Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel.

Waldabenteuer.

 

Ein großes Wunder trägt noch heute
Sich vielfach zu: daß kluge Leute
Die Gleichniß-Bilder und Gestalten
Der Wahrheit auch für wirklich halten.

 

Geraume Zeit, nachdem ihn der Graf mit wortabschneidender Hast verlassen, rannte Ulrich auf und nieder, erfolglos nachsinnend, wie er die unerhörte Aufgabe lösen solle, die ein erschreckendes Maß von Selbstverleugnung forderte. Auch von einem mehrstündigen Spaziergang am Ufer des Klönsees, von dem er erst zurückkehrte, als das Geträufel des dicht bewölkten Himmels in anhaltenden Regen überging, brachte er keine Entschließung mit.

Beinahe den ganzen Rest des Tages widmete er einem viele Bogen langen Brief an seinen Bruder Arnulf, der seit mehreren Jahren in Amerika weilte. Ihm berichtete er ausführlich die Erlebnisse dieser Tage und das heutige Gespräch mit dem Grafen.

Nur ein längeres Bruchstück dieses Briefes und sein Schluß brauchen hier angeführt zu werden. Das erstere lautete:

»Daß mir Hildegard unerinnerlich und dennoch auf den ersten Blick so urvertraut erschienen, glaubte ich auslegen zu sollen als ein oft von Dichtern erzähltes, nun selbst erlebtes Mysterium plötzlich erwachter Liebe. Als wir aber die halbdunkle Kirche verlassen hatten und über die sonnenhelle Straße schritten, machte ich eine Wahrnehmung, die mir bisher entgangen.

Auf Hildegard's Stirn, dicht unter dem Beginn der Haare, schimmerten zwei röthliche Pünktchen, hirsekorngroß und etwa daumenbreit von einander entfernt. Wann ihr finsterer, beinahe feindlicher Blick mich streifte, schienen sie mir dunkler zu glühen, dagegen zu erblassen und fast zu verschwinden, wann sie die Augen dem Vater zuwandte und mit spöttischem Lächeln um die Lippen ihm etwas in's Ohr flüsterte. Hiebei schon überkam es mich, als müßte vor sehr, sehr langer Zeit ein Erlebniß mit einem wenigstens ähnlichen Anblick verbunden gewesen sein. Aber erst während der Wanderung von Netstall nach dem Klönsee gelang es mir, aus der untersten Tiefe des Gedächtnisses den Vorfall heraufzugrübeln, der, wenn er wirklich die Entstehung dieser Stirnpünktchen erklärte, zugleich bewies, daß die Zauberin Erinnerung mitgeholfen zu jenem Liebeswunder. Das Abenteuer auf dem Gletscher brachte Gewißheit. Zwar in der Eiskluft, obgleich dicht über ihr schwebend, hatte ich nichts von den Pünktchen wahrgenommen, sei es, daß ihr aufgelöstes Haar sie bedeckte, oder daß meine Aufregung mich blind machte. In der Schutzhütte jedoch, als ich Hildegard einwickeln half, sah ich die Zeichen aus nächster Nähe mit fast mikroskopischer Genauigkeit, jetzt aber nicht roth, sondern blutlos weiß. Es waren feine Närbchen, und nicht zwei, sondern vier; denn bei jedem der beiden deutlicheren gewahrte ich, aber nur bei dichtestem Heranbücken, in etlichen Millimetern Abstand noch ein vollends winziges, – wie etwa in unserem Fraunhofer einen engstehenden, eben nur aufblinkenden Begleiter von zehnter Größe neben seinem Hauptstern.

Nun wußt' ich, welche Waffe die kleinen Wunden geschlagen, von denen diese Närbchen herrührten. Nun schaute mich aus der aufgebrochenen Nebelhülle der Zeitenferne das Kindergesicht wieder an, auf dessen Stirn ich zwei Tröpfchen Blut diesen Wunden entquollen gesehen. Jetzt erst fand ich auch Aehnlichkeit genug zwischen jenem Kindergesicht und dem Antlitz der zur vollen Reife herangewachsenen Grafentochter, um nicht länger daran zu zweifeln, daß ich diese schon einmal gesehen als ungefähr achtjähriges Mädchen.

Du warst dabei. Vielleicht genügt schon, was ich eben geschrieben von der Stellung der Närbchenpaare, um Dir den ganzen Auftritt vor die Anschauung herauf zu beschwören. Doch ich will für den Fall, daß er sich Dir nicht so unvergeßlich eingeprägt haben sollte. Deinem Gedächtniß zu Hülfe kommen mit einer Auffrischung alles Einzelnen. Das dünkt mir um so mehr gerathen, als ich selbst bekennen muß, daß es mir schwerlich gelungen wäre, diese versunkenen Bilder aus der Knabenzeit in der Farbenkraft jüngster Erlebnisse an die Oberfläche zu zwingen, wenn nicht die erschütternden Szenen dieser Tage und eine so plötzliche als starke Leidenschaft mein ganzes Wesen bis zur untersten Tiefe stürmisch aufgewühlt hätten.

Wir waren Tertianer. Unser Privatlehrer in der Naturgeschichte, Mottwitz, gegenwärtig mein Domsekretarius und Kirchenkassenrendant, damals noch Konservator des Museums, hatte uns während unserer Sommerferien mitgenommen auf eine seiner Fußreisen zur Käferjagd. Im Dorfe Schottenhausen, schon über drei Stunden von Odenburg, hatten wir übernachtet. Nun war unser Ziel ein Wald voll uralter, zum Theil schon abstehender Eichen.

Als wir dem Saume desselben zuschritten über eine schmale Waldwiese zwischen ihm und einer eben durchwanderten Buchenschonung, erblickten wir in beträchtlicher Ferne quer vor dem nördlichen Ausgange der Lichtung auf steiler Höhe ein Schloß mit halbverfallenem Wartthurm und einer noch mit Zinnen versehenen Plattform über dem wohlerhaltenen Hauptbau. ›Dort,‹ sagte Mottwitz, ›seht ihr die Rückseite des mit der Nordfront auf den Strom hinunterschauenden Schlosses Sebaldsheim. Ihr werdet's wohl schon wissen, daß ihr von dort herstammt.‹

Das war uns aber völlig neu. Daß wir Nachkommen seien jenes Mitstifters der Sebalduskirche, dessen die Porphyrtafel unter dem Chorfenster gedenkt, war uns von den Eltern nicht vorenthalten worden, wohl aber strengstens jede Kunde von der Abtretung des Stammguts und unserem längst mehr als problematisch gewordenen Recht auf Rückfall, weil ein seit Generationen befolgtes Hausgesetz vorschrieb, die Söhne davon erst nach der Einsegnung zu unterrichten. So bestürmten wir denn Mottwitz mit neugierigen Fragen.

Arglos anfangs und willigst gab er Antwort. Bald aber ward er stutzig und wie verlegen wortkarg. ›Lassen wir das jetzt,‹ rief er scharf abschneidend, um dann völlig stumm eine Strecke vor uns einherzuschreiten. Indem er sich von unserer völligen Unwissenheit in Betreff dieses Theils unserer Familiengeschichte überzeugt, mochten die Ausrufe, die seine Mittheilungen uns entlockten, ihm auch klar gemacht haben, welche triftigen Gründe unsere Eltern bewogen, zu verschweigen, was unsere jungen Seelen mit kindischem Groll gegen einen Ahnen und mit müßigen Neidwünschen zu vergiften drohte. Denn unser Bedauern, unsern Aerger hatten wir sogleich in knabenhafter Derbheit ausgelassen. Wir waren einig, daß jener Dietleib eine unbegreifliche und unverzeihliche Dummheit begangen, als er Pastor geworden und das Familiengut fortgeschenkt. In eifrigem Geplauder malten wir es uns aus, welche wundervollen Spielplätze wir zu eigen haben könnten in dem alten Thurm dort, auf der Plattform mit Zinnen, in dem baumreichen Garten des Schloßberges, statt nun eingekäfigt zu sein in das alte Häuschen und uns daheim nur tummeln zu dürfen auf dem engen Pfarrwinkel hinter der Sebalduskirche.

Schon waren wir unter solchem Gespräch in den Eichwald hineingelangt und hatten über dem Erbkummer fast vergessen, welche Jagd wir beabsichtigten, als mit einem Summton, dreimal so laut und so tief als ihn die größeste Hummel hervorbringt, ein dunkles Geschöpf, in der Größe einem Zaunkönig oder einer Meise zu vergleichen, über unsere Köpfe hinweg schwirrte.

›Das war schon einer!‹ sagte Mottwitz. ›An's Werk! Dorthin, wo die halb zopftrockenen und hohlgefaulten Bäume stehen, nahm er seinen Flug. Folgen wir.‹

Nun fahndeten wir eifrig und mit gutem Erfolg nach Hirschkäfern. Schon waren mehrere Männchen und sogar eines der selteneren, weit schwerer zu entdeckenden Weibchen eingethan, als Mottwitz an einer gewiß schon ihre sieben bis acht Jahrhunderte alten Eiche stehen blieb, deren ausgehöhlten, schon thürbreit offenstehenden Riesenstamm sechs Männer schwerlich ganz umspannt hätten. Ungefähr zwei Klafter über dem Boden hatte er eine ganze Versammlung des von uns gesuchten Wildes entdeckt. Dicht unter dem Ausbug des einzigen, noch üppig belaubten über mannsdicken Astes war die Rinde des krankenden Baumes saftflüssig geworden. Ein bräunlicher Syrup bedeckte eine tellergroße Fläche, und an dem äzten sich fünfzehn oder zwanzig Hirschkäfermännchen von verschiedener Größe. Sie waren bemüht, von der leckern Speise nicht nur einander neidisch wegzudrängen, sondern mit den geweihartigen Zangen auch eine Menge anderer lüsterner Insekten abzuwehren, große Waldameisen, metallisch glänzende Fliegen und mit zornigem Gesurr den Saftkuchen umschwirrende Hornissen.

Mottwitz stellte sich an den Stamm und ließ mich auf seine Schultern steigen. Da ich mit der Hand noch immer nicht hinauflangen konnte, reichtest Du mir Deinen Schmetterlingskäscher. Doch nur zwei von den Käfern konnt' ich in dessen Beutel einrechen. Eine Ueberraschung bewog mich, den Kopf seitwärts zu wenden und mit dem Handnetz so ungeschickt zu zucken, daß alle anderen aufgescheucht mit lautem Flügelgebrause von dannen flogen.

›Mein Bruder!‹ schrie eine Kinderstimme. Ich sah linksher ein junges Mädchen auf uns zugelaufen kommen.

›Was fällt Dir ein!‹ rief ein ältliches Frauenzimmer, dem Kinde nacheilend und es am Zipfel des kurzen Kleides wenige Schritte von unserem Baum festhaltend. ›Dein Bruder ist ja hundert Meilen von hier auf der Kriegsschule.‹

Da stieß die Kleine einen gellenden Schrei aus. Mottwitz sprang unter mir fort und ich stürzte nieder auf den von Moos und Farnkraut überwucherten Holzmulm am Fuß der alten Eiche.

Als ich mich aufgerafft, sah ich das Mädchen in halb liegender Stellung, das Hütchen im Nacken hängend, von der Bonne oder Gouvernante in den Armen gehalten. Auf der Stirn dicht unter den Haaren hingen zwei Blutstropfen. Einer der größesten Hirschkäfer war ihr in's Gesicht geflogen und hatte ihr mit den Vorderzinken der Geweihkiefer zwei Stichwunden, dicht dabei mit den Nebenzinken zwei feinere Kritze beigebracht. Den ihr von Mottwitz aus dem Haar gezogenen Schröter hattest Du eben aufgehoben, um ihn in Deine Botanisirkapsel zu stecken. Mottwitz sprach zu der Begleiterin etwas von der möglichen Schädlichkeit des Eichensaftes, den der Käfer vermuthlich kleben gehabt an seiner Zange, sog dann die Wunden aus und wusch sie mit Spiritus. Demnächst befahl er uns, an der Eiche auf ihn zu warten, und half der Gouvernante die Verletzte forttragen. Doch schien sich die Kleine von ihrem Schreck schnell zu erholen. Bald sahen wir sie wieder selbst zwischen den Beiden rüstig schreiten und nach dem nördlichen Saume des Waldes zu verschwinden. Nach einer Viertelstunde kehrte Mottwitz zurück. Die Verwundung, sagte er, habe nichts zu bedeuten; die Kleine sei wieder ganz wohl und lustig. Auf unsere Frage, wer sie sei, erwiederte er kurz und mürrisch, das wisse er selbst nicht, vermuthlich das Töchterchen eines Pächters. ›Wenn ihr mich lieb habt und auch künftig einmal mitgenommen sein wollt auf die Käferjagd‹ – das schärfte er uns ein, bevor wir zur weiteren Wanderung nach dem Gebirg aufbrachen – ›dann erzählt zu Hause nichts von diesem Erlebniß und von unserem Gespräch auf der Waldwiese.‹«

Der Schluß des umfangreichen Briefes lautete:

»So ist es mein Schicksal, nach verdienter Büßung des von Dir so klar durchschauten Jugendwahnes, zum ersten Mal wahrhaft zu lieben, aber nicht nur verzichten, sondern obendrein die erwiederte Neigung selbst auslöschen zu sollen. Den Willen dazu hab' ich gefunden während dieser vor Dir, geliebter Bruder, abgelegten Beichte, aber noch keine Ahnung, wie ich es angreifen soll, diese zwiefach grausame Pflicht zu erfüllen.«

Heiter und herzlich wie einen alten Freund begrüßte ihn am folgenden Morgen die, wie es schien, völlig hergestellte, wenigstens wieder ganz klarstimmige Hildegard. Sie nahm seinen Arm für die wenigen Schritte von der Thür bis zum vordersten der bereitstehenden Einspänner, stieg behend hinein und winkte ihm, als er zögernd neben dem Wagen stehen blieb, den Platz an ihrer linken Seite einzunehmen, als verstände sich das ganz von selbst. Dann fuhren sie langsam westwärts auf der schmalen Straße am Klönsee, die bald so anhaltend und beträchtlich stieg, daß der Kutscher fast immer nebenher ging, um seinem Rößlein die Last zu erleichtern.

Auch Ulrich war bemüht, unbefangen zu erscheinen und nichts merken zu lassen von dem schwer auf ihm lastenden ernsten Vorsatz, aber nur mit halbem Erfolg.

»Sie strengen sich an,« begann Hildegard, »ein freundliches Gesicht zu machen. Aber es will Ihnen nicht recht gelingen. Wie vorgestern, wo Sie mir geflissentlich auswichen, sobald Sie mich Ihrer großmüthig verzeihenden und eifrigen Hülfe nicht weiter benöthigt hielten, sind Sie auch heute noch verstimmt. Ich weiß, worüber. Ueber meine Unart in und vor der Kirche zu Netstall. Lassen Sie mich also die versprochene Abbitte leisten. Hören Sie, welcher Wahn meine mißtrauisch kalte, wohl gar spöttische Haltung verschuldete. Dann werden Sie mir's wohl vergeben, daß ich Ihre Unterstützung schroff ablehnte und den Arm des Führers beleidigend dem Ihrigen vorzog.«

Ausführlicher, als es der Graf schon gethan, und lustig lachend erzählte sie, wie sich früher Niemand um sie gekümmert; zu welcher hochgradigen Liebenswürdigkeit hingegen sie plötzlich magnetisirt worden sei durch den Ankauf des Gutes Wallingen. Sie schilderte, wie zuvor jener Vetter und Rittmeister in Gnaden geruht, bis zum zeitlich noch ungewissen Antritt des Majorats vorlieb nehmen zu wollen mit den Stipendien eines gräflichen Schwiegersohns; wie hernach binnen kurzer Frist ein halbes Dutzend Landjunker ihrer Begehrlichkeit Mäntelchen von albern romantischen Phrasen umzuhängen versucht. Einige von den Schlußauftritten mit diesen Herren wußte sie ganz dramatisch und mit ausgelassenem Lustspielhumor vorzutragen.

Ihren Zuhörer überkam ein Mischgefühl von Erbangen und Freude. Daß sie, zugleich sich selbst ironisirend, nach einer so kurzen Bekanntschaft diese Werbeszenen ihm vorzuscherzen wagte und ohne die geringste Spur von Verlegenheit, das erlaubte nur eine Erklärung: sie mußte sich, wie das der Graf schon angedeutet, der Einigung mit ihm völlig sicher wähnen.

»So war ich denn,« schloß sie, »vollgeimpft mit häßlichem Argwohn gegen jeden jungen Mann. Nach dem ersten gespenstischen Schreck über Ihre Aehnlichkeit mit Lothar erwachte dies Mißtrauen auch gegen Sie. Ich hielt Sie für einen jüngern Bruder jenes Rittmeisters und dachte, Sie seien uns etwa von Sebaldsheim in die Schweiz nachgereist, um hier bei scheinbar zufälliger Begegnung in irgend welcher hochromantischen Situation die einstige Erbin von Wallingen zu kapern. So verfiel ich der Sünde, die mir ein aufmerksamer Blick in Ihr ehrlich ernstes Gesicht hätte verbieten müssen: auch Den für einen schleichenden Spekulanten zu halten, von dem ich nun weiß, daß ihn mir schon in der Kirche zu Netstall eine geheimnißvolle Fügung des Himmels und zum zweiten Mal, als ich verzweifelnd im Eisgrabe hing, die Muttergottes von Einsiedeln zugeführt hat.«

Der so lange schon umsonst gesuchte Weg zur Erfüllung seiner harten Pflicht dünkte Ulrich nun vollends unfindbar. Wie sollte er diese zuversichtliche Neigung fortsiegen ohne grausamste Verwundung?

»So reden Sie doch auch ein Wort!« sprach Hildegard weiter, als Ulrich immer noch verlegen schwieg. »Wozu dies trübselig ernsthafte Gesicht? Einander in die Arme gelegt von den himmlischen Mächten, wären wir Zwei doch wahrlich närrisch, wenn wir noch Komödie spielen wollten, als müßten wir uns erst vorsichtig suchend zusammentasten. Ich verlange keine Liebeserklärung. Die ist zwischen uns überflüssig. Wie ich Sie mein einfältig Herz und mein ganzes Wesen mit seinen Fehlern und Dummheiten gern durch und durch schauen und als Ihnen gehörig erkennen lasse, so weiß auch ich seit dem Gletscher ganz genau, was in Ihnen vorging, da Sie bei meinem Anblick in der Kirchenbank zurücktaumelten. Und wenn Sie eine noch dreimal so schwermüthige Miene aufsetzten als jetzt, ja, es mir in's Gesicht rund zu leugnen versuchten –: ich würde Sie nur auslachen, so sicher blieb' ich dessen, daß Sie mich doch lieb haben und nimmer lassen können.«

»Wie sollt' ich leugnen wollen, was nun einmal gegen meinen Willen so offenbar geworden ist?« antwortete Ulrich, schwer aufathmend. »Sind wir aber schon im Hafen, Fräulein Hildegard, weil unsere Wünsche zusammentreffen?«

»Wären es nur unsere Wünsche, so würde das auch ich vielleicht noch fragen. Wo ich höherem Befehl zu gehorchen habe, und von Herzen gern, dünkt mir das mehr als müßig.«

»Sie wissen ja noch gar nicht, wer und – was ich bin.«

»Sie sind von der besten Art unseres Stammes. Nicht bloß von Angesicht gleichen Sie meinem theuern verewigten Bruder. Wie Sie sind, das hab' ich zu voller Genüge erfahren. Was Sie sind, will ich jetzt noch gar nicht wissen, weil Sie auf das Wort einen so sonderbaren Ton legen, der mir bange macht. Eine Allerverläßlichste, die heilige Jungfrau, weiß es und hat kein Hinderniß darin gefunden. Das ist meine Zuversicht. – Jetzt nur noch eine Frage. Als ich Sie im Gletscherspalt über mir schwebend gewahr ward und wieder wähnte, Lothar zu erblicken, der mich in den Himmel hinauf holen komme, da fiel ein frommes Wort von Ihren Lippen, das mich wie mit einem Sonnenaufgang von Heil durchstrahlte und Ihnen zu eigen machte. ›Einen lebenden Helfer,‹ sagten Sie, ›sendet Ihnen unser Heiland.‹ Hundertmal seitdem, wachend und im Fiebertraum, hab' ich mir das wiederholt. Es war der unverzügliche Bescheid auf mein Gebet zur Muttergottes von Einsiedeln. Aber – sehen Sie – so gewiß ich mich dessen fühlte und so ganz in der Ordnung ich es finden mußte, daß die heilige Jungfrau meinen Hülferuf ihrem Sohn, unserm Herrgott, zur Erfüllung empfohlen, – ich konnte doch die grübelnde Frage nicht unterdrücken: weßwegen wohl nicht die von mir Angerufene selbst Ihnen den Befehl ertheilt, mir zu Hülfe zu eilen? Nun sagen Sie mir, lieber Ulrich, wo, wie und in welcher Gestalt war Ihnen der Herr erschienen?«

Ulrich schaute sie an mit einem Blick, in dem sie bei anderer Stimmung wohl etwas wie Zweifel an ihrem Ernst oder gar an der Gesundheit ihres Verstandes gelesen hätte. Ihre Wangen zeigten allerdings etwas tiefer geröthete Flecke in der Mitte, wie er sie bisher nicht wahrgenommen, und ihre Augen glänzten von einer Erregung, an der immerhin auch eine körperliche Nachwirkung der heftigen Erkältung einigen Antheil haben mochte.

Wie manchen Beweis er auch schon erlebt, daß durch die religiöse Erziehung während vieler Generationen die Allegorieen des Dogmas und die Gestalten der heiligen Sage für Millionen von Köpfen zu handgreiflichen, in einem Jenseits über den Wolken waltenden und von dort zuweilen heruntersteigenden Existenzen geronnen sind: – beinah' unfaßlich dünkte ihm gleichwohl diese hochgradig naive Gläubigkeit einer klugen, praktischen und gesellschaftlich wenigstens fein gebildeten Dame.

Aber auch unter dem scharfen Verhör seiner forschenden Augen blieb sie ruhig, der Ausdruck ihrer Züge so schlicht und treuherzig, als habe sie die allernatürlichste Frage gethan und wundere sich nur über seine Verwunderung. Er konnte nicht zweifeln, sie hatte aus voller Ueberzeugung geredet. Ueber ihr am Seil hängend, in einer Aufregung, die jede bedächtige Wortwahl ausschloß, mochte ihn vorgestern zu jener dem Prediger naheliegenden Wendung theils bewogen haben die Erinnerung an Heiri's Aufforderung, der Föhngefahr zum Trotz »aus Christenpflicht« nach dem Glärnisch zu wandern, theils auch Hildegard's Ohnmachtsphantasie, daß ein seliger Geist sie abholen komme nach dem Jenseits. Nun hatte sie seine Worte streng buchstäblich ausgelegt. Ja, sie meinte wirklich, auf ihr Stoßgebet habe droben Maria mit Jesu gesprochen und dieser sei alsbald zur Erde niedergefahren, um ihr den Retter zu schicken. So erwartete sie nun mit kindlicher Zuversicht Ulrich's Schilderung, wie Jesus Christus ihm leibhaft erschienen sei und befohlen habe, ihr zu Hülfe zu eilen.

Sollte er sie jäh hinausschrecken aus diesem Glauben? »Ich dürfte das vielleicht,« dachte er, »wenn ich die erforderlichen Wochen und selbst Monate des Verkehrs vor mir sähe, um ihr den Raub geläutert und vermehrt aus meinem Glauben zu ersetzen. Aber heut oder morgen sollen wir ja scheiden für immer. Niederreißen ohne Muße zum Neubau, Zerstörung der Glaubensburg über den Wolken, in der sie Gottvater und Sohn sammt der Himmelskönigin von Engeln und Heiligenschaaren umringt leibhaftig thronen und lenkend heruntergreifen sieht, ohne die Möglichkeit, ihr den Wahrgehalt dieser Allegorieen der Kindersprache auf Erden erfüllt oder doch erfüllbar zu zeigen: – wäre das nicht unbarmherziger Frevel?«

War denn aber, was ihr Vater verlangte und sein eigenes Gewissen befahl, je zu leisten ohne Beleuchtung der tiefen, zwischen ihm und ihr gähnenden Kluft?

Mit dieser Erwägung begann ihm in der bisher weglos erschienenen Finsterniß ein vielleicht zum Ziele führender Pfad aufzudämmern.

Klafften nicht ähnliche Abgründe auch zwischen seinen Ueberzeugungen und dem Glauben der großen Mehrheit seiner andächtigen Zuhörer in der Sebalduskirche? Waren diese nicht dennoch auf der von ihm geschlagenen Brücke willig hinübergeschritten auf seine Seite, um sich tief ergriffen und wahrhaft erbaut zu zeigen von der kulturgeschichtlichen oder sittlichen Wahrheit, welche er herausgeläutert aus der Allegorie des Kirchendogmas oder Wunderberichtes? Wodurch war ihm das gelungen? Dadurch, daß er es nicht verschmäht, mit geistigen Kindern erst in der Kindersprache zu reden, um ganz allmälig deren Uebersetzung in die Mannessprache der gereiften Erkenntniß anzuflechten. Dadurch, daß er es sich zum Gesetz gemacht, das Glaubensmysterium unangetastet zu lassen, um mit der durchweg streng richtigen Wendung, daß unserem Verstande von seiner ganzen Bedeutung trotz aller unserer Wissenschaft noch Vieles räthselhaft sei und noch lange bleiben werde, überzugehen zu dem Nachweis, wie es zugleich eine schon jetzt wohl faßliche Heilswahrheit ausdrücke, deren Erkenntniß und Beherzigung reichen Segen fruchte.

Nach derselben Methode, das war ihm nun klar, mußte er seine Antwort modeln auf die Frage Hildegards. Zugleich verbot ihm sein zärtliches Empfinden, ihrer so schlicht als unwiderstehlich bekannten Liebe alle Hoffnung jäh abzuschneiden. Gerathener dünkte seinem Vertrauen auf die heilende Kraft der Zeit die fromme Täuschung, diese Hoffnung nur zu vertagen und ihre Erfüllung in der Ferne möglich erscheinen zu lassen, wenn auch erst nach Eintritt eines ihr gewiß glaubhaften Wunders. War er doch selbst längst zu der Ueberzeugung gelangt, daß dieses Wunder, die Wiedervereinigung der Katholiken und Protestanten, sich einst ereignen werde und müsse, freilich erst weit, sehr weit jenseits der eigenen Lebensfrist.

In wenigen Momenten war er fertig mit dieser Ueberlegung und seinem Entschluß. Einmal angelangt auf dem vertrauten Gebiet seines Berufs, sah er freie Bahn vor sich und fühlte sich fußbeschwingt wie der Schlittschuhläufer, wann er nach einer mühsam überklommenen Strecke von Ackerschollen und Brucheis wieder hingleitet auf spiegelblanker Krystallfläche.


 << zurück weiter >>