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Neuntes Kapitel.

Ablaß.

 

Ich richte mild, wo falsche Pfade
Man für den rechten Weg zum Heil hält,
Doch zornig streng, wo Gottes Gnade
Als Waare Priesterhabsucht feil hält.

 

Die Wagen hielten. Ulrich stieg aus und hatte seitab vom Wege ein kurzes Gespräch mit dem Grafen.

Erst nachdem er dann eine Weile, neben Heiri sitzend, die Fahrt fortgesetzt, ward er der eigenen Erregung weit genug Herr, um zu bemerken, daß das Gesicht seines Gefährten hochroth glühte.

»Was ist Dir, Heiri?« frug er. »Du strahlst ja von Freude.«

»Seht, Herr,« erwiederte der Wildheuer und hielt ihm die zitternde, mit Goldstücken gefüllte Hand hin. »Weiß noch gar nicht, wie ich's meinem alten Mütterle beibringen soll, ohne sie krank zu machen mit dem Freudenschreck über solchen Reichthum. Davon, mein' ich, können wir unser Zinshäuschen mit Garten und Kuhweide kaufen und behalten noch was übrig. Solch' ein Geschenk, wo ich schon dachte, der Herr würde mich anschnauzen und aus dem Wagen werfen! Denn ich hatt' ihm just eine scharfe Predigt gehalten.«

»Ei, worüber denn?«

»Daß er ein wunderlicher Vater sei, auch Ihnen schlecht lohne für die Rettung der Tochter. Wo er doch wisse, daß nichts d'raus werden kann. Sie Beide so in Versuchung zu führen! Eigentlich, Herr, war ich auch auf Euch falsch und knurrig. Vorgestern und gestern spürt' ich mehrmals, wie mir die Augen übergehen wollten. Dachte mir, Der ist mehr als ein ganzer Kerl, wenigstens anderthalbe. Sein Gewissen, kommandirt rechts um. Herzenswund, aber gehorsam marschirt er stramm hinein in's Gefecht mit scharfen Schmerzen. Heut aber sperrt sich der luther'sche Pastor wie in engem Ofen zusammen mit der päpstischen Jungfer, die so lichterloh brennt, daß ich blind sein müßte, um es nicht zu merken. Doch euch vornehmes Volk versteht unsereins nimmer ganz. Mit 'nem Gesicht, so ernsthaft wie Charfreitag, könnt Ihr zugleich lächeln. Ganz schlimm scheint's doch nicht ausgefallen zu sein.«

»In Dir steckt etwas, mein lieber Heiri,« entgegnete Ulrich. »Eines Tages wird's Dir zu eng werden zwischen den Glarner Bergen. Wenn Du dann draußen Rath und Hülfe brauchst, dann komm' zu mir nach Odenburg. Sollst in mir einen treuen Freund finden.«

»Akkurat so hat schon der Graf zu mir gesprochen.«

»Dann werd' ich vielleicht auch den Vorwurf, den Dein rechtschaffener Sinn gegen mich und den Grafen erhob, entkräften und Dir's erklären können, worüber der luther'sche Pastor lächelt mit einem Charfreitagsgesicht. Daß Du's richtig so nennst, glaub' ich Dir ohne Spiegel. Jetzt aber kein Wort mehr. Ich bin todmüde von meines Lebens schwerster Passionsarbeit.«

Im Luftkurort Richisau, wo der fahrbare Weg aufhört, waren nur zwei Saumpferde zu erlangen. Mit Heiri zu Fuß folgend, hätte Ulrich ohne besondere Anstrengung mit den beiden Reisenden Schritt halten können; doch absichtlich ließ er sie einen erheblichen Vorsprung gewinnen und uneingeholt spät Nachmittags eine Viertelstunde früher in Einsiedeln ankommen.

Der Ort machte ihm den erwarteten Eindruck eines Marktes für Andachtwaaren. In den Läden sah er fast nur Gegenstände feilgehalten und zur Schau gestellt, die zum Wallfahrtskult in Beziehung stehen: religiöse Schriften, Gebetbücher, Madonnen- und Heiligenbilder in Oeldruck, Kupferstich, Lithographie und Holzschnitt, illustrirte Geschichten des Klosters; Kruzifixe in allen Größen, von den theuersten aus Elfenbein gemeißelten bis zu den billigsten und schlichtesten in Holz geschnitzten oder von Gyps geformten; Rosenkränze; Miniaturnachahmungen von Armen, Beinen, Händen und Füßen, bestimmt, von Wallfahrern mit Gliedergebresten am Gitter der Gnadenkapelle aufgehängt zu werden; besonders aber Statuen und Statuetten der Himmelskönigin von fast lebensgroßen an bis zu kaum fingerlangen, unter den ersteren einige recht wohlgestaltige von lebenswarm kolorirter Thonmasse, die den Beweis lieferten, daß in der That Skulptur und Malerei mit bemerkenswerthem Erfolge zusammenwirken können.

Die Sonne war nicht mehr weit vom Horizont, als Hildegard am Arm ihres Vaters und neben ihr Ulrich aus dem Gasthofe zum Pfauen die sanft ansteigende, gepflasterte Berglehne zum berühmten Kloster emporschritten. Oben, rechts überragt von einem Gebirgszuge, sahen sie es vor sich liegen mit einer Front von zwei je dreizehnfensterigen, vierstöckigen, beiderseits um einen Halbstock zu Pavillons mit Dachreitern erhöhten Flügelgebäuden, welche den vorspringenden Mittelbau, die Wallfahrtskirche mit ihren zwei Flankenthürmen einschließen.

Um einen kleinen Säulentempel mit einem Steinbilde der Jungfrau und dem vielstrahligen Marienbrunnen sahen sie mehrere Pilgerinnen die Runde machen und von jedem Strahl einige Tropfen schlürfen. Ihm vorüber gelangten sie in einen halbkreisförmigen Vorplatz, den wie zwei zum Empfang weit geöffnete Arme zwei nach innen zwölffach gepfortete Bogengänge umrahmen mit Kaufgewölben für Andenken an Einsiedeln und allerlei Wallfahrerbedarf. Dann erreichten sie über eine vielstufige Freitreppe die geräumige Plattform vor dem geschlossenen Hauptportal der Kirche, das nur an besonders hohen Festtagen oder für Besucher allerhöchsten Ranges geöffnet wird.

Eine Weile schon hatte Ulrich, als ob er etwas Erwartetes vermisse, emporgespäht nach der breiten Friesleiste, die unter einem vorspringenden Gesims die Front sowohl der beiden Thürme als der Kirche umläuft. Als er jetzt den Feldstecher aus dem Umhängefutteral zog und ihn eben dahin richtete, fragte der Graf:

»Wonach schauen Sie wie vergeblich suchend?«

»Nach einer Inschrift. Nicht nur nach älteren Beschreibungen und Abbildungen aus dem vorigen und vorvorigen Jahrhundert, sondern auch nach dem Buch eines sonst ziemlich zuverlässigen Touristen, das vor etwa dreißig Jahren gedruckt wurde, las man dort oben in großen Goldbuchstaben, was hier zu haben sei.«

»Wissen Sie, wie die Inschrift lautete?«

»›Hic est plena remissio peccatorum a poena et a culpa.‹ Das bedeutet« – erklärte er für Hildegard, »daß hier die Sünder vollen Erlaß fänden der Strafe und der Schuld. Sehen Sie,« fügte er hinzu, »dort, wo die Friesleiste an der Vorderseite des linken Thurmes beginnt, zeigt die Steinfläche etwas bleichere Querstreifen, als hätten da bedeckende Buchstaben die Dunkelung durch das Wetter vermindert. Auch will es mir scheinen, als ob da die schon halb verschwundene Spur das Wort HIC noch errathen lasse.«

»Man wird also,« meinte der Graf, »die Inschrift beseitigt haben als nicht mehr zeitgemäß und in der überwiegend protestantischen Schweiz anstößig. Unter den Benediktinern, denen das Kloster gehört, gibt es wissenschaftlich hoch gebildete Männer. Ich weiß von einem früheren Besuch, daß die Bibliothek wohl ausgestattet, auch für die Unterrichtsanstalten des Klosters ein Naturalienkabinet und eine Sammlung vorzüglicher physikalischer und astronomischer Instrumente vorhanden ist. Die Reformation hat doch auch in der katholischen Kirche einen bedeutenden Umschwung bewirkt.«

Durch das Seitenportal rechts traten sie ein. Ein Röllchen Gold aus der Tasche ziehend, wollte Hildegard auf den eisernen Opferstock zuschreiten, den sie an einer Binnenwand aufgestellt sah. Doch ihr Vater bedeutete sie, zu warten, und wandte sich fragend an einen Kirchendiener. Dieser führte die Beiden nach einer der kapellenartigen Abtheilungen, die im Seitenschiff rechts mit einander in Verbindung stehen, nach dem Hauptschiff aber durch Gitter geschlossen sind. In derselben lag in ebenfalls vergitterter Langnische über dem Altar das prächtig bekleidete Skelet eines Märtyrers. Auf der Estrade vor dem Altar stand ein Geistlicher in stummem Gebet. Auf leises Anklopfen des Sakristans wandte er sich um, trat vor und deutete auf ein breites, einem flachen Löffel nicht unähnliches Blech, das auf der Innenseite des Gitters unter einer Oeffnung zum Durchstecken der Hand angebracht war. Auf dies legte Hildegard ihr Opfer. Der Geistliche nahm es mit dankender Verneigung in Empfang und frug, mit welchem Namen er die Spenderin so reicher Gabe vorschriftsmäßig einzutragen habe.

»Ich hätte gewünscht, ungenannt zu bleiben,« flüsterte sie. »Wenn das aber gebotener Brauch ist, so bitt' ich zu schreiben: ›Der Muttergottes von Einsiedeln angelobter Dank für augenblickliche Erhörung des Gebets um Rettung aus Todesgefahr, dargebracht von Hildegard, Tochter des Grafen Udo von Sebaldsheim‹.«

Der Priester verneigte sich abermals und noch tiefer, trat an ein kleines Pulpet links vom Altar, that die Rolle in eine darüber angebrachte Truhe und öffnete ein mit vergoldeten Klaspen geschlossenes Foliobuch, um das Geschenk einzutragen. Dann kehrte er auf die Estrade des Altares zurück und sprach mit segnender Geste eine lateinische Danksagung.

Unterdeß hatte Ulrich, in einiger Entfernung zurückgeblieben, Zeit gehabt, das imposante, wenn auch mehr prunkvolle als kunstschöne, mehr Staunen über seine verschwenderische Pracht als Andacht weckende Gotteshaus musternd zu beschauen und die kaum übersehbare Menge der Altar- und Freskengemälde zu bewundern, von denen so manche von berühmten Meistern ersten Ranges herrühren. Doch die schmerzliche Spannung, mit welcher er dem nahen Abschied von Hildegard entgegensah, ließ ihm wenig Empfänglichkeit für den Formen- und Farbenreichthum der ihn umgebenden Gebilde. Ihre Wirkung beeinträchtigte ein fertig mitgebrachtes feindliches Empfinden gegen die »Ablaßkirche«, das er etwas mildern zu sollen fast bedauert hatte, als er draußen jene herausfordernde, für den Protestanten empörende Inschrift nicht mehr vorgefunden.

Ein gewaltiger, unter der mittelsten Kuppel hängender Kronleuchter von vergoldetem Kupfer, dessen Gewicht auf dritthalbtausend Pfund angegeben wird, fesselte seine Aufmerksamkeit. Den hatte Kaiser Napoleon III sechs Jahre vor seinem furchtbaren Sturz als Weihgeschenk hieher gestiftet. Auf dem zweiten Hauptreif liest man in Lettern von glänzendem Email: »Ich wünsche mich und meine Kinder unter den Schutz der seligsten Jungfrau zu stellen.« Ulrich wunderte sich, diese Legende hier geduldet zu sehen. Wirkte sie nicht schreiend als tragische Ironie? That das so rasch auf diesen Spruch des fatalistischen Usurpators gefolgte zerschmetternde Schicksal nicht laut Einspruch gegen die mystische Heilsmacht der Wallfahrtskirche und ihrer Patronin?

Ulrich stand sonst keinesweges unversöhnlich gegenüber dem durch die Sinne um Andacht werbenden Kultus. Trug er sich doch mit der Absicht, seiner Kirche wieder zu gewinnen, was sie im Uebereifer der nothwendigen Läuterung davon auch Heilsames verworfen hatte. Hier aber und heute sah er in den mit Diamanten gepflasterten Monstranzen und Altargefäßen, in den mit massig gediegenen und kunstreichen Silberarbeiten bedeckten Tabernakeln, in dem Goldprunk, mit dem er namentlich den Chor aufdringlich überladen fand, nur eine Verkörperung eben der verderblichen Lehre, mit deren Verdammung die Reformatoren ihr Werk begonnen. Waren diese stupenden Reichthümer nicht greifbare Zeugnisse, wie schwunghaft und ergiebig man fast vier Jahrhunderte über den schamlosen Tetzel hinaus die Ausbeutung des Aberglaubens, den Ablaßhandel, fortgesetzt hatte? Dies von millionenwerthigem Schmuck strotzende Gotteshaus erschien ihm als ein Arsenal von gleißenden Truginstrumenten, nur allzu meisterlich erfunden, um damit hinwegzuoperiren aus dem Hirn der Menschheit die seit Luther und Zwingli wieder aufgedämmerte oberste Heilswahrheit: daß die Seligkeit nur zu gewinnen ist durch einen Glauben, der ein rastloses Trachten nach Gottähnlichkeit fruchtet und daß Lebensglück nur die fleißig arbeitende eigene Hand der also Glaubenden ermühen kann.

Er entsann sich der Geschichte dieser Klosterkirche. Als vor einem Jahrtausend eine Kapelle für das wunderthätige Marienbild gebaut und der Bischof von Konstanz erschienen war, um sie zu weihen, da hatte man ihn empfangen mit der Meldung, das sei nicht mehr nöthig; Engelstimmen hätten verkündet, daß inmitten der himmlischen Heerschaaren der Heiland selbst erschienen sei und die Weihe vollzogen habe. Die Bestätigung dieses Wunders als eines unzweifelhaften durch einen Papst von sehr zweifelhaftem Recht auf den heiligen Stuhl hatten die Mönche als vollgültig in der Christenheit verbreitet und darauf hin auch die lockende Versicherung jener Inschrift ihrem Bau an die Stirn geschrieben. Bald waren die Pilger und – Zahler in hellen Haufen herbeigezogen, und zuletzt Hunderttausende alljährlich.

So hatte denn die unschöne schwarzbraune Holzpuppe wirklich ein großes Wunder vollbracht: die Häufung unermeßlicher Schätze ohne ernste Arbeit und inmitten einer unfruchtbaren Gebirgseinöde die Gründung dieses üppigen Kloster- und Kirchenpalastes.

Welche schwer widerstehliche Verführung zu dem Wahn, daß einer mystischen Macht von so augenscheinlich großer Wirksamkeit die Erhörung des Gebets um eine Wohlthat für den einzelnen Pilger ein leichtes Spiel sein müsse!

Traute man doch der zarten Heilandsmutter laut mancher Danksagung auf eingemauerten Marmorplättchen nicht nur die Löschung von Feuersbrünsten und die rettende Beschwichtung schrecklicher Meeresstürme zu, sondern sogar den Willen und die Kraft, Kriegshülfe zu leisten; wie das zum Beispiel einige schwedische Bomben beweisen sollten, die man hier aufgehängt als von ihr verhindert am Platzen und Schadenthun in der belagerten Stadt Ueberlingen.

Auch bezeugten zahllose Votivtäfelchen, oft verbunden mit plastischen Nachbildungen verkrüppelt oder krank gewesener Glieder, und als hier entbehrlich geworden aufgehängte Krücken mit Aufschriften den Dank für wunderbare Heilungen schwerer Leibesschäden. Den protestantischen Pastor aber erinnerten sie an die Erzählung Heiri's vom wächsernen Bein, das seine Großmutter vergeblich hieher geopfert. Den tausend oder zweitausend Wallfahrern, die nach Aussage dieser Denkzeichen geglaubt hatten, erhört und geheilt worden zu sein, sah er anklagend gegenübertreten die Millionen von Kranken und Krüppeln, die im Lauf der Jahrhunderte ihre sauer verdienten Sparpfennige, statt sie zu verwenden zu vernünftiger Kur, hergetragen zur Mehrung dieses blendenden Mammons, um ebenso bitter getäuscht zu werden in ihrer Hoffnung auf Genesung, wie jene gelähmte Frau eines armen Wildheuers.

Zu wenig vielleicht gab er heute Raum der ihm sonst nicht ungeläufigen milderen Auslegung: daß mittelst des unzweifelhaft starken Einflusses, den die Phantasie des Menschen auch auf seine eigene Leiblichkeit ausüben kann, hier wohl so Manchem sein Glaube geholfen und die hergestellte Gemüthsruhe, die Zuversicht, begangener oder vermeintlicher Sünden ledig geworden und von aller Angst vor Strafe erlöst zu sein, die Genesung wirklich gefördert habe. Was ihn hinriß zu unversöhnlich harter Berurtheilung, war der Zuruf, in den sich diese Zeugnisse des Aberglaubens und das stolze Gepränge seiner Schöpfungen übersetzten: Hier siehst Du's vor Augen, wie hoffnungslos breit und tief der Abgrund gähnt zwischen Dir und Hildegard; denn ihr ist alles das heilig, was Du verurtheilst.

In solcher Stimmung befand er sich, als Hildegard mit ihrem Vater unter Vorantritt des Geistlichen in seine Nähe zurückkehrte.

»Kommen Sie mit in die Gnadenkapelle,« flüsterte sie ihm leise zu; »Sie haben versprochen, mir nahe zu sein, wann ich zur Gottesmutter bete.«

Die Kirche war fast leer geworden. Vor dem Frontgitter der mit schwarzem Marmor bekleideten Gnadenkapelle knieten nur noch zwei oder drei bleiche Frauen, in streng eintönigem Wimmerlaut Gebete hersagend.

Der Geistliche öffnete das Seitengitter. Im Begriff, dem Eingetretenen zu folgen, wandte sich Hildegard halb links zu Ulrich mit bittendem Blick und Wink.

»Thun Sie's!« flüsterte der Graf dem noch Zögernden zu, verabschiedete sich von ihm mit einem Händedruck und verließ die Kirche raschen Schrittes.

Ulrich war es, als stiege der Schatte seines Ahnen, des Mitreformators Dietleib, aus der Schwelle, um ihm den Weg zu wehren. Doch er besiegte für Hildegard das Widerstreben seines Gewissens und ging mit hinein.

Vor sich im Hintergrunde der Kapelle sah er den Altar von weißem karrarischem Marmor, in dessen Fuß ein Relief von vergoldeter Bronze, die Engelweihe vorstellend; über ihm in einer gewölbten Nische, beleuchtet von vielen Wachskerzen und dreien Tag und Nacht ununterbrochen brennenden silbernen Lampen, umgeben von Strahlen und zackigen Blitzen aus Edelmetall, in einem grell glänzenden Kranz von vergoldeten Wolken stehend, das weltberühmte Marienbild, in der Rechten das aus einem Strauß goldener Rosen aufragende Szepter, im linken Arm das Jesusknäbchen. Mit Edelsteinen besetzte gediegene Goldkronen funkeln auf dem Haupte der Mutter wie des Kindes. Sowohl der Schleiermantel, der hinter der Jungfrau, befestigt unter der Krone, ebenso weit herab fällt als der breite Fransensaum des Kleides, als auch ihr Leibgewand ohne Gürtel und Einbiegung in der Schlänke sind von einem reich mit großen Arabesken gemusterten Stoff. Vielleicht nur wegen der blendenden Fülle des Lichtes ist das Auge geneigt, diesen Stoff nicht für gewebten Brokat, sondern für geschmiedetes pures Gold zu halten; womit man denn auch die faltenlose, ungefällig starre Kegelform des ganzen Anzuges etwas entschuldigt. Steifer noch, fast wie ein Kerzenauslöscher, erscheint das gleichstoffige Kragenkleidchen, aus dem das Jesuskind durch einen Schlitz die Linke mit der kreuzgeschmückten goldenen Weltkugel hervorstreckt. Aeußerst seltsam kontrastiren gegen diese helle Goldpracht die unverhältnißmäßig kleinen, blank schimmernden, beinahe kohlschwarzen Gesichter. Nach den zum Theil vortrefflichen anderen Marienbildern der Kirche, namentlich nach dem entzückend schönen über dem hinteren Chorgewölbe, wirkten sie auf Ulrich abstoßend. Das angeblich anderthalb Jahrtausende übersteigende Alter der Puppe vermochte sein beleidigtes Schönheitsgefühl nicht zur Ehrfurcht zu versöhnen.

Oft schon hatte er gesonnen, wie sich wohl mit Bild und Lehre in einem annehmbaren Marienkult auch seiner Kirche ein Ideal des Ewigweiblichen zurückretten ließe. Hier aber fühlte er sich nicht gefördert in diesem Vorsatze, sondern irre gemacht, ja fast zurückgeschreckt. Er warf sich selbst ungerechte Härte vor und puritanische Verkennung eines unausrottbaren Triebes im Menschengemüth. Er versuchte sich milder zu stimmen mit der Erwägung, daß von den zahllosen silbernen und goldenen Herzen, die er als Weihgeschenke ringsum an den Wänden der Kapelle aufgehängt sah, doch sicherlich so manches nicht als Kaufschilling für Gewährung eines Anliegens hergestiftet sei, sondern als frommer Dank eines Pilgers, dem hier sein eigenes Herz ein Empfinden des Ewigen mit der heiligen Rührung echter Andacht durchzittert und es vielleicht bekehrt und gestärkt hatte zu gottgefälligem Lebenswandel. Doch ununterdrückbar blieb in ihm ein Groll auf diese mit sinnbetäubender Prachtverschwendung geschmacklos überladene Holzfigur. Ihm war sie nur der Fetisch eines verderblichen Aberglaubens. Daß sie doch auch der eben in stummem Gebet vor ihr knieenden Hildegard nur gelte für ein Symbol ehrwürdiger, wenn auch kindlicher Vorstellungen, das vergaß er gänzlich. Statt dieser Vorstellungen klagte er das Marienbild an, schuld zu sein an der Hoffnungslosigkeit seiner innig erwiederten Liebe und an der ihm auferlegten qualvollen Pflicht, sie noch in dieser Stunde der Theuern selbst aus dem Herzen reißen zu helfen.

Nur bestärkt fühlte er sich in dieser begreiflichen, aber ungerechten Auflehnung durch den erst befremdeten, dann zornigen Blick, den ihm der Geistliche zuwarf, als er dessen wiederholten Wink, doch auch niederzuknien, unbeachtet ließ. Stolz und mit hartem Ernst im Gesicht reckte er sich noch etwas höher empor.

Ohne aufzustehen, wendete jetzt Hildegard den Kopf rückwärts. Ihr geröthetes Antlitz wurde bleich, als sie Ulrich kerzengerade stehen sah und erschrocken den harten, beinahe häßlichen Zug von Strenge in seinem Gesicht wahrnahm. Nochmals faltete sie darauf die Hände und beugte sich vor, bis sie mit der Stirn die unterste Stufe des Altars berührte. Er hörte sie tief Athem holen und leise schluchzen.

Endlich erhob sie sich. Mit einem vorwurfsvollen Frageblick richtete sie auf ihn ihre nassen Augen. Ohne eine Silbe zu sprechen nahm sie dann seinen Arm und verließ mit ihm die Kirche.

Auch unterwegs wagten Beide kein Wort.

Im Gasthofe, vor der Thür zu den Zimmern des Grafen, ließ Ulrich ihren Arm los.

»Wollen Sie nicht mit eintreten?« flüsterte sie betroffen.

»Nein, theure Hildegard,« gab er zur Antwort, »hier müssen wir scheiden, und vielleicht auf lange Zeit. In Ihren Zügen und feuchten Augen hab' ich den Bescheid gelesen, den Ihnen vor dem Marienbilde Ihr eigenes Gemüth gegeben hat. Ich las auch auf Ihren Lippen die vorwurfsvolle Frage, warum ich hinter Ihnen aufrecht stehen geblieben sei. Ich fühlte, nicht knieen zu dürfen in der katholischen Ablaßkirche. Daß ich Protestant bin, wissen Sie schon. Aber Sie wissen noch nicht, was ich zu Netstall aus verwerflicher Schwäche gegen eine aufflammende Leidenschaft, vorvorgestern und heut in besserer, wenn auch vielleicht irriger Absicht und zugleich auf den Wunsch Ihres Vaters verschwiegen habe. Ich bin lutherischer Pastor. Leben Sie wohl – auf Wiedersehen – aber Gott weiß, wann. Mit dem Liede, dessen Melodie ich aus Ihrem Munde über den Klönsee durch die Abendstille klingen hörte, haben Sie unserer Liebe den Schicksalsspruch gesungen:

›Es waren zwei Königskinder,
Die hatten einander so lieb …‹«

Schon den Thürdrücker zu fassen im Begriff, reichte sie ihm die heftig zitternde Hand und flüsterte mit thränenerstickter Stimme:

»Sie konnten zusammen nicht kommen,
Das Wasser war viel zu tief.«

Er drückte die Lippen auf ihre Hand und eilte dann hastig die Treppe hinunter.


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