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[Vorworte]

Vorwort zur zweiten Auflage.

Eine Dichtung schon zum ersten Ausrücken mit dem Schild einer Vorrede rüsten, heißt sie leicht verwundbarer Blößen verdächtigen. Ihre Idee wird damit der Rechtfertigung, ihre Verständlichkeit der Nachhülfe bedürftig erklärt. So trägt sie an der Stirn das Geständniß, nicht genügend vermocht zu haben, was unerläßlich sie selbst leisten muß, um ein Kunstwerk zu sein.

Willkommen dagegen darf einem Schriftsteller, der so gut wie ganz aufgehört hat, in der Tagespresse das Wort zu nehmen, die Gelegenheit sein, mit seinen Lesern und Beurtheilern nachträglich zu plaudern über ein Werk, das um Erfolg nicht erst zu werben braucht.

Ich willfahre daher gern dem Ersuchen der Verlagshandlung, das zweite Auftreten der Sebalds mit einem Prolog zu eröffnen.

Ich erfülle zunächst die angenehme Pflicht, den Zeitungen und Journalen meinen Dank auszudrücken für weit über hundert, mit wenigen Ausnahmen so würdige als warm anerkennende Rezensionen, welche das Verständniß und die Verbreitung der Sebalds wesentlich gefördert haben.

Ferner nicht unterlassen darf ich eine Entschuldigung. Nicht nur Freunde, auch bisher mir unbekannte Leser und Leserinnen haben sich bewogen gefühlt, mir zu schreiben, wie viel Genuß und Erbauung sie aus diesem Roman geschöpft. Einige sogar, glückliche Folgen von ihm geweckter Entschlüsse ergreifend zu schildern. Solcher Briefe ist mir eine so große Anzahl zugekommen, daß ich nur wenige derselben eingehend beantworten konnte. So sei denn hier versichert, daß mir dazu, während der Arbeit an einem Werke gleicher Gattung, nur die Muße gefehlt hat, keineswegs die Empfänglichkeit für die beste der Dichterfreuden nächst der des Schaffens: von der gewünschten Wirkung einen Theil wenigstens schon selbst zu erleben.

Fast in allen jenen Zuschriften wurden zugleich dieselben Fragen berührt, auf welche ich Einigen Bescheid geben konnte. Ich glaube daher auf die untilgbare Briefschuld eine nicht unerwünschte Theilzahlung zu leisten, wenn ich etlichen Sätzen aus meinen Antworten hier eine Stelle gönne.

In einem jener an mich gerichteten Briefe heißt es:

»Dem augenblicklichen Impulse, Ihnen meinen Dank zu schreiben, folgte ich nicht, weil Sie schon von den Besten unserer Zeit gehört haben, was ich sagen wollte. Auch heute bewegt mich dazu nur die Aeußerung des Hofpredigers St. über die ›Tragödie in Bonn im Lutherjahre‹. Zu einem Bilde verschmolzen mit dem Helden dieser Tragödie stieg Ulrich Sebald mir auf und ließ mich nahen, inneren Zusammenhang ahnen zwischen jenen Ereignissen im Herbst 1883 und Ihrem Roman. Was Sie Ulrich in den Mund legen, deckt sich das nicht mit den Aussprüchen, zu denen der Bonner Professor vor einem großen Kreise Andersdenkender den Muth hatte? Sollte nicht B.'s wundervolle Rede über das evangelische Christenthum wesentlich beigetragen haben, Ihr Werk anzuregen?«

Die Rede B.'s, erwiederte ich, habe ich gelesen und vielfach mit meinen Ideen harmonirend gefunden. Es ist möglich, daß meine Erinnerung an dieselbe bei der letzten Feilung noch mitgewirkt hat. Alle Hauptstücke meines Romans waren aber schon geschrieben, als jener Vortrag erschien. Es liegt mir natürlich fern, zu behaupten, daß Professor B. unter Einwirkungen von mir gesprochen habe. Indeß werden Sie, wenn Sie sich vertraut machen wollen mit meinen früheren Schriften, namentlich den »Andachten« und der »Erfüllung des Christenthums«, bald inne werden, daß in der Regel, wo ich zusammenzutreffen scheine mit den Aussprüchen Anderer, diese von mir beeinflußt sind und nicht umgekehrt. – Der Poet hat weder Geschichte zu schreiben, noch zu porträtiren. Im Roman hat er, meines Erachtens, die Aufgabe, wirkliche Begebenheiten vom Staube des Zufalls zu reinigen, um aus ihnen eine folgerichtige Handlung zu schaffen, hierauf nach lebenden Modellen dichterisch wahre Gestalten zu bilden, von welchen eben diese Handlung als von ihrem Wesen unausbleiblich geboten erscheint. In diesem Sinne sind alle Personen meines Romans, obgleich mit wirklich geschauten Zügen ausgestattet, doch zugleich typische Gestalten; auch diejenigen des Kapitels »Krachmann und Genossen«, für welches mir die Akten zweier Colloquia vorgelegen haben, eines in neuerer Zeit und eines gegen Ende des vorigen Jahrhunderts abgehaltenen.

Einem angesehenen Schriftsteller habe ich auf seinen Brief und eine umfangreiche, tief eindringende gedruckte Rezension unter Anderem Folgendes erwiedert:

Wie von meinem »Demiurgos« der neue Ideengehalt erst zwei Jahrzehnte nach seinem Erscheinen faßlich wurde, als die in ihm um neun Jahre dem Werke Darwin's poetisch vorweggenommene Entwicklungslehre Gemeingut geworden war, so wird wieder einige Zeit vergehen, bevor man die Architektur der »Sebalds« ganz überschaulich, ihre Bedeutung ganz durchsichtig zu finden und erschöpfend zu würdigen in den Stand kommt. Auch würde dem Roman ein wesentlicher Theil seines Daseinsrechtes fehlen, wenn man in ihm schon jetzt Alles in Ordnung und begreiflich fände. Gerade das, was man ziemlich allgemein als wunderlich und launisch bedauert oder gar als fehlerhaft verurtheilt, ist organische Ausgliederung motorischer Hauptnerven. Gerade die Steine des Anstoßes sind tragende Ecksteine.

Die thematische Anlage und sozusagen contrapunktische Durchführung meiner poetischen Fuge noch etwas scharfer zutreffend aufzuzeigen, als das in Ihrer Analyse in hervorragendem Maße geschehen ist, hat Sie dreierlei behindert.

Erstens sind auch Sie noch nicht frei von dem das letzte Werk des berühmten Kritikers D. F. Strauß behaftenden Grundirrthum, welchen ich endgültig widerlegt habe. Sein im Nebensächlichen theilweise richtiges, in der Hauptsache grundfalsches Nein auf die Frage, ob wir noch Christen seien, scheinen auch Sie zu unterschreiben. Wie Strauß wollen auch Sie das heutige Christenthum in seiner Erfüllungsgestalt da nicht sehen, wo es in imposantester Größe vor Augen liegt: in der Verfassung, dem Leben und den Werken der Christenheit.

Von der Fülle des Rheins bei Köln bildet die Wasserlieferung der Graubündener Quellbäche schwerlich ein Zehntausendstel. Aber Urbahner des Stromlaufs zur Aufnahme einer Menge größerer Nebenflüsse sind unzweifelhaft eben jene Quellbäche. Niemand weigert ihnen die Anerkennung, seine Jugendform zu sein, Niemand dem Riesenstrom die volle Gültigkeit desselben Namens. So strömt nach dem Zusammenfluß der drei Hauptarme, der griechischen, römischen und germanischen Kultur, in der Kultur der Christenheit nur ein dem Maße nach sehr bescheidenes Geriesel aus der Ader, welcher einst aus dem Sammelteich in Judäa das Rinnsal freigebrochen wurde. Aber jener Quellbach hat das Bett gegraben zur Vereinigung der drei mächtigen Zuflüsse und ihrem verbundenen Weltlauf die Richtung bestimmt.

Weniger Bekehrungskraft, als dieser bildlichen Andeutung, traue ich einer anderen zu zur Wegräumung des zweiten Hindernisses unserer Verständigung.

Ihrer sehr hohen Meinung von der Philosophie stehe ich schroff gegenüber mit meiner Geringschätzung derselben. Sie haben Recht mit Ihrem Satz, daß Ihr Philosophen-Kleeblatt für mich so gut wie verschwindet neben meinen Hauptautoritäten Kant, Goethe, Humboldt, Darwin und, von den Lebenden, Helmholtz. Was Philosophen genannte Männer, wie der Kolossalgenius Kant, wirklich geleistet haben, das war durchweg Frucht angewandter exakter Forschung und aus ihr gewonnene allgemeine Wissenschaft, wie zum Beispiel die Naturgeschichte des Himmels und die Erkenntnißlehre. Insoweit aber, als wirklich philosophisch, war es auch entweder Unwissenschaft, oder aber formlos theils gebliebene, theils wieder gewordene Poesie; bald eigene, wie die oft grandiose Plato's, bald angeeignete, mit dem hergebrachten Mißbrauch der Sprache in anschauungsloses Leersackspiel mit abstrakten Begriffen übersetzte. Ja, ich bin so ketzerisch, zu behaupten, daß außer dem Wenigen, was auch Schelling, Fichte und Hegel aus exakter Wissenschaft schöpften und hernach scheinbar aus dem reinen Denken hervortaschenspielerten, der ganze Brast, den uns diese Drei hirnbedrückend auf die Köpfe geworfen haben, an Gültigerz nichts enthält, als ein Stampfprodukt aus einer Anzahl auf einem Quartblatt unterzubringender, uroffenbarender Verse aus Goethe's Faust.

Drittens etwas beirrt hat Sie die leider allgemeine Neigung, die Reden der Personen meiner Dichtung für den erschöpfenden Ausdruck meiner Ueberzeugung zu halten. Mein letztes Wort sagt keine derselben, auch Arnulf nicht, obwohl er meiner Denkweise am nächsten kommt. Alle sind, wie mit irgend einer Schwäche oder Beschränktheit, auch mit Irrthum behaftet. Nur aus ihren gegenseitigen Korrekturen und aus der gesammten Darstellung lasse ich errathen, was ich meine. Es laut heraus zu schreien hab' ich mich auch da wohl gehütet, wo ich direkt erzähle und volle Verantwortlichkeit übernehme. Außerdem schwebt doch hoch über dem Ganzen eine mit freiestem Humor geladene Ballung reinen Aethers, aus welcher zuweilen, wenn auch mit Vorbedacht nicht eben oft, ein Strahl niederblitzt, um die Personen unten bald im Finstern tappend, bald einem Irrlicht nachlaufend zu zeigen.

Einem berühmten, mir befreundeten Romanmeister schrieb ich:

Das Reflexbild der »Sebalds« im Miniaturspiegel Ihres Briefes gefällt mir so gut und Ihr Urtheil über Bedeutung und Kunstwerth des Werkes ist ein so erwünschtes, daß auch der einzige Tadel meine Genugthuung nur verstärkt als ausdrücklicher Beweis, daß Sie durchweg aus ehrlicher Ueberzeugung geschrieben haben.

Die Cirkusszene an der symbolischen Eiche und vor engstem Familienkreise ist Ihnen unsympathisch. Zur Vertheidigung kann ich nur sagen, daß dieselbe nicht ein nachträglicher Einfall zur Lösung des geschürzten Knotens, vielmehr aus einer Uridee des Werkes organisch erwachsen ist. Ihnen, dem aus eigener Erfahrung mit der Embryologie des Romans Vertrauten, wird es bei näherer Betrachtung nicht entgehen, daß ihr Keim in der Fabel vorgebildet liegt. Schon das zweite Kapitel, vom Tode Arabella's, präludirt sehr ernsthaft von einem der Zukunftsreligion unentbehrlichen Satz, der Lehre von der leiblichen Zucht und einem ihrer Hauptgeheimnisse; dann von ihrem Spezialthema für meine Darstellung: der Körperkunst als Erhalterin der Gewandtheit, Schönheit und Kraft des Menschengeschlechts in unserer sie unvermeidlich gefährdenden Hochkultur. Ganz leise muß bereits im »Waldabenteuer« der symbolische Dienst der alten Eiche anklingen, in ihrer Schilderung der Schauplatz einer Hauptaktion erstmalig in Sicht schimmern. Ferner vorbereitend sind Loas Steckenpferd-Zirkel an der Bachmühle und bei Arnulfs Erwachen; deutlicher Ulrichs Toastrede auf »Heldenknöspchen«.

Nach meiner Gewohnheit hab' ich, wie es im Motto von Arnulf heißt, den Stier bei den Hörnern gepackt, ohne zu fragen nach Beifall oder Mißfallen. Es galt, dem Grafen den für ihn sehr ernsthaften Geburtsmakel seines Enkels aus unerträglichem Gift nicht etwa nur in einen zur Noth verdaulichen bitteren Bissen zu verwandeln, sondern ihn ad oculos zu überzeugen von seiner Dankesschuld für den Segen, den seinem Geschlecht gerade die Kunstreiterschaft der Mutter verheiße.

Ich lasse unentschieden, ob mit anderen Auftritten gleich drastisch zu leisten gewesen wäre, was ich beabsichtigt. Das hingegen weiß ich sicher, daß dann auch der ganze Roman anders aufgebaut sein müßte. Ich will keinen Accent darauf legen, daß die Ausübung solchen Kunstreitersports weder unbeliebt noch selten ist in den Familien unserer Aristokratie und sogar der regierenden Häuser; auch darauf nicht, daß ich meine Szene keinesweges nur erfunden habe. Desto mehr aber muß ich's betonen, daß die Freiheit der Erfindung bei mir völlig aufhört, sobald ich etliche Grundzüge meiner Gebilde herausgeschaffen. Dann führt meine Arbeit bis zum geringsten Ornament ein mir selbst oft erst nachträglich motivirbarer despotischer Instinkt mit der Unerbittlichkeit eines Naturgesetzes. Da gibt es denn mitunter auch seltsam gewachsene, knorrige Aeste, welche Mißfallen wecken, nach Jahren zuweilen sogar mein eigenes. Aber ich kann nicht helfen; mein Dichten ist überwiegend ein Müssen.

Uebrigens hab' ich auch das schon erlebt, so namentlich mit mancher Stelle meiner Nibelunge, daß ich erst heftiges Kopfschütteln herausforderte und Beschwörung seitens bester Freunde, Anstoßverse auszumerzen, nach Jahren aber die angeblichen Sünden als gerechtfertigt und selbst als besondere Schönheiten allgemein anerkannt hörte. –

Es ist mir vergönnt gewesen, unsere Auferstehung als führende Weltmacht weit voraus zu schauen und im Liede so zuversichtlich als bestimmt schon zu verkünden, während nach kurzer, überschwänglicher Hoffnung trostlose Verzweiflung die Gemüther beherrschte. Möchte sich auch das Kleingemälde in diesem Buche bewähren als prophetisches Vorbild großen Heiles! Denn erkennt nicht eben jetzt die deutsche Gesammtfamilie die Ausübung ihres wieder angetretenen Weltberufes bedenklich erschwert durch dieselbe dreifache Spaltung, deren endlichem Ausgleich in der Einzelfamilie meine Darstellung gewidmet ist?

So weiß ich denn meiner Dichtung auf ihre fernere Laufbahn kein besseres Geleitwort mitzugeben als den Wunsch, daß ihr etwas eingehaucht sein möge von der Segenskraft, dieselbe Versöhnung auch innerhalb unserer Nation zu beschleunigen.

Frankfurt a. M., Pfingsten 1886.

Wilhelm Jordan.

Vorwort zur dritten Auflage.

Die beispiellose Eigenart Ihrer Sebalds ist für den Verleger nicht unbedenklich. Man wird kaum geneigt sein, das Werk als Roman gelten zu lassen.«

Das schrieb mir einst der Begründer der Deutschen Verlags-Anstalt, Eduard Hallberger.

Ich konnte ihm nicht ganz Unrecht geben. Ich gestand, als unverhohlener Antipode der Romantik, mit der Betitelung Roman selbst gezaudert zu haben. Aber eine besser zutreffende, zugleich gemeinverständliche Bezeichnung bleibe wohl unfindbar, solange sich die neuentstandene Species noch nicht zu zahlreicher Gattung vermehrt habe. Als Behelf also hätte ich die geläufige Titelmarke geborgt von der weit verbreiteten Art Prosadichtung, von deren herkömmlicher Kunstform mein Aufbau und Vortrag Wesentliches beibehalte, wenn auch Vieles umwandle, um sie für ungewohnten Inhalt zu neuer Bestimmung auszuprägen.

So steht allerdings zu erwarten, fuhr ich fort, daß die Rubrikatoren behaupten, das sei gar kein Roman. Sie werden damit Recht haben nach den Regeln ihrer Schablonen- und Schubfächer-Kritik. Deren Unhaltbarkeit wird ja immer dann erst stillschweigend zugegeben, wann Erfolg bahnbrechender Schöpfungen sie bewiesen hat. Von diesem verurtheilenden Widerstand ist beim Austritt auf den Markt noch kein Dauerwerk verschont geblieben.

Damit räum' ich schon ein, auch Ihr buchhändlerisches Bedenken nicht als völlig grundlos zu verwerfen.

Aber mit einer ehedem gleich unerhörten Romanart haben Sie selbst ja die Erfahrung gemacht, welche dies Bedenken siegreich widerlegt. Unseres gemeinsamen Freundes Georg Ebers »Aegyptische Königstochter« hat auch mehrere Jahre und die Rückwirkung artgleicher Schöpfungen nöthig gehabt, um jenen Widerstand zu glänzendem Triumph zu überwinden.

Mit sogenanntem Furore sind solche Erstlinge niemals aufgetreten. Sie haben sich ihr Daseinsrecht langsam zu erkämpfen. Zu vollem Siege führt meistens erst ein zweiter Feldzug. Sie wecken zwar, nach einer schönen Metapher Schopenhauers, kein jähes Staunen, wie meteorische Feuerkugeln, die nach blendendem Aufglanz für immer erlöschen, sind aber dafür mit bleibendem Eigenlicht strahlende Fixsterne.

Das in diesem Sinne vor zwölf Jahren ausgesprochene Vertrauen haben die Sebalds mehr und mehr gerechtfertigt. So darf der Geleitspruch zum dritten Auftreten der Hoffnung Ausdruck geben, daß sie mit weiter wachsendem Erfolg ihre Bestimmung erfüllen werden.

Die Verwirklichung des Wunsches freilich, mit dem das Vorwort zur zweiten Auflage schloß, scheint ferner als damals. Die Herren vom Typus Krachmann und Genossen sind noch immer und mit womöglich noch gesteigerter Unduldsamkeit an der Arbeit, die Sebalde von den Kanzeln zu drängen, die Kirche den Unterrichteten vollends zu verleiden. Die jüngst in Trient gezeterten Reden rochen brenzlich, wie Autodafés schürend und hätten uns gruselig erschrecken müssen, wenn ihre wilde Gier nach ausreichender Kirchenmacht zum Abthun der heutigen Legionen von Giordano Brunos nicht vielmehr allgemeine Heiterkeit ausgelöst hätte mit so grotesk atavistischen Rücken an der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts. Die ekelhafte Lepra vollends, gegen welche meine Dichtung die räthlichen Heilmittel nebenbei empfiehlt, hat inzwischen noch weiter um sich gegriffen und gefährdet ernstlich unsere nationale Gesundheit.

Tiefe Schatten also trüben meine damalige Zuversicht, die Genesung von diesen Uebeln noch selbst zu erleben. Was mir verfrühtes Vertrauen einflößte, war wohl das Beispiel Frankfurts, der Musterstadt konfessionellen Friedens, in der es nicht selten vorkommt, daß man erst als Begleiter nach dem Grabe erfährt, welchem Bekenntniß der Verstorbene angehört hat.

Aber je weniger schon eingetroffen, was ich zu fördern trachtete, um so mehr zur Tagesordnung redet meine Dichtung. Ueber zwölf Jahre nach ihrer Entstehung klingt sie wie eben erst eingegeben von den Stimmungen und Gegenstimmungen der Gegenwart. Heftiger noch entbrannt ist der Streit, dessen Versöhnung in der Familie sie darstellt.

Doch auch Wandlungen sind unverkennbar, welche das Vertrauen stärken, daß mein Familiengemälde sich erweisen werde als richtig leitendes Vorbild zu gleichem Friedensschluß in der Gesammtheit der deutschen Stämme.

Die falsche Realistik hat abgewirthschaftet, nachdem sie zur Karikatur entartet war. Wenn die echte, homerische, mit Erzählung der Handlung anlangt an Sproßknoten der Grundidee und sich von der dinglichen Mosaik zur Vorstellung der Schauplätze, von der malerischen und bewegt plastischen Veranschaulichung der Personen, ihrer Schicksale und Charaktere, vertiefen muß in religionsgeschichtliche und naturwissenschaftliche Fragen zum gewählten Problem, ja, gar oft nicht umhin kann, zum Gleichniß der Mythen und Göttersagen zu greifen als dem einzigen Behelf des Menschen, um vom Ewigwahren einen Spiegelschimmer zu fangen: – dann wird das heute der Poesie nicht mehr vorgeworfen als amtswidrige Verirrung ins Bodenlose.

In diesem Sinn hat sich auch für meine Dichtung erfüllt, was ich vor zehn Jahren voraussagte: daß man die Steine des Anstoßes als tragende Ecksteine erkennen werde.

Endlich aber hat sich im Verlauf des letzten Jahrzehnts noch ein anderer verheißungsvoller Umschwung vollzogen.

Die große Mehrheit der Deutschen hat sich gleich entschieden abgewendet sowohl von jener starren sogenannten Rechtgläubigkeit, welche mit dem Buchstaben des Dogmas den Zuwachs an Offenbarung durch die Wissenschaft verwirft und verdammt, als auch von den Kraftstofflern und Wissensübermüthern.

Eine Weile hatten diese das Ohr der Menge für den Wahn, die gewonnene Kunde vom allmäligen Aufstieg der Lebewesen bis zur heutigen Gestaltung mißbrauchen zu dürfen als Fegewisch, um glatten Tisch zu machen mit allem Hergebrachten. Schon aber leuchtet es mehr und mehr ins allgemeine Bewußtsein, daß es für die erhaltende Fortbildung ererbter Staats- und Gesellschaftsformen keine kräftigere Stütze gibt als gerade die Lebenslehre, die als unabweislich zu folgern ist aus dem endlich entschleierten Entwicklungsgesetz. So sind nun jene Voreiligen entlarvt als gleich blinde Gegenzeloten, die weder den so handgreiflichen als unermeßlichen Erwerb vieltausendjähriger Arbeit nach Glaubensvorbildern wahrzunehmen, noch von einer Religion mit solchen Idealen die Unentbehrlichkeit für alle Zukunft einzusehen vermögen.

Unentwegt hoffnungsvoll schließe ich dies vermuthlich letzte Geleitwort mit Eingangsversen einer zum Druck erst reifenden poetischen »Bilanz«.

So zieht, bevor ich ganz verstumme,
Mein Vers noch einmal kurz die Summe
Vom Kampferlös, den ich errang,
Als ich gesucht, fast lebenslang.
Wie doch vom Zwist zum Segensbunde
Ein edles Schwesternpaar gesunde;
Wie doch vielleicht die fromme Sage
Sich mit der Wissenschaft vertrage.

Frankfurt a. M., Herbst 1896.

Wilhelm Jordan.


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