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Fünftes Kapitel.
In den Bergen

Die Hitze war unerträglich geworden. Herr Arnaldi, der spät ausgegangen war, kehrte sofort wieder zurück mit der Erklärung, daß es draußen nicht auszuhalten sei. Er setzte sich zu Malwina, die mit Einräumen eines Schrankes beschäftigt war. Ab und zu rief er aus: »Hier ist es viel besser; auf den Straßen vergeht man vor Hitze. Wie kühl ist es in deinem Zimmer! Aus diesem Grunde hast du es auch so gern, nicht?«

Nachdem er eine Zeit lang geschwiegen hatte, begann er etwas zögernd: »Malwina, den ganzen Tag denke ich heute an dich.«

»In welcher Hinsicht?«

»Ich fürchte immer, daß dir das Haus langweilig werden muß.«

»Weshalb, lieber Vater?«

»Weil du immer allein bist.«

»Ich bin ja gar nicht allein, nachdem du mir alle deine freien Stunden opferst.«

»Opfern? Weißt du nicht, daß es meine schönsten Stunden sind, die ich bei dir zubringe?«

»Sagst du das im Ernst?« fragte Malwina, während sie ihre Beschäftigung unterbrach und ihren Vater dankbar anblickte.

»Gewiß, gewiß!«

»Wie willst du also, daß mir dieses Haus nicht reizend erschiene? Ich habe dich, der du ganz mir gehörst. Ich habe Bücher, die angenehmste Gesellschaft in meinen Mußestunden; ich habe das Klavier, die Blumen, die Malerei und andere Beschäftigungen, die den ganzen Tag ausfüllen, so daß ich stets mit Bedauern den Abend herankommen sehe.«

»Und doch langweilten sich deine Cousinen und ebenso deine Tante zu Tode an dem Tage, an welchem sie nicht einem Schauspiele beiwohnen oder zu einem Balle oder zu sonstigen Vergnügungen gehen konnten.«

»Weißt du warum? Weil sie eine andere Erziehung erhielten. Die Klosterfrauen, glaube mir, Vater, waren mir wirkliche Mütter, die mir alle möglichen Mittel anzugeben wußten, um die Langweile fernzuhalten.«

»Ich muß gestehen, daß es so ist, wenngleich es nicht mein Wunsch war, dich in das Kloster zu geben. Ich ließ dich dort, um dem Willen deiner armen Mutter nachzukommen; indes bin ich jetzt ganz damit ausgesöhnt; der Erfolg bewies, daß sie recht hatte.«

»Ich selbst, wie du siehst, lieber Vater, bin dir und ihr dankbar dafür.«

»Das soll mich übrigens nicht abhalten, dir von jetzt an schönere Tage zu verschaffen. Seit einiger Zeit denke ich daran, dich irgendwo hinzuführen.«

»Ich danke dir für diesen liebevollen Gedanken! Wohin gehen wir?«

»Ziehst du das Meer oder die Berge vor?«

»Ich möchte dahin gehen, wo es keine geputzten Menschen giebt, und wo wir eine reine, gute Luft atmen können. Du selbst brauchst recht notwendig Erholung; du hast so viel gearbeitet! Am Meere sind zur jetzigen Saison zu viele Leute. Gehen wir in die Berge. Ich habe sie nie anders als von der Ferne aus gesehen.«

»Ausgemacht! Nur mußt du dich noch eine Woche lang gedulden, damit ich mich ganz frei von geschäftlichen Sorgen fühle. Gieb einstweilen Laura den Auftrag, alles Nötige vorzubereiten, und verschaffe dir alles, was dir Vergnügen macht; in acht Tagen reisen wir.«

Malwina begann sogleich für die Reise zu rüsten.

Den folgenden Tag kam ihr Vater eine gute Weile vor dem Diner nach Hause, und forderte seine Tochter auf, eine kleine Spazierfahrt durch die Stadt mit ihm zu machen. Sie stiegen vor mehreren Läden aus, in denen sich Malwina einige einfache Toiletten für das Land auswählte; und da die Pferde im Schritt gingen, konnte sie die verschiedenen schönen Auslagen von Juwelen, Spitzen und anderen Schätzen betrachten; plötzlich gab sie dem Kutscher Befehl, zu halten, und der Vater schaute nach dem Laden, vor dem sie hielten. Er sah dort Bilder, Gebetbücher, Rosenkränze, und glaubte an eine Verwechslung. Da jedoch Malwina ausstieg, folgte er ihr. Das junge Mädchen verlangte ein Kruzifix. Sofort wurden verschiedene sehr kostbare vorgelegt, die in Silber und Elfenbein gearbeitet waren, Malwinas Geschmack jedoch nicht entsprachen. Hierauf brachte man andere einfacherer Art, von schwarzem Holz mit dem Christusbilde, das so schön und naturgetreu nachgebildet war, daß Malwina es ganz begeistert betrachtete. Der Körper bedeckt mit Blut und Wunden, das Antlitz bleich und eingefallen, der Mund halb geöffnet, die Hände, die Füße, die durchstochene Seite! O, wie all das dem jungen Mädchen die Leidensgeschichte ihres Erlösers vor die Seele führte! Das war das Kruzifix, wie sie es in ihrem Hause zu besitzen wünschte, wo sonst alles Freude und Behagen atmete. Das Beispiel der Leiden Jesu, seiner Sanftmut, seines Opferlebens, würden ihr die Kraft verleihen, ihre edle Mission zu beginnen und darin treu auszuharren. Sie wandte sich an ihren Vater und sagte: »Ich nehme dieses hier; soll ich auch eines für dich dazu legen?«

Obgleich Herr Arnaldi durchaus nicht die Notwendigkeit einsah, seinen Augen einen so wenig erfreulichen Anblick vorzuführen, wollte er dennoch seiner Tochter nicht widersprechen und nickte zustimmend mit dem Kopfe. Malwina nahm somit zwei Exemplare, und kehrte befriedigt mit ihrem Vater nach Hause zurück.

Eines schönen Morgens reisten Vater und Tochter nach Fenestrella ab. Die Reise war herrlich, namentlich für das junge Mädchen, das noch nie die Schönheiten des Landes geschaut hatte. Es sah mit Spannung die duftigen Berge sich nähern und freute sich, sie den folgenden Tag in der Nähe bewundern zu können.

Spät abends kamen sie an und lenkten ihre Schritte nach dem Gasthause. Sie wurden in den Speisesaal geführt, woselbst ihnen das Abendessen serviert werden sollte. Aber wie sah es daselbst aus! Es schien, als ob die Vandalen darin gehaust hätten! Der lange Speisetisch bot ein Bild der grenzenlosesten Unordnung, und der große Raum war ganz erfüllt von dickem Tabaksqualm. Der Kellner beeilte sich, als Entschuldigung zu erwähnen, daß vor zwei Stunden ein Bataillon Alpenjäger ganz unerwartet angekommen sei, und die ausgehungerten Offiziere diese Unordnung verursacht und alle Gastzimmer eingenommen hätten. Die Familie des Besitzers jedoch wollte gern den neuangekommenen Gästen zwei ihrer eigenen Wohnräume zur Verfügung stellen. Malwina lachte in fröhlicher Unbekümmertheit, die Sache von der heiteren Seite aufnehmend.

Am nächsten Morgen, als sie die Augen öffnete, war die Sonne schon hoch am Himmel, und wie groß war ihr Erstaunen, als sie das herrliche Panorama gewahrte, das sich ihr vom Balkon aus bot! Gerade gegenüber die hohe, wilde Berggruppe, deren schneegekrönte Häupter den Himmel zu berühren schienen, und daneben die tiefen Abgründe, die ihr nahezu Furcht einflößten; da und dort malerische Hütten, die in der Entfernung sich wie Kinderspielzeug ausnahmen. Zu ihren Füßen stürzte sich ein schäumender Gebirgsbach über Steingeröll, dessen Tosen einem in der Ferne verhallenden Donner glich. Malwina konnte sich von diesem Anblick nicht trennen und fühlte ihr Herz aufs tiefste ergriffen. Sie gedachte der Macht Gottes, der so Großartiges geschaffen, und betete ihn in stummer Andacht an.

Eine bekannte Stimme traf ihr Ohr. Ihr Vater befand sich bereits unten und rief sie zu sich. Schnell eilte sie hinunter und besichtigte mit ihm das Dorf, das anmutig zwischen zwei Bergen lag und aus wenigen Häusern bestand; im Hintergrunde erhob sich die Kirche, die der Sakristan soeben schließen wollte. Malwina ließ ein Geldstück in seine Hand gleiten, und er öffnete nochmals die Thür, um sie einzulassen. Es war eine höchst armselige Kirche, ohne Schmuck, ohne Vergoldung, ohne Gemälde. Sie erregte wirklich Mitleid. Und wie kalt war es in dem nüchternen Raume! Malwina dachte an die armen Gebirgsbewohner, die sich nur von Kartoffeln und Kastanien nährten; natürlich konnten sie nicht für das äußere Ansehen des Gotteshauses sorgen. Aber welch inbrünstige Gebete mochten dafür wohl in demselben zu Gott emporsteigen!

Sie schlugen einen Fußpfad ein und gelangten an einen reizenden Ruhepunkt. Rings herum standen dicht belaubte Bäume, die eine Art Wäldchen bildeten, aus dessen Schatten ein Felskegel emporragte; ein kristallklare Quelle sprudelte in ziemlicher Höhe daraus hervor, das zarte Gras und die Blumen, die hier in Fülle sproßten, wie mit Tautropfen benetzend. Dann, sich in ein Bächlein sammelnd, floß sie sanft plätschernd weiter, um sich endlich mit dem unten rauschenden Gebirgsbach zu vereinen.

»Welch köstliches Plätzchen, lieber Vater! Wie schön ist es hier sein! Nach dem Gabelfrühstück wollen wir wieder kommen und uns hier niederlassen, du mit deiner Zeitung, und ich mit einer Handarbeit?«

»Wie es dir gefällt, liebes Kind.«

Abends nach dem Diner schlugen Vater und Tochter die entgegengesetzte Richtung ein, der Hauptstraße entlang. Nachdem sie das Dorf verlassen und noch eine Strecke weiter gegangen waren, erhob sich auf steiler Höhe eine Festung vor ihren bewundernden Blicken. Das riesige Gebäude mit seinen massiven Quadern, den zahllosen Schießlöchern, den soliden Einfassungsmauern, präsentierte sich wie ein Koloß, der als Hüter dieser Berge aufgestellt war, welche, nicht weniger gewaltig, die Gebieter der Gegend zu sein schienen. Die Sonne, bereits hinter den hohen Spitzen der Berge verborgen, verbreitete über die Landschaft eine gewisse Helle, die nicht mehr der Tag, noch die Dämmerung war und die Seele mit einer mystischen Furcht erfüllte, welche dem Menschen das Gefühl seiner Kleinheit und Armseligkeit, der Natur gegenüber, aufzudrängen schien.

Als Vater und Tochter in das Dorf zurückkehrten und sich dem Gasthause näherten, schallte ihnen aus dessen Inneren Lärm und Getöse entgegen. Fröhliche Stimmen und lautes Gelächter ertönten. Als sie in den Saal eintraten, sahen sie die Offiziere vor sich, die eben ihre Mahlzeit beendigten. Beim Erscheinen der Neuangekommenen trat eine plötzliche Stille ein, und alle nahmen eine ernste, gemessene Haltung an.

Malwina mußte über diese schnelle Umwandlung lächeln, und wenngleich ihr dieses Verhalten sehr wohl gefiel, bedauerte sie, eine Störung hervorgerufen zu haben. Sie verließ mit ihrem Vater sofort den Saal, um die Gesellschaft wieder ihrer ungezwungenen Freiheit zu überlassen.

Eine Stunde darauf schaute sie, auf dem Balkon neben ihrem Vater stehend, dem Abmarsche des Bataillons zu, und während die Soldaten vorbeimarschierten, salutierten die Offiziere mit dem Säbel.

Denselben Abend war Malwina kaum eingeschlafen, als sie durch Pferdegetrappel und fremde Stimmen aufgeweckt wurde. Nach einiger Zeit hörte sie auf der Treppe Leute heraufkommen und gedämpftes Stimmengemurmel, ein Auf- und Zuschließen von Thüren; dann war wieder alles still. Sie dachte bei sich, daß sie am nächsten Morgen wieder neue Gesichter sehen würde. Als sie zum Frühstück in den Speisesaal trat, fand sie ihn jedoch zu ihrem Erstaunen ganz leer. Sie erkundigte sich, ob keine Fremden angekommen wären, und man sagte ihr, daß dieselben in aller Frühe einen Ausflug unternommen hätten. Ihre Neugierde wurde am Abend endlich befriedigt.

Sie war mit ihrem Vater bei Tische, als die Gesellschaft zurückkam; dieselbe bestand aus vier Herren, drei Damen und fünf jungen Mädchen. Sie setzten sich an einen Tisch, Malwina gegenüber, welche sie auf diese Weise bequem sehen konnte.

Die Fremden sprachen von ihrem gelungenen Ausflug in den Bergen, und machten neue Pläne für den nächsten Tag. Einer von den Herren, von distinguiertem Äußeren, an welchem man trotz des einfachen Alpinistenkostüms den Mann der Welt erkannte, richtete seine Augen oft auf Malwina, welche sich unter diesen zu häufig wiederkehrenden Blicken etwas unbehaglich fühlte. Herr Arnaldi wandte den Kopf, um die fremden Gäste Zu mustern, als sein Blick dem des jungen Mannes begegnete, der sich sogleich erhob und mit erstaunter Miene sich ihm näherte, indem er sagte: »Wie, Herr Arnaldi?«

»Ja, wie Sie sehen.«

»Mir schien es erst, als ob Sie es sein müßten; aber ich glaubte meinen eigenen Augen nicht trauen zu dürfen.«

»Es mag Ihnen allerdings sonderbar scheinen, mich hier zu sehen; ich wollte jedoch meiner Tochter diese schönen Berge zeigen.«

»Ihrer Tochter? Es ist mir eine große Freude, deren Bekanntschaft zu machen. Möchten Sie die Güte haben, mich ihr vorzustellen?«

»Herr Conti, ein guter Bekannter von mir, Künstler, Schriftsteller,« sagte der reiche Kaufherr, sich zu seiner Tochter wendend.

Dieselbe erwiderte anmutsvoll die Verbeugung des jungen Mannes, welcher fragte: »Sind Sie schon lange hier?«

»Erst seit zwei Tagen.«

»Und haben Sie die Absicht, länger zu bleiben?«

»Wie es Malwina gefällt,« entgegnete Herr Arnaldi; »ich habe mich ganz zu ihrer Verfügung gestellt.«

»Wenn dem so ist, so bitte ich, zu erlauben, daß ich mich an der schönen Aufgabe beteilige, Ihrem Fräulein Tochter Unterhaltung zu verschaffen. Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, werde ich Ihnen meine Gesellschaft vorstellen.«

»Macht es dir Freude, Malwina?«

»O ja, lieber Vater.«

Herr Conti wandte sich zu seinen Reisegefährten, die sich alle erhoben hatten, und stellte dieselben Vater und Tochter vor.

Alle sprachen einstimmig den Wunsch aus, daß sich beide ihnen anschließen möchten. Sie setzten sich zusammen, Malwina zu den jungen Mädchen, und das Gespräch wurde allgemein. Die jungen Damen hatten bald Freundschaft geschlossen, und den nächsten Morgen, noch ehe sich die Sonne erhoben hatte, war die vereinte Gesellschaft schon auf dem Wege nach einem See, der einige Stunden von Fenestrella entfernt lag. Zwei Männer, mit allem zu einem substantiösen Imbiß Nötigen versehen, waren vorausgegangen. Die jungen Mädchen, von Conti begleitet, eilten den übrigen voran und nahmen sich in ihren leichten Sommerkleidern, mit den blumengeschmückten Hüten und ihren rosigen Gesichtern wie ebenso viele Blumenknospen aus. Lachend und plaudernd stiegen sie munter aufwärts, von Zeit zu Zeit Halt machend, um wieder Atem zu schöpfen. Nach und nach jedoch machte sich die Müdigkeit geltend, obwohl dies niemand eingestehen wollte. Sie zeigte sich in der schlaffen Haltung, dem schwereren Atmen, dem allmählich eintretenden Schweigen, nur unterbrochen von den ermunternden Worten einiger der Tapfersten aus ihnen. Malwina allein schien nicht die geringste Ermüdung zu fühlen. Sie war voll Begeisterung von all den Schönheiten, die sich vor ihren entzückten Blicken entrollten und bei jeder Biegung des Weges wechselten. Ganz verloren in diesem Genüsse, bemerkte sie nicht, wie ihr Nachbar sie den Gefährtinnen als Beispiel vorhielt, die alle über Malwinas Enthusiasmus lachten: die einen, weil ihnen diese herrliche Gebirgswelt nicht mehr fremd war; die anderen, weil sie vielleicht nicht die ganze Größe dieser prachtvollen Natur zu fühlen imstande waren.

Endlich machten sie auf einer Erhöhung Rast, wo die Träger mit den Erfrischungen bereits ihrer warteten. Sie ließen sich alle ganz erschöpft auf das weiche Gras nieder; aber die reine, kräftige Luft, die sie umwehte, und die bezaubernde Schönheit des Platzes erstatteten in kurzer Zeit die verlorenen Kräfte wieder; die Vorräte wurden den Körben entnommen und mit wahrem Heißhunger verzehrt. Munteres Plaudern ließ sich neuerdings hören und fröhliches Lachen wiederhallte von den Felsen; so vergingen einige frohe Stunden. Die Träger, die zugleich als Führer dienten, hatten sich das Hauptziel des Ausfluges bis zuletzt vorbehalten. Als sie sahen, daß die Gesellschaft, des langen Sitzens müde, sich erhoben hatte, baten sie dieselbe, ihnen zu folgen. Sie erreichten bald eine Plattform, die kaum einige hundert Schritt breit war. Sich dem Rande nähernd, empfahlen die Führer die größte Vorsicht. Kaum hatten die Reisenden die Tiefe, welche sich vor ihren Blicken aufthat, mit dem Blicke gemessen, als die meisten sich bleich und erschreckt zurückzogen. Der Berg, auf dem sie standen, fiel aus einer enormen Höhe senkrecht ab; tief unten breitete sich ein malerischer See vom tiefsten Blau aus. Der Unglückliche, der hier hinabstürzte, wäre tot gewesen, ehe er denselben erreicht hätte. Auf der gegenüberliegenden Seite erhob sich die schlank emporragende Spitze eines andern Berges, gleichsam als Zeuge der Unglücksfälle, die sich vor ihm ereignet haben mochten. Die Führer erzählten von einem Hirten, der vor nicht langer Zeit in diese Tiefe gestürzt sei; man hatte im See nach ihm gesucht, ohne ihn zu finden. Das Wasser mußte von unergründlicher Tiefe sein. Alle blieben eine Weile in stummer Betrachtung versunken, bis sie sich endlich von diesem großartigen, aber gefährlichen Punkte losrissen. Die Jugend sammelte am Rückwege die schönsten Alpenrosen, die in Menge diese Höhen bedeckten.

Den ganzen Tag über hatte sich Conti beständig um Malwina bemüht; er trug ihren Shawl und legte ihn ihr um, sobald die Luft etwas kühl wurde; er hatte ihr den besten Sitz verschafft und war ihr steter Nachbar. Und wenn er sie einen Augenblick lang verlassen mußte, um irgend jemand Aufklärung zu geben über einen Ausblick, eine Bergspitze oder eine Pflanze, da er sich auch auf Botanik verstand, suchte ihn Malwina, ohne sich dessen bewußt zu sein, mit dem Blicke, und war zufrieden, wenn er an ihrer Seite weilte, selbst wenn er nicht sprach.

An diesem Abend bemerkte Malwina während ihres Nachtgebetes, daß sie sehr zerstreut war; ihre Gedanken waren bei dem hübschen blonden Jüngling. Sie wollte die Ursache ergründen, warum sie immer an ihn dachte und glaubte, sie in dem Umstande zu finden, daß er so voll Geist und Leben war und so gut zu sprechen wußte. Seine Gesellschaft wurde von jedermann gesucht; somit war nichts natürlicher, als daß ihre Gedanken sich gern bei ihm aufhielten.

Die folgenden Tage machte man wiederholt Ausflüge in die schönen Berge, und stets war Conti Malwina zur Seite. Er gab ihr den Arm bei schwierigen Stellen, unterstützte sie, um kleine Bäche zu überschreiten; er war mit Einem Wort voll Aufmerksamkeit. Sie genoß dieses Zusammensein in vollen Zügen, und die Zeit schien Flügel zu haben in seiner Gegenwart.

An dem Abend, an dem er ihr sagte, daß die Gesellschaft den nächsten Tag abreisen werde, somit auch er in ihrem Gefolge, hatte seine Stimme einen eigentümlich weichen Klang und er sah ihr dabei fest in die Augen. Sie nahm die Nachricht mit scheinbarer Gleichgültigkeit entgegen; als sie sich aber allein mit ihrem Vater sah, und sich der nun eingetretenen großen Stille bewußt wurde, überfiel sie eine tiefe Schwermut. Die vergangenen Tage hindurch an die fröhlichen Gespräche und das heitere Lachen ihrer Umgebung gewöhnt, berührte sie von nun an das Rauschen des Gebirgsstromes unsäglich traurig. Ihre Augen hatten kein Wohlgefallen mehr an den Bergen, und auch ihren Vater fand sie verändert; er besaß in seinen Bewegungen nicht die Leichtigkeit des Herrn Conti, und so lieb und aufmerksam er sich gab, war er doch weit entfernt von der Galanterie dieses jungen Mannes.

So kam es, daß, nachdem die muntere Gesellschaft fehlte, sie ihren Vater nicht einmal auf den kurzen Spaziergängen begleiten wollte, die sie anfangs so köstlich unterhalten hatten. Bei Tische mußte ihr Vater mehrmals eine Frage wiederholen, weil sie dieselbe nicht gehört hatte; sie dachte an etwas ganz anderes. Selbst die Stimme ihres Vaters quälte sie; sie fühlte durchaus keine Lust, zu sprechen, und so wollte sie auch, daß um sie her alles schweige.

Sie lauschte nur mit Vergnügen, wenn über die heiter verlebten Tage gesprochen wurde, und hörte mit sichtlicher Befriedigung den Namen Conti nennen; ja, sie hätte ihren Vater küssen mögen, wenn dieser sagte: »Dieser Conti ist unvergleichlich! So viel Verstand, so brav und tüchtig! Wo er ist, da herrscht Fröhlichkeit. Diesen Winter werden wir ihn einladen, wenn er überhaupt nach Vercelli kömmt; denn er ist von einer wahren Manie des Reisens besessen. So verbringt er ein Jahr in der Schweiz, einen Monat in Paris, einen anderen in Lyon, geht auf drei Monate nach London, dann nach Neapel, so daß er jahrelang fort bleibt, ohne daß man weiß, ob er am Leben oder tot ist, bis er plötzlich eines schönen Tages ganz unerwartet in Vercelli auftaucht, und Bewegung und Feste und Leben in die Stadt bringt. Was für ein Mann!«

Malwina fing an, sich zu langweilen, und so wurde an die Abreise gedacht. Herr Arnaldi fragte seine Tochter, ob sie einen anderen Landaufenthalt nehmen wolle; sie zog aber vor, nach Hause zurückzukehren. Dortselbst fand sie ihre gewohnten Beschäftigungen und war wieder die Malwina von früher, nur nicht mehr so gesprächig; es kam sogar vor, daß an manchen Tagen Vater und Tochter sich zu Tische setzten und wieder aufstanden, ohne auch nur ein Wort gesprochen zu haben.


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