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Vierundzwanzigstes Kapitel..
Eine Begegnung

Es war zur Mittagszeit. Der Speisesaal im Gasthofe del Commercio in Vercelli begann sich zu füllen. An den vielen Tischen hatten sich die verschiedensten Persönlichkeiten niedergelassen. Die Kaufleute verzeichneten zwischen einem und dem anderen Gange die am Vormittag ausgeführten Geschäftsoperationen in ihr Memorandum; andere lasen während des Essens aufmerksam ihre Zeitung, ohne auch nur die Augen zu erheben; wieder andere, die im Sturmschritt eintraten, nahmen rasch Platz, um in größter Hast zu speisen, dem Kellner kaum Zeit lassend, die Gerichte aufzutragen; manche waren in leisem, aber eifrigem Gespräche begriffen, über welches sie das Essen beinahe vergaßen; die Unbeschäftigten betrachteten ruhig abwartend und beobachtend die Personen im Saale, während die Feinschmecker ihre ganze Aufmerksamkeit dem Studium des Speisezettels zuwandten.

An einem Tische im Mittelpunkte des großen Raumes saß ein Herr von ungefähr sechzig Jahren, mit breiten Schultern, einem runden, geröteten Gesicht und grauem Bart.

Soeben trat ein hochgewachsener, hübscher junger Mann ein, mit schönem dunklen Bart und ausdrucksvollen Augen. Bei seinem Erscheinen erhoben sich einige Gäste und kamen ihm grüßend entgegen, andere machten ihm eine ehrerbietige Verbeugung, und alle besprachen sich flüsternd über den Neueingetretenen.

Der Herr mit dem grauen Bart fragte den Kellner mit leiser Stimme: »Wer ist denn dieser Herr?«

»Der Doktor Salvadeo.«

Bei diesem Namen machte der alte Herr einen Satz auf seinem Stuhle, schob denselben nach rückwärts, und den Arm auf die Lehne stützend, wandte er den Kopf, um Alfonso anzusehen. Dann stand er auf, kreuzte seine Arme auf der Brust und folgte dem jungen Mann mit seinen Augen, bis er sah, daß er Platz genommen hatte. Er beobachtete ihn nochmals mit prüfendem Blick; dann sagte er zu sich, jedoch mit ziemlich vernehmbarer Stimme: »Es ist er, ganz er! Es kann kein Zweifel sein!«

In zwei Schritten war er an seiner Seite, pflanzte sich vor ihn hin, und seine beiden Riesenarme ausbreitend, sprach er: »Sind Sie wirklich Doktor Salvadeo?«

Alfonso erhob sich erstaunt und antwortete: »Ja, mein Herr, der bin ich.«

»Es freut mich, Sie zu sehen. Schauen Sie mich an; kennen Sie mich nicht?«

»Nein, mein Herr; ich habe nie das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen.«

»Auch ich habe Sie nie gesehen und doch kenne ich Sie ganz gut; ich würde Sie unter Tausenden herausfinden. Beim Bachus! Sind Sie nicht der Sohn vom Doktor Giulio?«

»Ganz gewiß!«

»Und du kennst mich nicht? Hat man dir nie vom Onkel Gregorio gesprochen? Von dem Bären aus Bellavista?«

Und ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er weiter: »Der bin ich selbst, in Person; dein Onkel, der Bruder deines Vaters; somit bist du mein Neffe. Laß dich also umarmen!«

Und er drückte ihn in seine starken Arme, die schlanke Gestalt völlig mit denselben umschließend. Dann entfernte er sich einige Schritte, und ihn mit Wohlgefallen betrachtend, sagte er: »Du bist ganz dein Vater; dieselben Augen, dasselbe Profil! Giulio! … Hast du deinen Vater gekannt?«

»Gewiß; ich war zehn Jahre alt, als ich ihn verlor!«

»Du armes Kind! Wenn er nicht die Thorheit begangen hätte, eine Marquise zu heiraten, wäre er jetzt vielleicht noch am Leben! … Aber …«

Dann, den Kopf schüttelnd, als wolle er die traurigen Gedanken verscheuchen, und seine großen grauen Augen auf Alfonso heftend, fragte er: »Und denkst du noch nicht daran, dich zu verheiraten?«

»In der That ja, Onkel; ich habe mich seit kurzem dazu entschlossen.«

»Heiratest du vielleicht auch eine Marquise?«

»Ich, nein; ich begnüge mich mit der Tochter eines Kaufmannes.«

»Um so besser!«

»Aber, lieber Onkel, meine Mutter ist so edel, weißt du, so unendlich gut und edel! Wenn du sie kennen würdest! …«

»Komm' einstweilen mit mir.« Dabei nahm er Alfonso bei der Hand, als ob derselbe ein kleines Kind wäre, führte ihn an seinen Tisch, ließ ihn sich gegenüber setzen und, nachdem er das Mittagmahl bestellt hatte, sagte er: »Also, wir sagten … Ah! Wie heißt du denn?«

»Alfonso.«

»Alfonso? Das ist ein aristokratischer Name; aber, natürlich, der Abkömmling der La Grand' Roche Vaiselle! … Und deine Frau Mutter? Hat sie sich niemals über mich beklagt?«

»Über dich beklagt? Onkel, über dich? O nie, nie! Wie oft hatte sie gewünscht, dich zu kennen! Wie oft war sie daran, dir zu schreiben, dir zu versichern, daß sie nicht den geringsten Groll gegen den Bruder ihres Gatten hege! Wie oft wünschte sie, daß ich nach Bellavista ginge! Aber ich wagte es nicht, aus Sorge, von dir nicht angenommen zu werden.«

»Was du sagst!« murmelte der Onkel, den Kopf schüttelnd, während sich seine Augen mit Thränen füllten.

»Und wie oft,« fuhr Alfonso fort, »waren wir auf dem Punkte, dich aufzusuchen, um dir zu danken für die Wohlthaten, die du uns im verborgenen gespendet hast! Denn ohne Zweifel bist du es, der uns immer so großmütig bedacht hat! … Dir danke ich es, daß ich studieren konnte und es zu etwas gebracht habe! …«

»Schweige, schweige!« wehrte der Onkel. »Was sprichst du da? Träumst du? Ich habe gar nichts gethan!«

Aber Alfonso ließ sich nicht irre machen und sprach weiter: »Wenn du nicht gewesen wärest, was hätten meine arme Mutter und ich angefangen? Laß es mich endlich aussprechen. Wenn wir beide in einer standesgemäßen Stellung vor der Welt stehen, so schulden wir es nur dir, der du meiner Mutter das Leben gerettet und mir die Mittel gegeben hast, eine ehrenvolle Existenz zu erringen …«

Der Onkel, den die Rührung völlig überwältigte und der sich bewußt wurde, daß der Neffe immerzu sprach, ohne auf seine Einwände zu achten, schlug nun plötzlich mit seiner wuchtigen Faust auf den Tisch, daß die Teller und Gläser klirrten und die Anwesenden ihre Köpfe nach ihm wandten, und rief dabei aus: »Hast du denn nicht verstanden, daß ich von diesen Sachen absolut nichts mehr hören will?«

Alle Gäste richteten ihre Augen halberschrocken auf den Sprecher, um zu sehen, was vorgefallen sei, und erblickten das dicke, rote Gesicht Herrn Gregorios in Thränen schwimmend; würde dasselbe nicht unverkennbar bewiesen haben, daß diese Thränen durch eine große Gemütsbewegung veranlaßt wurden, so hätte der Anblick unbedingt zu einem homerischen Gelächter geführt.


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