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Dreizehntes Kapitel.
Der Marquis von La Grand' Roche

Das Schloß La Grand' Roche, in welchem Malwina den Sommer verleben sollte, und wo ihre Mutter schon gewohnt hatte, als sie noch ganz klein war, hatte den Marquis von La Grand' Roche Vaisselle, einer alten, aber verarmten Familie, gehört. Vor etwa dreißig Jahren bestand dieselbe aus dem Marquis, seiner Frau und einer Tochter, Isabella, der letzten Hoffnung dieses berühmten Hauses. Als einziger Rest von den zahllosen Besitztümern war ihnen nur dieses Schloß geblieben. Der Marquis, stolz auf seinen Namen, fand sein Glück in dem Gedanken, welche Stellung die ›La Grand' Roche‹ einst im Lande und bei Hofe eingenommen hatten, und verweilte stundenlang vor den Gemälden seiner Vorfahren, die steif und stolz in schönster Reihenfolge in den großen Sälen und den langen Corridoren hingen, in ihre weiten Mäntel gehüllt, mit den großen gelockten Perücken, die elegant über die Schultern herabhingen und zur Hälfte das Gesicht verbargen, das aus den hohen Spitzen hervorragte, mit welchen die kostbaren Gewänder aus Seide und Sammet, reich mit Gold und Steinen geschmückt, geziert waren. Und wenn er nach solchen sehr häufigen Besuchen seiner Familie von dem großartigen Leben erzählte, das in diesem Schlosse geherrscht hatte; wenn er dann die Blicke seiner Frau und Tochter auffing, wie dieselben in den kahlen Räumen umherschweiften, und die einst mit kostbaren, jetzt aber herabgekommenen Stoffen überzogenen Möbel, die verblichenen Tapeten und Vorhänge betrachteten; dann wurde der Marquis stets wütend. Er überhäufte sie mit Vorwürfen, daß sie sich erlaubten, Vergleiche zu ziehen zwischen dem Glanze der vergangenen Zeiten und der Dürftigkeit der gegenwärtigen, sie zu überzeugen suchend, daß sie sich über nichts zu beklagen hätten, indem alle Reichtümer bedeutungslos seien im Vergleich zu dem Namen, den zu tragen sie das Glück hatten; ein Name, der einst zum Glanze der herrschenden Dynastie beigetragen hatte. Er führte dann zum so und so vielten Male seine Damen in den Salon, und zeigte ihnen den Tisch, an welchem der König gesessen war, als er einst zur Jagdzeit eine Woche hier zugebracht hatte; den Lehnstuhl, der stets mit einer seidenen Hülle bedeckt blieb. Zuletzt wurde das Zimmer aufgesucht, das der Monarch bewohnt hatte, und nicht ohne eine Freudenthräne zu vergießen, deutete er auf diese Möbel, die seit jener glücklichen Zeit nicht mehr benutzt worden waren. Hierauf kam er auf die Feste zu sprechen, an denen er noch in seiner Jugend teilgenommen hatte; und auf diese Weise suchte er den traurigen Gedanken ihrer Armut aus dem Gedächtnisse seiner Zuhörerinnen zu verwischen. Von den lebhaften Beschreibungen des alten Marquis hingerissen, mochten sie wohl manchmal wähnen, es sei das Schloß wieder bevölkert von einer großen Dienerschaft in reichster Livree, die Säle gefüllt von Hunderten stolzen Kavalieren, während die großen Spiegel die Schönheit der Damen widerstrahlten, oder durch die riesigen Fenster das Silberlachen der jungen Mädchen drang, die den herrlichen Park mit seinen hundertjährigen Bäumen belebten.

Fast jedesmal nach solchen Schilderungen, die den Erzähler mit Enthusiasmus erfüllten, die Mutter und Tochter hingegen meistens nur um so wehmütiger stimmten, wandte sich der Vater an letztere mit den Worten: »An dir, Isabella, liegt es jetzt, dieses Schloß wieder im alten Glanze erstehen zu lassen; an dir, einen Gemahl zu finden, würdig der Familie, welcher du angehörst. Weh dir, wenn du herabsteigen würdest! Du hättest dann zu fürchten, daß, sollte ich nicht mehr am Leben sein, du mich aus dem Grabe steigen sähest, um dir die Schmach vorzuwerfen, die du durch eine unwürdige Wahl deiner Familie zufügtest! Dein zukünftiger Gemahl wird dir kaum einen eben so alten Namen anzubieten haben, wie der deine ist. Aber Geduld! Er wird dafür reich sein; er wird seinen Reichtum mit deinem Adel vereinen, und dieser wird seinen eigenen geringeren ausgleichen. Ihr werdet hier wohnen, und diese Mauern sollen von eueren fröhlichen Stimmen wiederhallen. Und ich werde vom Himmel herab auf euch blicken und euch segnen.«

Der Wind, der durch die Spalten der wurmstichigen Fensterrahmen pfiff, schien mit seinem Heulen der Worte des alten Marquis zu spotten. Draußen im weiten Park schüttelten die uralten Bäume, vom Winde bewegt, ihre belaubten Häupter, als wollten sie die Worte des stolzen Schloßherrn tadeln, und das junge Mädchen näherte sich furchtsam seiner Mutter, die traurig vor sich hin blickte.

Die Hoffnungen des Marquis von La Grand' Roche sollten sich nicht erfüllen. Der Edelmann, wie er ihn für seine Tochter Isabella als Gatten erträumte, kam nicht, und so blieb das Schloß in seinem gewohnten Verfalle und der bisherigen Einsamkeit. Aber selbst die strengste Sparsamkeit, der sich die adlige Familie unterzog, reichte nicht hin, um mit den spärlichen Renten auszukommen. Der Besitz des Schlosses legte ihnen Auslagen auf, die ihr Einkommen bei weitem überstiegen; und die Grundstücke, die aus Mangel an Geld fast brach liegen blieben, trugen nicht so viel ein, um die Steuern zu bezahlen. Es kam der Tag, wo sich der Marquis gezwungen sah, zu verkaufen, was ihm das Teuerste auf Erden war: das Schloß seiner Ahnen, seinen Ruhm, sein Leben.

Demungeachtet verlor er den Mut nicht. Das Schloß war bereits zum Verkaufe angeboten, und er hoffte immer noch. Er hoffte, daß irgend ein reicher Kavalier erscheinen würde, um es zu erwerben, der, angezogen von dem Liebreiz seiner Isabella, sie zu seiner Gattin erwählen, und ihr als Brautgeschenk das geben würde, was bereits ihr gehört hatte. Aber die Zeit des Rittertums war vorüber!

Eines Tages, während er glückselig vor dem Bilde einer russischen Prinzessin stand, die sich gewürdigt hatte, Marquise von La Grand' Roche zu werden, und welche Millionen als Mitgift in die Familie gebracht hatte, meldete der alte Diener, der einzige, der ihm geblieben war, daß jemand den Marquis bezüglich des Schlosses sprechen wolle. Ein Blitz der Freude zuckte aus seinen Augen; er befahl sogleich, daß man die Marquise und Isabella benachrichtige, damit sie sich bereit hielten, den Grafen oder Baron, wer er sei, zu empfangen. Er warf einen Blick in den Spiegel, glättete seine Haare, drehte seinen Bart, richtete den Knoten seiner Kravatte zurecht, und schritt dahin, während er sich zu einem würdevollen Gruß vorbereitete. – Im Salon fand er einen Mann von ungefähr fünfzig Jahren, von mittelgroßer Gestalt und ziemlich korpulent, mit dichtem grauen Bart, der einzigen Zierde eines roten, von der Sonne verbrannten Gesichtes. Er war in Grau gekleidet, von eben derselben Farbe war auch der breitkrämpige Hut, den er erst vom Kopfe nahm, als er den Marquis herankommen sah. Dieser letztere, der erwartet hatte, sich einem Herrn von edlem, stolzem Äußeren gegenüber zu finden, blieb bei diesem Anblick ganz bestürzt stehen. Dann aber vermeinend, daß er es mit einem Verwalter zu thun habe, fragte er den Fremden, ohne ihn eines Grußes zu würdigen und ohne ihn zum Sitzen aufzufordern: »Ihr seid wohl wegen des Schlosses gekommen, nicht so? Es ist ein Schloß, das mehr als einem Könige zum Aufenthalt gedient hat! … Glücklich derjenige, der es besitzen wird! Und welchen Namen trägt es! Das Schloß La Grand' Roche Vaisselle! versteht Ihr? Ein Schloß, das seit vielen Jahrhunderten der Familie gehört! Ich besitze alle Dokumente; ich kann sie vorweisen. Vom Jahr 1790 an bewohnte es die Marquise, die Ihr da vor Euch seht, die schönste Dame ihrer Zeit; ich habe die Urkunde darüber, die es bestätigt. Jene schöne männliche Gestalt ist die des Marquis, ihres Gatten, der erste, der aus dem Schlosse seine ständige Residenz machte, infolge der Unruhen, die in Frankreich herrschten. Aber Ihr werdet noch andere sehen, lauter große Männer, und unter den Damen könnt Ihr mehr als eine Prinzessin finden. Habt Ihr es schon einmal besucht?«

»Das Schloß?«

»Ja.«

»Nein, mein Herr.«

»Entschuldigt, man sagt: Herr Marquis.«

Das rote Gesicht des Besuchers wurde violett.

»Ich will einen Diener rufen, der Euch durch den Park führen soll. Ihr werdet eine Unmasse von herrlichen Bäumen finden, alle mit prächtigen Stämmen, manche von ihnen schon geschlagen; Ihr könnt viel Geld daraus gewinnen.«

»Vor allem möchte ich den Preis kennen lernen, den Sie dafür verlangen, um mich danach richten zu können.«

»Der Preis ist einhundertfünfzigtausend Franken. Ich verlange nicht zu viel. Das Schloß allein schon könnte auf diese Summe Anspruch machen, wenn man den Namen der Familie bedenkt, der es seit Jahrhunderten angehörte. Ich biete Euch nicht an, es zu prüfen, weil Ihr dessen Alter und Vorzüge nicht zu schätzen vermöchtet. Um das Schloß zu besichtigen, ist es notwendig, daß der Herr selbst kommt, um mit mir zu verhandeln; wir würden sogleich ins Reine kommen.«

»Von welchem Herrn sprechen Sie denn eigentlich?«

»Von dem Ihrigen. Es wird, so denke ich, ein großer Herr sein, reich …«

»Meinem Herrn? Ich habe keinen Herrn; ich bin in meinem eigenen Interesse hier, und nicht eines anderen wegen.«

»Wie? Seid Ihr nicht der Verwalter, der Inspektor oder Bevollmächtigte von irgend jemand?«

»Nein, mein Herr. Ich bin der Verwalter, der Inspektor und der Bevollmächtigte meines eigenen Hauses.«

»Wolltet Ihr demnach das Schloß und was dazu gehört, für Euch selbst kaufen?«

»Gewiß!«

»Das ändert die Lage der Dinge. Vorerst will ich noch andere Sachverständige darüber befragen. Entschuldigt, entschuldigt! Ich habe mich geirrt! Zweimalhunderttausend Franken wollte ich sagen, zweimalhunderttausend … Guten Tag, guten Tag. Es war ein Irrtum.«

Damit verließ er ihn ohne weiteres, und suchte den alten Diener auf, damit er den lästigen Käufer fortjage, und murmelte für sich: »Die Unverschämten! Kommen die daher mit der Miene eines Eroberers, in dem Glauben, daß sie mit ihresgleichen zu thun haben; erstreben mit aller Unverfrorenheit ein Schloß, als ob es sich um einen Meierhof handle, und sprechen zum Marquis La Grand' Roche Vaisselle wie zu einem Plebejer, mit: Nein, mein Herr, ja, mein Herr! … Ich werde es euch schon lehren! Wenn ihr das Schloß wollet, müsset ihr auch tief in den Säckel langen! Ich werde den Preis so hoch hinauftreiben, als es mir beliebt; aber ihr sollet es nicht haben! … Das Schloß La Grand' Roche einem Bauern überlassen? … O, niemals! Eher sterbe ich Hungers!«

Als er sich überzeugt hatte, daß der Besucher fortgegangen sei, fragte er den Diener, ob er ihn zufällig kenne.

»Ja, Herr Marquis. Es ist unser Nachbar, der Besitzer des großen Ökonomiehofes, den man vom westlichen Turme aus sieht, der Herr Salvadeo, der reichste Grundbesitzer der Gegend, dessen Felder an diejenigen des Schlosses grenzen.«

»Und der hat den Mut, sich mir vorzustellen?«

»Sehen Sie, Herr Marquis, die Ursache liegt darin, daß er mehr Geld besitzt, als alle Grundbesitzer von Saluggia zusammengenommen.«

»Was kümmert mich sein Geld, wenn er nichts weiter als ein Bauer ist?«

Und er blieb stehen, um das stolze Schloß zu betrachten, das er verehrte, und den herrlichen Park, der, wenn auch schlecht unterhalten, sich in all seiner großartigen Schönheit, welcher selbst die Verwilderung nichts anhaben, konnte, weit vor seinen Blicken hin erstreckte. Hierauf schloß er sich in die Bildergalerie seiner Ahnen ein, die in Momenten höchster Entmutigung stets seinen Zufluchtsort bildete. Auf- und abschreitend, rief er aus: »Könnte ich es je vor mir selbst verantworten, all diese Größe in die Hände eines reichgewordenen Bauern fallen zu sehen? Soll ich mich vom niedrigen Geld verlocken lassen, um in dem Besitze eines Plebejers diese Persönlichkeiten hier zu wissen, welche die Zierde des Hofes und der Ruhm der Nation waren?«

Und indem er seine Blicke auf die Augen seiner gemalten Ahnen heftete, schien es ihm, als ob er in jedem derselben einen Blitz des Unwillens ob der bedrohten Ehre der Familie wahrnähme …

Der Herr Antonio Salvadeo, den wir im Hause des Marquis von La Grand' Roche gesehen haben, und den wir als den reichsten Grundbesitzer der Umgegend nennen hörten, war Witwer. Seine Frau war die Tochter eines tüchtigen Advokaten gewesen. Dieser letztere hatte der Befriedigung, einen reichen und angesehenen Schwiegersohn in Signor Salvadeo zu begrüßen, das Glück seiner Tochter geopfert. Die junge Frau, von zarter Konstitution und feiner Bildung, konnte für den Gatten, der gänzlich in seinen Geschäften aufging und sich wenig um sie bekümmerte, keine Liebe empfinden. Er ließ es ihr an nichts fehlen; aber mit seinem derben, oft rauhen Wesen verstand er sich nicht auf die Rücksichten und Aufmerksamkeiten, welche das Gemüt und die zarte Gesundheit seiner Frau erforderten. Er verschaffte ihr wohl manche Zerstreuung; so hatte er sie im ersten Jahre ihrer Ehe ins Theater der benachbarten Stadt geführt und eine der besten Logen genommen; während der Vorstellung war er jedoch eingeschlafen, und die Ärmste hatte sich darüber so gekränkt, daß sie darauf verzichtete, dasselbe nochmals zu besuchen.

Ein andermal hatte er sie zu einem Balle überredet; er verließ sie jedoch an der Thüre und wollte um keinen Preis den Saal betreten. Er zog es vor, in das gegenüberliegende Kaffeehaus zu gehen. Die arme Frau mußte nun ganz allein im Ballsaale erscheinen. Eingeschüchtert und mit geröteten Augen, unfähig, die Thränen zurückzuhalten, die ihr das Benehmen ihres Mannes erpreßten, mischte sie sich unter die Gesellschaft, die, wie sie nur zu gut fühlte, ihre Aufregung wohl zu deuten wußte und darüber ihre Bemerkungen machte.

Man tadelte die Handlungsweise ihres Gatten, und das verletzte die Eigenliebe der Gattin. Sie hätte gern mit ihm darüber gesprochen; aber sie fürchtete, ihn zu ärgern. Denn er hätte doch die Notwendigkeit nicht eingesehen, gewisse Rücksichten beobachten zu müssen, und so litt sie im stillen weiter. Diese fortgesetzten Widersprüche, diese stumm ertragenen Vernachlässigungen trugen viel dazu bei, ihre Gesundheit zu untergraben.

Sie hatte zwei Söhne. Der erste, Gregorio, war ganz das Ebenbild seines Vaters. Von kräftigem Körperbau, mit demselben roten, dicken Gesicht, dem gleichen heftigen Charakter, machte er seiner Mutter manche Sorge, die ihn so gern zu einem feingebildeten jungen Manne heranwachsen hätte sehen. Er war der Abgott seines Vaters, der in ihm sein zweites Ich erkannte. Mit Genugthuung hatte er ihn seine Fibel auf den Boden schleudern und darauf treten sehen, als seine Mutter ihm lesen lehren wollte. Desgleichen bemerkte er mit Stolz, als er ihn, etwas größer geworden, bei den jungen Pferden traf, die auf dem Hofe aufgezogen wurden; daß er versuchte, sie zu zähmen, indem er sie mit einer für sein junges Alter außergewöhnlichen Energie einritt. Kaum hatte er die erforderlichen Jahre erreicht, so nahm ihn der Vater mit sich auf seine Inspektionsreisen durch seine Besitzungen.

Beide in einem kleinen Gefährt sitzend, vor welches Gregorio immer irgend ein feuriges Pferd spannen wollte, um seine Kraft und Geschicklichkeit besser erproben zu können, fuhren sie miteinander fort, oft auch über Nacht ausbleibend.

Auf diese Weise fand sich die Mutter meist allein mit ihrem Giulio, dem jüngeren Sohne. Von zarter Konstitution, sanft und hingebend, mit regelmäßigen Zügen, glich er ganz seiner Mutter, an der er voll zärtlicher Liebe hing. Er verließ sie nie, und wenn der Vater erschien, klammerte er sich nur um so fester an seine Mutter; und wenn dieselbe ihn mit Gewalt in die Arme des Vaters legte, wurde das Kind blaß und ängstlich, und weinte bitterlich. Herr Antonio versicherte dann jedesmal, daß Giulio weibisch sei und zu nichts tauglich sein würde. Glücklicherweise, so meinte er, wäre Gregorio da, der nach dem Rechten sähe; sonst würde es mit den Gütern schlecht bestellt sein.

Giulio, der viel Vorliebe zum Studieren zeigte und einen aufgeweckten Verstand besaß, wurde ins Kolleg geschickt. Die arme Mutter, die bisher ihr ganzes Glück in der Erziehung des Sohnes gefunden hatte, der ihr so schöne Hoffnungen verhieß, sah sich nun allein und verlassen. Da überließ sie sich vollends ihrer Niedergeschlagenheit; und die Schmerzen, die sie vorerst, im Zusammensein mit ihrem Liebling, ergebungsvoll ertragen hatte und die durch einen Blick, eine Liebkosung von ihm gemildert worden waren, traten mit verdoppelter Heftigkeit auf. Ihre schwankende Gesundheit verschlechterte sich; sie wurde von einem Übel befallen, das man vernachlässigte, weil man es nicht für bedeutend hielt, das sie jedoch in wenigen Monaten an das Grab führte. Die arme Mutter starb, ohne ihren Giulio nochmals gesehen zu haben, der ohne Stütze, ohne Beistand zurückblieb, und am Sterbelager sagte sie zu ihrem älteren Sohne Gregorio zu wiederholten Malen: »Ich empfehle dir Giulio; nimm dich seiner an!«

Und der Sohn, der auf seine Weise die Mutter liebte, versprach ihr, über ihn zu wachen und ihn auch dem Vater ans Herz zu legen, der, die Gefahr des Übels nicht ahnend, seit zwei Tagen Geschäfte halber abwesend war.

Mehrere Jahre waren verflossen. Gregorio war ein stattlicher Mann geworden, untersetzt, mit breiten Schultern, kräftig und thätig. In die Fußstapfen seines Vaters tretend, war er stets darauf bedacht, sein Hab und Gut zu mehren.

Giulio hatte sich zu einem verständigen, sympathischen jungen Manne entwickelt; von Natur schmächtig und zart, studierte er dennoch unablässig und bereitete sich zum Doktorexamen vor.

Als Herr Antonio hörte, daß der Nachbar seines Meierhofes, den man L'Abelarda nannte, der Marquis von La Grand' Roche das Schloß zum Verkaufe ausgeboten habe, hatte er einen erleuchteten Gedanken. In der Sorge für die Zukunft seiner Söhne entschloß er sich zu folgendem: Er wollte Gregorio als den ältesten und zur Verwaltung der Güter fähigsten zu seinem Universalerben ernennen. Für den anderen würde er das Schloß mit dessen Grundstücken ankaufen. Mit der Hilfe Gregorios könnte er den Park in guten Stand setzen, der für sich allein genügen würde, eine ganze Familie zu erhalten, wenn man es nur richtig anfaßte. Nachdem dies keine schwere Aufgabe war, selbst für jemand, der sich nie mit der Landwirtschaft beschäftigt hatte, würde das ja ganz gut für den kleinen Doktor passen. Derselbe würde dem Hause Salvadeo Ehre machen, und er, der Vater, wollte dann die letzten Jahre seines Lebens im Schlosse, unter dem Schatten der großen Bäume des Parkes verbringen.

Er kannte den Marquis nicht, da er nur in Geschäften nach Abelarda ging, ohne sich länger dortselbst aufzuhalten; er hatte jedoch von ihm sprechen hören als von einem hochmütigen Aristokraten und ausgesprochenem Feinde der reichgewordenen Plebejer.

Er dachte indes, daß das nur ein Gerede sei, und daß beim Anblick des Goldes der Marquis seine bizarren Ideen fallen lassen würde.

Gedacht, gethan. Eines Tages verließ er frühzeitig Bellavista, seinen Wohnort, indem er seinen Söhnen die Weisung gab, ihm nach Abelarda zu folgen, woselbst er ihnen das Resultat seiner Unterhandlungen mitteilen würde.

Was darauf im Schlosse vorfiel, wissen wir bereits. Herr Antonio war in höchster Erregung nach Hause gekommen. Auf dem Wege hatte er nicht einmal die Grüße der Bauern erwidert, die ehrerbietig den Hut vor ihrem Gebieter zogen, und mit einem Fußtritt den treuen Hund Tom, der ihm freudewedelnd entgegensprang, beiseite geschleudert; der gute Andreas, der ihn fragte, wo man den eben angekommenen Mais unterbringen müsse, wurde hart angefahren. Die Taglöhner, bemerkend, daß ihr Herr an diesem Tage schlechter Laune war, blieben ihm soviel als möglich fern, und wenn sie gezwungen waren, an ihm vorüber zu gehen, steckten sie die Köpfe ein, und glitten so geräuschlos als nur immer möglich an ihm vorbei. Wenn Herr Antonio zum Zorn gereizt wurde, war er schrecklich; nicht einmal seine eigenen Söhne getrauten sich in solchen Momenten ihre Augen zu ihm zu erheben oder ein Wort an ihn zu richten.

Als diese beiden in Abelarda ankamen und sahen, wie die Dinge standen, dachten sie sogleich an den Rückzug. Gregorio machte sich mit der Flinte auf den Weg durch die Felder, und Giulio ging, mit einer medizinischen Abhandlung unter dem Arme, auf die Suche nach einem schattigen Plätzchen.

Abelarda war kein Edelsitz, sondern bestand aus einem riesigen Gebäude mit weit sich ausdehnenden Feldern und Wiesen; es war nur ein Besitz, der Geld einbringen sollte, nicht geschaffen zum Vergnügen und zum Verweilen. So gab es weder schattige Bäume noch einen Ziergarten; nur Maulbeerbäume und Weiden wuchsen da, nichts weiter.

Giulio eilte vorwärts, bis er sich vor einer hohen Mauer befand, über welche dichtbelaubte Äste herüberragten, die rings umher willkommenen Schatten und angenehme Kühle verbreiteten. Er gewahrte, daß er vor dem Parke des Marquis von La Grand' Roche stand; so zufrieden er war, dies Plätzchen gefunden zu haben, trieb ihn doch die Neugierde, das Schloß in der Nähe zu sehen, und so ging er noch weiter der Mauer entlang. Er hatte nur wenige Schritte gemacht, als er sich vor einem Gitterthor befand. Hinter demselben war alles in der größten Verwahrlosung; von den Bäumen und Sträuchern, die seit Jahren nicht gepflegt worden waren, hingen eine Menge abgestorbener Zweige herab, was dem ganzen Orte ein düsteres Gepräge verlieh. Dorngestrüpp und Brennesseln überwucherten die Wege und gaben Zeugnis, daß sich niemand um die Erhaltung des schönen Parkes kümmerte.

Der junge Mann blieb erstaunt stehen, angesichts eines solchen Verfalles. Er machte einige Schritte vorwärts, zog sich jedoch schnell wieder zurück, indem er in einiger Entfernung unter einer Allee zwei Damen bemerkte. Als er sich überzeugte, daß sie ihn gar nicht gesehen hatten, näherte er sich neuerdings dem Gitterthor und beobachtete sie. Die Frauengestalten saßen sich gegenüber; er konnte die eine derselben, in weiß gekleidet, genau unterscheiden. Sie arbeitete emsig und erhob die Augen nur, um die andere Dame anzublicken, welche, nach dem dunklen Kleide und den ergrauten Haaren zu schließen, ihre Mutter sein mochte. Welch süßes Antlitz hatte dieses junge Mädchen! Wie gut mußte es sein! Giulio fuhr fort, es zu betrachten, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, wie die Zeit vorüber ging. Als er sich endlich erinnerte, daß er hergekommen war, um zu studieren, sah er, daß die Sonne am Untergehen war und er nach Abelarda zurückkehren mußte; sicher erwarteten ihn Vater und Bruder zur Heimfahrt. Als er jedoch den Hof erreichte, erfuhr er, daß sie bereits nach Hause zurückgekehrt seien. Er vernahm diese Nachricht nicht ohne eine Regung der Freude, und entschloß sich, die Nacht über in Abelarda zu bleiben. Der nächste Tag war ein Sonntag.

Giulio erhob sich frühzeitig und machte sich auf den Weg nach Saluggia, der nächsten Ortschaft, um der Messe beizuwohnen. Nicht ohne Herzklopfen sah er drei Personen in die Kirche treten, von denen er zwei wiedererkannte, die ältere dunkel gekleidete Dame und das junge Mädchen in einem hellen Gewande, das sich der graziösen Figur so vorteilhaft anschmiegte, und einen Herrn, den er für den Vater hielt. Er vermutete in ihnen die Bewohner des Schlosses; dennoch wollte er dies von anderen bestätigt hören und noch Näheres über sie erfahren. Er hatte nur Augen für dieses Kind, das mit so viel Andacht dem Gottesdienste beiwohnte. Derselbe war kaum beendet, als er die Kirche verließ.

Er wandte sich um Bescheid an die erste Person, die er sah und erhielt die Antwort: »Der Herr ist der Marquis von La Grand' Roche; die ältere Dame ist seine Frau und die andere ihre Tochter, die Marquise Isabella; ein Engel an Güte.«

Giulio war befriedigt; sie hieß also Isabella. Welche Unschuld leuchtete aus ihrem Antlitz! Welche Anmut lag in ihren Bewegungen! Er wartete, bis die drei Schloßbewohner vorbeikamen, und wendete kein Auge von ihnen, so lange er sie noch unterscheiden konnte. Dann eilte er nach dem Hofe, ließ anspannen und fuhr nach Bellavista zurück. Er fand seinen Vater in derselben schlechten Laune wie den Tag vorher, indem er gegen den Marquis wie gegen alle Adligen loszog, und fest in seinem Entschlusse beharrte, das Schloß um jeden Preis zu erringen, müßte er selbst eine hohe Summe darauf legen, ja sogar auf die Gefahr hin, eine seiner Meiereien zu verkaufen, um den geforderten Preis zu erzielen.

Als Giulio von seinem Bruder die Ursache eines so heftigen Unwillens erfuhr, konnte er nicht fassen, wie der Vater eines so engelgleichen Geschöpfes so stolz sein könne; es wurde ihm schwer ums Herz.

Herr Antonio, auf seine Reichtümer pochend, stellte sich ein zweites Mal im Schlosse ein, wurde aber nicht vorgelassen. Kochend vor Wut kehrte er heim, mit einem verstärkten Haßgefühl gegen den ganzen Adel.

Der Marquis, blind in seinem Eigendünkel und seinem Adelsstolze, blieb fest bei dem Vorsatz, das Schloß nur einem Edelmanne zu überlassen. Und der Edelmann fand sich wirklich, ein alter Junggeselle mit einem großen Namen, wie es der Marquis immer gewünscht hatte. Aber der Kavalier warb keineswegs um Isabellas Hand, da er seine Freiheit nicht aufzugeben gedachte, so schön und tugendhaft das junge Mädchen auch war. Der Marquis, der sich stets der süßen Illusion hingegeben hatte, das Schloß seiner Väter nicht verlassen zu müssen, ward nun doch dazu gezwungen. Der Ärmste hatte bis zuletzt gehofft, daß der neue Besitzer aus Rücksicht für die Familie La Grand' Roche und im Hinblick auf den bedeutend herabgesetzten Preis, um welchen er ihm das Schloß überlassen hatte, der Familie nicht zumuten würde, ihren Stammsitz zu verlassen.

Diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Der Kontrakt war kaum geschlossen, als der Unglückliche Maurer, Schreiner und Tapezierer in das Schloß einrücken sah, so daß er gezwungen war, schleunigst den Platz zu räumen.

Den armen Marquis berührte dies wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er hatte immer noch gehofft; selbst während sie ihr weniges Hab und Gut zurecht richteten, gab er sich noch sanguinischen Gedanken hin.

Als er sein stolzes Schloß verlassen hatte, als er sich in dem kleinen Hause befand, dem einzigen Besitz, der ihnen in dem Dorfe Saluggia noch geblieben war, als er seine geliebten Gemälde nicht mehr sehen und sein Auge nicht mehr auf die edlen Ahnen heften konnte, die mit ihren Blicken, seinen Worten gemäß, all sein Thun entweder billigten oder tadelten; da kam eine grenzenlose Niedergeschlagenheit über ihn. Er sah blöde und verständnislos Frau und Tochter zu, wie sie, vom alten Diener, der sie um keinen Preis verlassen wollte, unterstützt, ihr bescheidenes Heim einrichteten; dann ergriff ihn ein hitziges Fieber, das ihn in wenigen Tagen zum Grabe führte. Die Marquise blieb allein mit Isabella.


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