Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.

Lichtwurf in den Abgrund.

 

Zum ersten Male
Die heilige Schale
Entkernet zu schauen
Und erfüllt als Ereigniß
Das größeste Gleichniß –
Ist Wonne und Grauen.

 

Werden Sie nicht ungeduldig,« begann er, »wenn ich für meine Antwort überweit aushole mit einer Gegenfrage. Sie wissen, daß nach dem apostolischen Glaubensbekenntniß die Wiederkunft Christi zu erwarten steht …«

»Freilich. ›Aufgefahren gen Himmel , und wird wiederkommen mit Herrlichkeit, zu richten die Lebendigen und die Tobten‹.«

»Kennen Sie auch einige von den Gemälden, welche diese Wiederkehr und das jüngste Gericht veranschaulichen?«

»In Italien, auch in deutschen Kirchen hab' ich deren mehrere gesehen.«

»In den Hauptzügen treffen sie alle zusammen. Auf einem der berühmtesten, einem Altarbilde mit zwei beweglichen Seitenflügeln, sieht man im obersten Hintergrunde der mittelsten Haupttafel den Heiland schweben in einer flammenscheinigen Wolkenlücke, umgeben von himmlischen Heerschaaren, etwas tiefer vor ihm auf Posaunen blasende Engel. Im Vordergrunde steht der Erzengel Michael, nach dem beobachteten Maßstabe thurmgroß erscheinend, in stählernem Ritterharnisch, in der Rechten ein Schwert, in der Linken eine Wage haltend. Dem ringsum aufspaltenden Erdboden entwinden sich, Regenwürmern vergleichbar, die Verstorbenen und Begrabenen, nicht viel größer als etwa der Zeigefinger des riesigen Erzengels, nicht als Gerippe, sondern als voll befleischte, nackte Leiber. Sie drängen sich nach der Wagschale, um gewogen zu werden. Die vollwichtig Bewährten wandern verklärt nach rechts. Auf der Seitentafel zur Linken des Beschauers sieht man sie am Fuß einer teppichbelegten Treppe von dienenden Heiligen schöne Kleider empfangen und mit diesen angethan die Stufen emporsteigen zum hoch oben weit offenen, aber vom Schlüsselhalter Petrus bewachten Eingang eines festlich beleuchteten Banketsaales, der die Wohnung der Seligen bedeutet. Die zu leicht Befundenen werden nach links gejagt, und die Seitentafel zur Rechten des Beschauers zeigt den Höllenabgrund, in welchen sie, von gräßlichen Teufelsfratzen gepackt und mit rothglühenden Zangen gezwickt, mit verzweiflungsvollen Gesichtern hinunterstürzen.

Was beweisen diese Gemälde? Daß die menschliche Phantasie eine kindisch beschränkte Patriotin der Erde und für alles Ueberirdische unheilbar blindgeboren ist. Wie das Kaleidoskop immer nur dieselben hineingelegten Flittern und farbigen Glasscherbchen durch Umschütteln und Spiegelvervielfältigung zu unzählbar wechselnden Sternfiguren und Arabesken umordnet, so vermag auch unsere Einbildungskraft nichts Anderes zu zeigen, als Gruppirungen des Bildervorraths, den unser schauendes Auge hineingelegt hat in unsere Erinnerung. Es ist ein sehr durchsichtiger und dennoch von Millionen verdachtlos hingenommener Selbstbetrug, wenn wir mit diesen von der Erdoberfläche zusammengelesenen Anschauungen auch die Himmelsräume und die Unterwelt ausstatten. Mit der Anmaßung, Uebersinnliches dennoch darzustellen, unternehmen wir etwas gerade so schlechterdings Versagtes, als wenn wir etwa die Zunge nach dem Nebel im Orion ausstrecken wollten, um zu erfahren, ob er süß oder bitter schmecke.

Einen dürftigen Trugschein des Gelingens vermag die Kunst diesem Versuch nur dadurch zu erheucheln, daß sie theilweise verzichtet auf die Führung der wachen Vernunft und in der Darstellung der angewandten Erdenbilder die Maße und die Ordnung des hienieden waltenden Naturgesetzes aufhebt, um zu verfahren wie der Traum, der uns ebenfalls nur Erlebtes und Erinnertes vorführt, aber in unverständiger Verwirrung.

Aber nicht nur unvorstellbar, auch unbegreiflich ist uns die Wiederkunft Christi.«

»Weil überhaupt unser Verstand bis zum Glauben ebensowenig hinaufreicht, als, nach Ihrem Vergleich, unser Geschmack bis zu den Sternen!« bemerkte Hildegard in etwas verschüchtertem Ton. Sie hatte nichts einzuwenden gewußt gegen diese Kritik von Gemälden, welche sie bisher nur mit ererbter und anerzogener Ehrfurcht betrachtet hatte, ohne jemals nachzudenken über die Möglichkeit der dargestellten Szenen; aber ihr war dabei bange geworden.

»Ebensowenig?« entgegnete Ulrich. »Dem kann ich doch nicht zustimmen. Nur die Wiederkunft Christi find' ich unbegreiflich, keineswegs aber unsern Glauben an dieselbe. Wie ohne Ausnahme jeder Glaubenssatz, hat auch dieser neben dem uns zur Zeit noch und vielleicht immerdar undurchdringlichen Mysterium eine zweite, unserer Einsicht sehr wohl faßliche Bedeutung, und diese zweite ist für uns die weitaus wichtigste. Sie versichert uns einer auch erweislichen Thatsache. Ist nicht unvergleichlich werthvoller für uns, als die Wiederkunft des Herrn, die am Ende der Tage und des Erdsterns erfolgen soll, die erlangbare Gewißheit, daß er in der Wiederkehr längst begriffen ist, ja, daß er bereits in täglich wachsender Herrscher- und Segensmacht in lebendiger Gegenwart vor unseren Augen waltet?«

»Reden Sie im Ernst?« frug Hildegard, ihn erschrocken anstarrend.

»In vollem, heiligem Ernst. Hören Sie mir aufmerksam zu. Nehmen Sie jetzt Ihre ganze Geisteskraft zusammen für einen Jahrtausende weit vorleuchtenden Ausspruch eines der gewaltigsten Religionsgenies. Erst jetzt, nachdem etwa sechsundfünfzig Menschengeschlechter über die Erde gegangen sind, seit er gethan wurde, ist dieser Ausspruch verständlich und aus der griechischen Sprache richtig übersetzbar geworden. Nur dadurch ist er es geworden, daß er sich inzwischen weit genug erfüllt hat, um die ganze Erfüllung, die er meint, fordert und verheißt, wenigstens ahnen zu können. Er steht zu lesen im vierten Kapitel des Briefes an die Epheser. Da bezeichnet es der Apostel Paulus als den Beruf aller Bekenner, aber insbesondere der geistlichen Diener des neuen Glaubens, ihre Arbeit zu widmen dem Aufbau des Leibes Christi. Dieser Aufbau soll dadurch zu Stande kommen, daß einst die Einigung aller Menschen im Glauben und in der Erkenntniß des Gottessohnes den vollkommenen Menschen – wir würden sagen das Menschheitsideal – dermaßen verwirklicht, daß die ganze Wesensfülle Christi gestaltet vorhanden ist.

Bald neunzehn Jahrhunderte dauert die Arbeit an diesem Aufbau. Immer noch sind wir weit, sehr weit entfernt von seiner Vollendung. Noch kein Sechstel des Menschengeschlechts hat sich geeinigt zum christlichen Glauben. Dieser Bruchtheil, die Christenheit, hat von der Wesensfülle seines Vorbildes, von den Gotteseigenschaften Christi, wiederum erst Bruchtheile in bescheidener Annäherung verwirklicht.

Aber diese Verwirklichung hat sich in unserem Jahrhundert so staunenswerth gesteigert und beschleunigt und die christlichen Völker, wenn wir ihren heutigen Zustand mit dem früheren vergleichen, auf ihrem Wege nach dem schwindelfernen Endziel, dem Erwerb der göttlichen Allgüte, der göttlichen Allwissenheit, der göttlichen Allmacht, um eine so bedeutende Strecke vorwärts gebracht, daß wir blind sein müßten, um zu verkennen, wie sich in der gigantischen Sammelgestalt, welche die Herrschaft über den Erdball antritt, ihr göttliches Vorbild immer mehr verleiblicht, wie sich also in ihr eine sehr faßliche Wiederkunft Christi schon vollzogen hat und immer weiter vollzieht.

In einem Reisegespräch kann ich das unermeßlich reiche Thema nicht zum hundertsten Theil erschöpfen. Auch ist ja die beste Leistung unserer Religion, die im Reiche der Christenheit unvergleichlich höher als irgendwo außerhalb veredelte Gesittung, zugleich so sehr die alleroffenbarste und mindest bestrittene, daß es nicht erst meines Nachweises bedarf, bis zu welcher merklichen Näherung zum Ideal göttlicher Allgüte jener Aufbau des Leibes Christi und seine allmälige Wiederkunft in uns gediehen ist. Nur etliche Leuchtfunken will ich daher auswerfen, um Sie gerade dort Früchte des Christenglaubens erblicken zu lassen, wo die meisten seiner Berufsdiener nicht nur keine Spur seines Wirkens gewahren wollen, sondern sogar den Teufel sündiger Weltlust, den leibhaftigen Antichrist, zeternd anklagen als arbeitend an der Zerstörung des Reiches Gottes.

Der Elektriker, wenn er in seinem Experimentirzimmer das Telephon verbessert und immer geeigneter macht, unsere Stimme wohlerkennbar hunderte von Kilometern durchklingen zu lassen, oder wenn er uns Sonnenschein in die Hand gibt, um auch bei Nacht Wachsthum und Fruchtbildung der Pflanzen zu fördern; der Ingenieur, wenn er von zwei Seiten her auf den Zoll zusammentreffend ein Gebirg durchbohren lehrt mit einem Weg für den adlerschnellen Feuerwagen; der Himmelschemiker, wenn er mit dem Spektralrohr ein bisher unbekanntes Element erstmalig in der Sonne entdeckt und dasselbe Element den Erdenchemiker dort suchen und finden lehrt, wo unser Planet die letzten spärlichen Zeichen ausathmet, einst eine kleine Sonne gewesen und in feinem Innern noch jetzt zu sein, in den Dampfniederschlägen des Vesuv: – alle diese erfindsam forschenden Männer des Gewerbfleißes und der Wissenschaft, obwohl sie meistens selbst keine Ahnung davon haben und nicht selten sogar wähnen, die Jünger einer neuen, feindlichen Lehre zu sein und sich damit wunderlich brüsten, – alle diese Männer, sag' ich Ihnen, sind gleichwohl treuere Mitarbeiter am Aufbau des Leibes Christi und erfolgreichere Thatapostel des Christenthums, als die große Mehrzahl seiner berufenen Prediger. Sie sind das bahnbrechende Geniekorps, die Avantgarde der welterobernden Christenheit, während Ihr Herr Vater nicht ganz Unrecht hat, die Geistlichen als hinterste Nachzügler und Marodeure anzuklagen.

Ich frage: Halten Sie es für einen Zufall, daß durchaus nur die Christenheit den Besitz einer allumfassenden Wissenschaft erarbeitet hat, deren Kenntnißfülle, ein unabsehbares Wachsthum verbürgend, schon jetzt erheblich genug ist, um mit ihr verglichen die früheren Vorstellungen von der Allwissenheit der Götter mehr als nur kindlich zu finden? Halten Sie es für einen Zufall, daß mit dieser Wissenschaft wieder durchaus nur die Christenheit sich eine Herrschaft über die Erde und ihre Natur erobert hat, deren Schranken und ungeheure Lücken wir zwar zu wohl kennen, um sie schon für Allmacht auszugeben, die aber immerhin diesen zu stolzen Namen unvergleichlich mehr verdienen würde, als die Allmacht, welche Homer seinem Zeus, der Dichter des Hiob seinem Jehovah zuschrieb? Halten Sie es für Zufall, daß nur die Christenheit das Dampfschiff, die Eisenbahn, den Telegraphen erfunden hat? Den Beweis, daß den Erwerb dieser Wissenschaft und Macht nur das Christenthum ermöglichen konnte, macht das Zeugniß der Geschichte eigentlich überflüssig. Aber ich hab' ihn in Schriften auch öffentlich geführt und gezeigt, wie und warum eben nur wir aus unwissenden und ohnmächtigen Sklaven der Natur zu erkennenden Beherrschern derselben, zu mächtigen und wissensreichen Gottessöhnen erwachsen konnten, indem wir in unserer Gemeinschaft unser Vorbild, den Gottessohn, arbeitend zu verwirklichen trachteten und aus unserem Glauben die Zuversicht schöpften, es auch zu vermögen. Wir haben bewundernswürdiges Wissen, bewundernswürdige Macht erarbeitet, weil uns von unserer Religion die Aufgabe gestellt war, den allwissenden und allmächtigen Wunderthäter Christus nachahmend zu verleiblichen.

Wenn jetzt, von der andern Seite der Erde, herbeigewinkt vom Blitz, den wir gezähmt zum zeitlosen Botenläufer, ganze Flotten herangerauscht kommen und Lastzüge mit Brodfrucht füllen für ein von Mißwachs heimgesuchtes Land, um da Millionen zu sättigen, die vormals einer Hungerpest verfallen wären, wie das außerhalb der Christenheit noch oft und schrecklich genug geschieht, dann finden wir diese Leistung von erhabener Großartigkeit beinahe selbstverständlich und kaum staunenswerth, bis wir erwägen, welches Aufgebot von tausenderlei Kräften in ihr zusammenspielt und welche unabsehbare Reihe von Bedingungen erfüllt sein mußte, um sie möglich zu machen. Aber ich frage, ist nicht in dieser Leistung der arbeitenden Christenheit so schlicht als faßlich nachgethan die unfaßliche Wunderthat ihres Vorbildes, die Speisung der Tausende mit einigen Broden?

Draußen wird immer noch fortgepfuscht mit Gezauder und Mittelchen, die zum kleinsten Theil die Erfahrung, zum größesten ein unwissender Aberglaube an die Kraft herkömmlicher Medikamente vorschreibt. Bei uns ist die Erziehung der Gesundheit, ihre Erhaltung und Herstellung die Aufgabe eines Heeres unermüdlicher Forscher und Künstler geworden, die den Geheimnissen des Lebens und seiner Schädiger immer weiter auf die Spur kommen. Sie wissen selbst am besten, daß sie kaum die Schwelle vom verschütteten Tempel der Hygiäa überschritten und bis zum Sanktuarium noch weite Gänge zu schürfen haben. Aber glorreiche, vor Kurzem noch unglaubliche Siege haben sie schon jetzt erstritten. Öffentliche Musterungen ihres gesammten Arsenals von Waffen, Vertheidigungs- und Rettungsanstalten gebieten ein solches Maß andächtiger Ehrfurcht vor der zum Besten des leiblichen Heils gerüsteten Nächstenliebe, daß die Christenheit getrost behaupten darf, auch vom wunderthätigen Krankenheiler Christus die Wiederkunft in ansehnlicher Näherung erarbeitet zu haben.

Nicht ohne den Glauben an unsern Beruf und unsere Befähigung, die göttliche Allgegenwart zu erstreben, hätten wir das Stück wenigstens irdischer Allgegenwart erreicht, welches wir bethätigen, wann wir unsere schwache Stimme zwanzigmal weiter tönen lassen, als den stärksten Kanonendonner, oder unsere Worte unter Weltmeeren hindurch den Antipoden zublitzen. Es ist mehr als ein frommer Witz, es ist ein unerschütterlicher Lehrsatz der Kulturgeschichte, daß im eisernen Riesenschiff, von den gebändigten Giganten Wasser und Feuer mit stählernen Armen gerudert, als Beherrscher der Elemente gegen den Sturm das Meer zu durchfliegen nur diejenige Menschengemeinschaft lernen könnte, deren Vorbild auf dem See Genezareth nur den Finger zu heben brauchte, um dem Winde Schweigen, der drohenden Woge Glättung zu gebieten.«

»Halten Sie ein!« rief Hildegard. »Mir wirbelt's im Kopfe. Mir ist wieder zu Muth wie im Eisspalt, als müßt' ich meine Glieder krampfhaft ausstrecken, um nicht hinunter zu stürzen in's Bodenlose. Ich fühl's, es ist Undank. Verzeihen Sie meiner kindischen Schwäche. Vorgestern, als wir aufstiegen nach dem Hinterglärnisch, befanden wir uns eine halbe Stunde lang mitten in einer Wolke, so dicht eingeschleiert, daß uns von der Erde nichts wahrnehmbar blieb, als etliche Schritte weit der Boden, den wir traten. Da sprang ein Wind auf. Eine Riesenhand schien im Nu in den Wolkenvorhang eine Lücke zu reißen vom äußersten West- bis zum äußersten Ostrande des Horizonts. Sonnenbestrahlt zu meinen Füßen lag die entzückende Landschaft mit ihren glänzenden Schneehäuptern und fernen Alpenseen. Aehnliches haben Sie mir eben bewirkt. Sie thaten mir Weitblicke auf bis tief hinein in eine neue Wunderwelt. Aber ich thörichtes Geschöpf bin erschrocken statt entzückt, betäubt statt erbaut. Ich höre Bewundernswürdiges und bewundere doch nur den Mann, der es vorträgt. Mein enger Frauengeist ist zu voll vom Lehrer, um die Lehre zu fassen. Das freibleibende Restchen Verstand aber trübt mir der Verdruß, daß der Apostel über der Predigt, wie sich selbst, auch mich ganz vergessen hat. Das mag groß sein, aber es thut mir weh. Obendrein erfüllt mich das Wenige, was ich dennoch einigermaßen zu begreifen meine, mit einer dunkeln Angst. Ich fürchte, Ihre Auslegung der Wunder versteckt einen Hintergedanken. Den verschweigen Sie aus Schonung, um mir das Rothwerden zu ersparen. Deßwegen antworten Sie mir mit keiner Silbe auf meine Frage. Ich soll nicht merken, daß mein Glaube an den Befehl, den ich zu vernehmen meinte von der Muttergottes, Ihnen kindlich, wohl gar kindisch dünkte. Fast wünsch' ich daher, Ihr stummes Hinwegschlüpfen über mein Bekenntniß bewiese, daß Sie es völlig vergessen oder gar nicht gehört haben; so sehr schäm' ich mich nun meiner unüberlegten Offenheit.«

»Nein,« versetzte Ulrich, ihre Hand ergreifend, »dazu haben Sie wahrlich keine Ursache. Seien Sie nicht kleinmüthig und überbescheiden bei so reicher Begabung. Zwar vermuthen Sie richtig, daß ich weder von der Himmelskönigin noch unmittelbar von ihrem Sohn einen Befehl vernommen zu haben meinte, als ich Ihnen nacheilte. Der mich Ihnen zu Hülfe trieb und dem Sie in Wahrheit Ihre Rettung verdanken, während ich an seinem Seil nur als lebendiges Werkzeug diente, war mein junger Führer, der schlichte Wildheuer von Mollis. Eben erst hatte er mir anschaulich geschildert, mit welcher Lebensgefahr der Föhn auf den Glärnischgletschern drohe, und mir vorgestellt, daß es frevelhaft sein würde, die beabsichtigte Wanderung dennoch zu unternehmen. Aber sobald er gehört, Sie seien dorthin aufgebrochen, rief er auch: ›Nun ist's Christenpflicht.‹ – So darf ich Ihre Frage nur dahin beantworten, daß mir der Herr erschienen in Heiri's bescheidener Gestalt, um mir den Befehl meines Herzens auch noch mit lebendigen Lippen in's Ohr zu rufen. Gleichwohl bin ich auch jetzt noch des unerschütterlichen Glaubens, daß eine heilige Fügung uns zusammengeführt hat. Ja, mein Rückblick auf unsere Familiengeschichte läßt mir sogar ein Ahnen aufdämmern, was diese Fügung schon vorbereitete, als unsere Urälterväter noch nicht geboren waren. Ebenso tief bin ich davon durchdrungen, daß diese Fügung auf Bedeutendes in der Zukunft absieht, wir also im Dienst einer gemeinsamen Bestimmung wieder zusammentreffen und irgendwie dauernd zusammengehören werden, wenn wir auch heut oder morgen für geraume Zeit von einander scheiden müssen. Und nun mache ich Gebrauch von der Erlaubniß Ihres Vaters, auch vor Ihnen zu wiederholen, was ich ihm gestanden, nachdem er es nur allzu leicht schon errathen hatte. Ja, Hildegard, als ich, am Seile schwebend, Brust an Brust und Antlitz an Antlitz Sie, theures Mädchen, fest umklammert hielt, da wußte ich, daß Liebe sich meiner bemächtigt hatte, als ich in der Kirchenbank vor Ihnen erschrocken zurückgetaumelt. Da war ich nichts als eine Verkörperung des Wunsches, Sie für mich der Eiskluft zu entreißen und nie mehr loszulassen aus meinen Armen. Da gab sich mir dieser leidenschaftliche Wunsch mit unwiderstehlicher Täuschungskraft aus für den Zuruf der Stimme Gottes: ›Ich habe Dir in diesem Weibe die Gemahlin an's Herz gelegt‹.«

Leise und schüchtern, aber doch freudige Ueberraschung, hergestellte Hoffnung und eine wonnige Erwartung verrathend, frug Hildegard:

»Das mir zu sagen, hat Ihnen mein Vater erlaubt? Dann ist ja …«

»Alles gut,« wollte sie schon hinzufügen. Doch Ulrich schnitt ihr das Wort ab.

»Er hat es mir erlaubt, aber erst nachdem er sich überzeugt, daß ich zur Besinnung gekommen, die Hindernisse meines Wunsches erkannt und mir nicht länger die Stimme der Leidenschaft zu einem Himmelsbefehl heilig löge. Er hat es erlaubt, aber nur in der Absicht, mir dadurch die Erfüllung seiner Forderung zu erleichtern.«

»Welcher Forderung?«

»Sie zu überzeugen, daß unsere Verbindung Ihrem und meinem Lebensglück nur hinderlich sein würde.«

Möglichst mit des Grafen eigenen Worten erwähnte nun Ulrich dessen Befürchtungen.

Sie wurde nachdenklich. Ihr offener Sinn für das praktische Leben konnte das Gewicht dieser Gründe nicht verkennen.

»Mein Vater,« sagte sie etwas kleinlaut, »ist ein Mann von erprobter Lebensklugheit. Auch mir liegt es fern, zu schwören auf den romantischen Spruch vom Liebesglück in der ärmsten Hütte. Etwas nach meinen Gewohnheiten zu arbeiten haben müßt' ich freilich. Daß ich zufrieden sein könnte in einer büchergefüllten Dachkammerwohnung darf ich Ihnen nicht vorschwärmen. Aber ein vermittelndes Entgegenkommen bleibt mir auch bei kühlster Ueberlegung wohl denkbar. Was Sie mir heute zu kosten gegeben, erlaubt mir schon die Versicherung, daß ich zwar nicht gern auf alle meine Wirthschaftsgänge, Arbeiten und Ausritte, aber mit Freuden auf die Hälfte verzichten würde, um mich statt dessen auf den Flügeln Ihres Geistes durch alle Reiche Ihrer Ideenwelt tragen zu lassen. Ihnen aber würde eine Beimischung von Landleben zum Gelehrtenberuf ganz gut bekommen, auch die Gewöhnung an etwas Mitarbeiten und Mitreiten mit der Frau Amazone um so leichter werden, als das schon im Sebaldischen Blute liegt. Zum ersten Mal bin ich unvermischt froh, eine sogenannte gute Partie zu sein. Mit ausreichendem Besitz und festem Willen werden wir uns zum Glücke schon die Bahn brechen durch das Hindergebirg, das mein Vater für unübersteiglich hält. Wir sind ja Beide nicht blind für die Steile und Härte der paßsperrenden Felsen. Aber was schadet's, wenn der Wegbau Anstrengung kostet? Nach einem sorgenfreien und mühelosen Paradiese schon auf Erden steht Ihr Sinn wohl ebensowenig als der meinige. Wahrscheinlich werden wir zuweilen auch scharf zusammenstoßen, daß die Funken sprühen; denn mir scheint, wir sind nicht Luftziegel von weichem Thon, deren der Maurer zwei beliebige aus dem Tausend glatt passend verklebt, sondern Granitstücke, welche ihre rauhen Bruchkanten erst aneinander völlig blank schleifen müssen, dann aber auch desto unlösbarer gefugt liegen als Fundamente des neuen Hauses. Wenn Sie mich – und nur Ihre Predigt ließ mich einen Augenblick daran zweifeln – wenn Sie mich also wirklich lieb haben …«

»O, wie schwer,« fiel Ulrich ein, »wie schmerzhaft schwer machen Sie mir mit dieser heitern Zuversicht den Entschluß zur ehrlichen Antwort! Nicht Ihres Vaters Befürchtungen, deren Widerlegung durch die That auch ich uns zutraue, mein eigenes Gewissen gebietet mir, alle Hoffnung zu vertagen bis zum Eintritt eines Wunders, das ich erwarte, an dessen Vorbereitung ich arbeite, das aber mindestens noch Jahre des Heranreifens zum Ereigniß verbrauchen wird. Ich bin Protestant und dem Wesen meiner Kirche gleich sehr aus Gehorsam gegen unser Familiengesetz, als aus Ueberzeugung unerschütterlich treu. Aber die Scheidewand zwischen ihr und der Ihrigen muß und wird einst fallen, ja, sie ist längst im Fallen begriffen. Der Tag wenigstens scheint mir nicht mehr fern, an welchem die Intoleranz und Pfaffenherrschsucht aufhören muß, die Mischehe fast gleichbedeutend zu machen mit einer Selbstverurtheilung zu unvermeidlichem Unfrieden und Unsegen. Vielleicht ist sogar der näher als wir denken, von dem ab eine Frau, wenn sie übertritt zum Bekenntniß eines Mannes, dem wie mir die Mischehe schlechterdings verboten ist, in der andern Kirche nicht mehr vermißt, was ihrem Gemüth zur Andacht unentbehrlich geworden ist. Nur Eines davon sei erwähnt, als vermuthlich das Wichtigste für Sie, theuere Hildegard. Ich bin dahin gelangt, mit jener unverbrüchlichen Treue sehr wohl vereinbar zu finden die alleraufrichtigste Zustimmung zu dem Dichterspruch:

›Die Muttergottes d'raus vertreiben
Das hieß das Christenthum entweiben.‹

Wann einst …«

»Still, still!« unterbrach Hildegard. »Sagen Sie jetzt weiter nichts. Lassen Sie mich eine Weile ganz ungestört nachdenken.«

Sie legte sich zurück in ihre Ecke des Wagens, schloß die Augen und bedeckte sich das Gesicht noch mit der Hand, als fühle sie das Bedürfniß, auch den schwächsten Schimmer der Außenwelt fortzuschirmen und ganz mit sich allein zu sein. So saß sie wohl eine Viertelstunde. Dann setzte sie sich wieder aufrecht, schaute dem Gefährten fest und ernst in's Antlitz und sagte:

»Mein Weg liegt noch in undurchdringlicher Finsterniß. Aber ich seh' am Horizont einen Leitstern aufgehen. In Ihrem Dichterspruch, der in dem einen unerhörten Schlußwort eine weltgeschichtliche Wahrheit zu siegesgewaltiger Offenbarung zusammensonnt, hab' ich zugleich einen Rath für mich gefunden. Ich werde reden mit der Muttergottes von Einsiedeln und dann wissen, was ich zu thun habe. Sie müssen dabei sein. Jetzt lassen Sie halten. Setzen Sie sich in den zweiten Wagen. Meinen Vater schicken Sie zu mir. Vorläufig keine Mittheilung unseres Gesprächs. Auch mich soll er nicht danach fragen. Auf Wiedersehen in Einsiedeln!«


 << zurück weiter >>