglas aus dem umgehängten Ledergehäuse und stellte es ein. Doch die Beleuchtung war für den beträchtlichen Abstand zu schwach, um durch das kleine Instrument mehr zu unterscheiden, als vorn eine Aufragung, die den Rudernden bedeuten konnte, und weiter hinten eine zweite, etwas höhere, von der es ihm ungewiß blieb, ob sie von einer oder von zwei sitzenden Personen gebildet würde.

Rasch ging er vier- oder fünfhundert Schritte weiter am Nordufer, verließ den Fahrweg und nahm seinen Stand an einem jungen Baum, der ihm mit einer Astachsel eine bequeme Auflage für das Fernrohr darbot. Der Nachen war beträchtlich näher gekommen und kehrte ihm nicht mehr nur eine Langseite zu. Eben durchschnitt er eine Stelle, die ein hoch oben noch sonnenbeschienenes Wölkchen spiegelte. Nun sah er deutlich die in gemächlichem Takt eintauchenden Ruder und auf der hinteren Bank zwei Gestalten, einen Mann und eine Frau in dunkler Kleidung. Die Gesichter zwar erschienen kaum angedeutet als hellere Pünktchen und von Erkennen der Züge konnte nicht die Rede sein. Je länger indeß er hinschaute, desto sicherer glaubte er die Insassen des Kahnes für den Grafen und seine Tochter halten zu dürfen.

Jetzt verschwand der Nachen hinter einer aus dem Südufer vorspringenden bewaldeten Ecke. Drüben, erklärte Heiri, bezeichne ein Denkmal die Lieblingsstätte des Dichters Geßner, der sich hier am Klönsee oft aufgehalten. Vermuthlich um das zu besehen, seien die Herrschaften eingelaufen in die kleine Bucht, die der See nach dem Glärnisch einschneide.

Geraume Zeit wartete Ulrich auf das Wiedererscheinen des Fahrzeugs, aber vergebens, bis die Dunkelheit so zugenommen hatte, daß er vom jenseitigen Ufer auch durch den Feldstecher nichts mehr sicher unterscheiden konnte.

Heiri wurde ungeduldig und rieth zur Umkehr nach dem Wirthshause; sie liefen sonst Gefahr, von den wenigen Zimmern keins mehr frei zu finden und nach Netstall zurückkehren zu müssen. Doch damit fand er kein Gehör. Ulrich ging an's Gestade, setzte sich auf einen vom Wiggis bis in das flache Saumwasser niedergestürzten Felsblock und spähte träumend in die Nacht hinaus, obgleich von der Landschaft nur noch farblose Umrisse wahrnehmbar blieben und selbst die Schneefelder auf dem Glärnisch drüben im letzten Dämmerlicht schon verwaschen grauten. Es that ihm wohl, sich in der Halbnacht auf dem Grunde des melancholisch schönen Gebirgsthales der aus Zweifel und Hoffnung gemischten Stimmung hinzugeben, mit der das Erscheinen der katholischen Stammcousine seine Trauergedanken abgelöst und seinen selbstquälerischen Gewissensvorwürfen so plötzlich als gebieterisch völliges Verstummen auferlegt hatte.

Jetzt schlug ferner Gesang an sein Ohr. Eine schlichte Weise, ohne Begleitung gesungen von einer nicht kunstmäßig geschulten, aber wohllautenden Frauenstimme, erklang vom Wasser her durch die Abendstille. Die Entfernung war zu groß, um ihn ein Wort verstehen zu lassen. Als aber nach kurzer Pause die unsichtbare Sängerin mit einer zweiten Strophe anhob, ihm inzwischen offenbar etwas näher gerückt, da erkannte Ulrich die Melodie eines alten, ihm wohl vertrauten Volksliedes. Sogleich gesellten sich, aus seinem Gedächtnis; mitklingend, zu den Tönen auch die Textworte. Bis in's innerste Mark getroffen von ihrer Bedeutsamkeit für die Wünsche seiner aufglimmenden Leidenschaft und die ruhelos in ihm arbeitenden Gedanken, flüsterte er leise vor sich hin:

»Es waren zwei Königskinder,
Die hatten einander so lieb;
Sie konnten zusammen nicht kommen,
Das Wasser war viel zu tief.«

Der Gesang hatte längst aufgehört, als er immer noch auf seinem Felsblock saß, als wolle er auf die in ihm stürmenden Fragen Antwort erlauschen aus dem leisen Gemurmel am Gestade, mit dem der spiegelglatte, aber dennoch ein wenig auf und nieder schwankende See entweder seine Schlummerathemzüge hörbar machte, oder vielleicht auch ein letztes Auszittern der Wallung, die in der Ferne erregt war von der Furche des Nachens mit der verstummten Sängerin.


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