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Dreiundzwanzigstes Kapitel..
Die Rehabilitation

Ein Jahr war seit dem plötzlichen Tode des Herrn Arnaldi verflossen.

Das Schloß war die ganze Zeit über vereinsamt gewesen. Während des ganzen Trauerjahres hatte sich Malwina nicht in Saluggia blicken lassen.

Nach dem Tode des Vaters war sie mit der Tante nach der Favorita abgereist, und man hatte nichts mehr von ihr gehört. Doktor Salvadeo schien um zehn Jahre gealtert. Bleich, mit einer tiefen Falte, die seine Stirn durchfurchte, seine dunklen Haare mit einigen Silberfäden durchzogen, sah er aus wie ein Mann von fünfunddreißig Jahren. Nach den vorhergegangenen Ereignissen, die seinem Herzen so unendlich schmerzlich gewesen waren, hatte er sich ganz seinem Berufe und den Studien in die Arme geworfen, in einer Weise, daß ihn der Morgen oft noch bei den Büchern überraschte. Mehr als einmal hatte ihn seine Mutter, wenn sie in die Kirche ging, in seinem Arbeitszimmer über einem offenen Buche eingeschlafen gefunden, mit der noch brennenden Lampe an seiner Seite.

Er studierte, um sein Herzeleid zu betäuben; er studierte, um die armen Mütter trösten zu können, die zu ihm eilten, seine Hilfe für die erkrankten Kinder anzurufen; er studierte, um seinen Mitmenschen zu helfen, um sein eigenes edles Herz zu befriedigen.

Alfonso studierte nicht des Ruhmes wegen, und der Ruhm war es, der ihn in seinem bescheidenen Dorfe selbst aufsuchte.

Doktor Bizzi, der ihn lieb gewonnen hatte, und der sich alt und müde fühlte, beabsichtigte, sein anstrengendes Amt niederzulegen. In dem Wunsche, seinem Schützlinge zu dienen, empfahl er allen Familien, deren Hausarzt er war, als seinen Nachfolger den Doktor Salvadeo; und jenen, welche den Umstand hervorhoben, daß derselbe nicht in Bercelli wohne, versprach er sein eigenes Erscheinen, im Falle der junge Doktor abwesend sein sollte, wenn man desselben bedurfte.

Alfonsos feines Wesen, sein mitleidsvolles Herz und sein gründliches Wissen eroberten ihm die Sympathien aller, mit denen er in Berührung kam, und sein Name wurde bald in der ganzen Stadt bekannt. Er war sehr gesucht, so daß er sich oft gezwungen sah, in der Stadt zu übernachten, anstatt zu seiner Mutter heimzukehren.

Eines Abends, als er nach Hause zurückfuhr, hörte er, daß das Schloß wieder bewohnt sei. Die junge Herrin desselben war mit den Verwandten gekommen, um den Jahrestag von ihres Vaters Tod dort zu verleben. Als der Doktor diese Nachricht vernommen hatte, fühlte er, daß die Bemühungen eines ganzen Jahres, Malwina zu vergessen, vergeblich gewesen waren. Sein Herz klopfte eben so heftig, wie ehedem, beim Gedanken an dieselbe. Er sah sie immer und immer wieder, so unvergleichlich schön und rührend in jener Laube, wo er sie voriges Jahr in ihrem Schmerz überrascht hatte; er hörte noch ihr Klagen, das unterdrückte Weinen in der Stimme! Die Worte, die er sie an jenem Tage aussprechen hörte, wie oft hatte er sie sich im Geiste wiederholt! … Sollte er es wirklich gewesen sein, von dem sie damals sprach? … War dieser Alfonso, den sie nannte, wirklich er selbst? … Er vermochte es kaum zu glauben!

Zwei Nächte hatte er schon schlaflos verbracht. Der Gedanke, daß Malwina wieder in seiner Nähe weile, daß er sie sehen und sprechen würde; der Gedanke, daß er ihr noch teuer sein könnte, daß sein Bild noch in ihrem Herzen wohne, brachte ihn außer sich vor Freude und Qual.

O! wenn es möglich wäre, daß sie ihn nicht vergessen hatte! Wenn er sicher sein könnte, daß sie ihn noch liebe! Und doch, nein; er wollte nicht von ihr geliebt sein, er wollte keine stolze Frau zum Weibe! Nein, nein; als Gefährtin für das Leben wollte er eine Frau mit einem hingebenden, zärtlichen und mitleidsvollen Herzen. Er konnte in der Frau Stolz und Hochmut nicht ertragen.

Nein! Malwina konnte niemals die Seine werden, niemals! Übrigens würde sie sich keinesfalls herablassen, einen armen Arzt, wie er es war, zu heiraten … Nein, es war nicht daran zu denken; dies Mädchen war nicht für ihn; er mußte ihm fern bleiben!

Um keiner dritten schlaflosen Nacht entgegenzugehen, wollte sich Alfonso recht ermüden. Er verließ Vercelli mit dem gewohnten Abendzuge, und anstatt direkt nach Hause zu fahren, stieg er an der vorletzten Station aus, um den übrigen Weg bis zu seinem Dorfe zu Fuß zurückzulegen. Da es oft vorkam, daß er irgend eines Schwerkranken halber in der Stadt bleiben mußte, konnte sich seine Mutter auch nicht beunruhigen, wenn sie ihn nicht zur rechten Zeit eintreffen sah.

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Er ging ruhig seines Weges, ohne sich zu beeilen, das Schloß betrachtend, das sich vor seinen Blicken, stolz auf dem Hügel emporragend, dunkel vom Himmel abhob. Es war vollkommen Nacht, als er vor dem Dorfe ankam. Ganz in seine Gedanken vertieft, bemerkte der Doktor gar nicht, wie ein Mann ihm eilig entgegenkam, bis derselbe ausrief: »Gott sei gelobt! Endlich habe ich Sie gefunden! Bitte, kommen Sie schnell … meine Frau ist sehr krank; ich hatte schon meinen Sohn nach Ihnen ausgeschickt und jetzt wollte ich eben den anderen Arzt holen.«

Schleunigst bogen beide in einen Fußweg zwischen Feldern ein, der zu einer Hütte führte. Sie traten in den einzigen Raum ein, der als Wohn- und Schlafzimmer und Küche zugleich diente.

Alfonso glaubte zu träumen, als er über dem armseligen Lager der Kranken gebeugt eine schöne Mädchengestalt sah, deren klares, liebreizendes Antlitz sich wunderbar von den schwarzen Gewändern abhob.

Malwina (denn sie war es) blickte ihn an, und einen Moment verharrten beide in gegenseitigem stummen und regungslosen Anschauen.

Der erste, der das Schweigen brach, war der Doktor.

»Sie hier, Fräulein? Hier, zu dieser Stunde?«

»Nicht wahr, Herr Doktor, welche Barmherzigkeit!« rief der arme Mann aus. »Wir sind wirklich beschämt und gerührt, daß das Fräulein sich in solcher Weise um uns arme Leute annimmt!«

Es dauerte eine geraume Weile, ehe sich der Doktor von seiner Überraschung zu erholen vermochte; als er sich endlich bewußt wurde, zu welchem Zwecke er eigentlich gekommen sei, näherte er sich der Kranken, und während er dieselbe untersuchte, fuhr der Mann fort zu berichten: »Das Fräulein begegnete meinem Sohne, als er nach dem Pfarrhofe eilte; wie sie ihn so bitterlich weinend laufen sah, fragte sie nach der Ursache seiner Bestürzung. Als sie erfahren hatte, daß er den Pfarrer holen müsse, weil seine Mutter sehr krank sei, schickte sie ihre Begleiterin nach Hause zurück und ließ sich von dem Knaben hierher führen, wo sie nun schon mehrere Stunden weilt, um meiner armen Teresa die Umschläge zu machen, die ihr so gut gethan haben. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte niemand von uns vermocht, die Schmerzen meiner Frau zu stillen.«

Der Doktor war bis ins Innerste bewegt. Er verglich diese Scene mit einer anderen aus früheren Zeiten, wo auch ein armer Knabe mit einem reichen Mädchen zusammengetroffen war.

Jenes kleine Mädchen hatte sich indes in einen Engel von einem Weib verwandelt.

Er blickte auf die weißen, schlanken Finger, wie sie die groben Tücher mit der sorglichen Liebe einer Barmherzigen Schwester auf die Brust der Leidenden legten, und er fühlte sein Herz von Zärtlichkeit überfließen.

Die arme Frau hatte sich unterdessen etwas erholt. Auf die heftigen Schmerzen war eine große Erschöpfung gefolgt, und endlich senkte sich ein wohlthätiger Schlaf auf ihre müden Lider. Der Doktor verschrieb eine Medizin, die der Kranken gegeben werden sollte, wenn sie wieder von den Schmerzen befallen würde; dann wandte er sich zu Malwina mit den Worten: »Fräulein, Sie werden es mir erlauben, Sie nach Hause zu begleiten?«

»Ich danke Ihnen; ich will mich noch etwas länger aufhalten,« antwortete sie mit kaum vernehmbarer Stimme.

»Entschuldigen Sie, es ist schon spät, und die Kranke braucht für jetzt Ihrer Hilfe nicht weiter.«

Malwina wußte nichts zu entgegnen, und nachdem sie noch das Lager der Kranken behaglich zurecht gerichtet hatte, entfernte sie sich mit dem Versprechen, den nächsten Tag wieder zu kommen. Der Doktor reichte ihr den Arm und sie lenkten ihre Schritte dem Schlosse zu.

Im Dorfe herrschte völlige Stille, da sich alle Leute, müde von der Arbeit, zur Ruhe begeben hatten, um beim nächsten Morgengrauen wieder frisch ans Tagewerk gehen zu können.

Die zwei jungen Leute gingen schweigend dahin, während ein Aufruhr von Gefühlen ihr Herz durchbebte. Alfonso wollte sprechen, aber er war unfähig, auch nur einen Laut hervorzubringen. O, hätte sie nur ein Wort gesagt! ein einziges Wort! … Aber sie schwieg; mit dem Arm leicht auf den des Doktors gestützt, schritt sie mit gesenktem Haupte dahin, gleichsam als fürchte sie, daß derselbe in ihren Augen die Empfindungen ihrer Seele lesen könnte. Sie waren bereits ein gutes Stück Weg gegangen, und noch hatte keines eine Silbe gesprochen. Dieses Schweigen war so süß, so beredt! Der Doktor hätte es fortsetzen und doch zu gleicher Zeit ihr sagen mögen, wie er sie liebe, wie sie der Gegenstand all seiner Gedanken während der zwei verflossenen Jahre gewesen sei – mit Einem Wort, er hätte ihr alles offenbaren wollen, und öffnete auch thatsächlich die Lippen. Aber verwirrt, beschämt schloß er dieselben wieder. Dann versuchte er, ein gleichgültiges Gespräch einzuleiten, hoffend, daß ihm der Mut käme, weiter anzuknüpfen; die Worte jedoch, selbst die unbedeutendsten, kämm nur stotternd und unverständlich aus seinem Munde; seine Stimme zitterte; er fühlte sich unfähig zu sprechen und biß sich in die Lippen vor Erregung.

Auch Malwina gelang es nicht, etwas anderes als verschleierte Töne hervorzubringen, und somit schwieg auch sie.

Aber wie sprachen beider Herzen! … Wie kurz schien ihnen dieser Weg, so miteinander vereint! Wie vergaßen sie alles, was sie umgab, um nur an das augenblickliche Glück zu denken!

Im Schlosse lag schon alles im Schlaf; nur der treue, alte Michele erwartete seine junge Herrin. Nachdem sie in das Haus getreten war, bemerkte sie, daß der Doktor sie ansah, ohne sich zum Fortgehen anzuschicken.

Mit zitternder Stimme sagte sie: »Herr Doktor, ich habe Ihnen etwas zu sagen; bitte, treten Sie ein.«

Er hatte diese Aufforderung erwartet; sie traten in den Salon, und der Doktor setzte sich Malwina gegenüber. Tiefe Stille herrschte ringsum; man hörte nur die Rufe der Nachtvögel, die in den Türmen des Schlosses hausten.

Die beiden jungen Leute sahen sich einen Moment stumm in die Augen; endlich versuchte sie zu sprechen; aber aus ihrer Kehle drang nur ein unverständlicher Laut, der in ein Schluchzen endete. Verwirrt, vielleicht bedauernd, was sie gethan hatte, verbarg sie ihr Gesicht in den Händen und brach in lautet Weinen aus.

Bleich und bestürzt erhob sich Alfonso von seinem Sitze. Er, der diese Lösung nicht erwartet hatte, fühlte sich verloren, besiegt durch die Thränen, die aus diesen Augen stürzten, die er nur heiter hätte sehen mögen; er vermochte sich nicht mehr zurückzuhalten und warf sich auf die Kniee vor dem Mädchen, das, einst so stolz, jetzt demutsvoll sein Haupt neigte vor dem armen, jungen Manne, dem es als Kind ein Almosen gereicht hatte; er nahm die von Thränen feuchte Hand an die Lippen und drückte einen Kuß darauf, indem er ausrief: »Malwina, du hast meinetwillen gelitten! Vergieb mir! Hier liege ich zu deinen Füßen, ganz dein! …«

Malwina hieß ihn aufstehen und sich an ihre Seite setzen, während sie unter Schluchzen sagte: »Warum fliehen Sie mich? Sie haben mich doch bisher absichtlich gemieden, nicht wahr?«

»Ja, Malwina, ich mied Sie und hätte Sie immer gemieden, wenn ich Sie nicht so demütig, so selbstvergessen am Bette jener armen Frau gesehen hätte. Ich liebte Sie, ich habe Sie immer geliebt! Seit dem Tage, an welchem ich Sie zum erstenmal gesehen, leidend und schön, denke ich nur an Sie! Es ist jetzt gerade ein Jahr, daß ich glaubte, über den Kampf meinen Verstand einbüßen zu müssen. Ich war oft nahe daran, Ihnen mein Herz zu entdecken … aber ich hielt mich zurück.

Seitdem habe ich gelitten, o, wie gelitten! Wie oft wollte ich Ihr Bild aus meinem Herzen verbannen! Wie oft schloß ich die Augen, um Sie nicht immer vor mir zu sehen; und je mehr ich sie schloß, um so lebendiger sah ich Sie; je mehr ich Sie zu vergessen trachtete, desto inniger lebte Ihr Bild in meinem Herzen auf. Zeugnis dafür können Ihnen meine ergrauten Haare ablegen, die Furchen, die sich in meine Stirn gegraben; – und wenn ich mir einen geachteten Namen gemacht habe, verdanke ich denselben Ihnen. Um Sie zu vergessen, vertiefte ich mich in das Studium, in die Arbeit … aber umsonst! Sie blieben mir gegenwärtig, immer und überall!«

»Und warum wollten Sie mich vergessen? Warum?«

»Es ist das eine traurige Geschichte, Malwina. Vielleicht werden Sie mich nicht mehr im selben Lichte betrachten, wie jetzt, wenn Sie dieselbe vernommen haben; und doch muß ich sie Ihnen erzählen. Hören Sie!«

Und nun beschrieb er ihr die Scene, die vor siebzehn Jahren vorgefallen war.

»Und Sie hassen mich deshalb bis zu diesem Punkte? Sie haßten mich stets um jener Handlungsweise willen?«

»Ich suchte, Sie zu vergessen; indes liebte ich Sie, liebte Sie immer … Ich hätte jedoch niemals ein hochmütiges, stolzes Mädchen, ohne Herz, zu meinem Weibe erwählt. Verzeihen Sie, wenn ich Sie bis zu dieser Stunde als solches betrachtet habe! Jetzt hingegen sind Sie für mich nur das beste, das barmherzigste und heiligste Geschöpf! Malwina, genügt Ihnen ein armer Mann, der nichts anderes auf der Welt besitzt als ein großes Herz, um Sie zu lieben?«

Malwina reichte ihm die Hand, und auf das Bild ihres Vaters zeigend, das an der gegenüberliegenden Wand hing, antwortete sie: »Mein geliebter Vater hat so viel hinterlassen, daß es für uns beide reicht. Morgen, als dem Jahrestage seines Todes, wollen wir miteinander für ihn beten und seinen Segen für uns erflehen!«

Mit diesen Worten trennten sie sich. Alfonso, dem sich nunmehr das Leben in ein Paradies verwandelt hatte, eilte nach Hause, lachend und weinend zu gleicher Zeit, und Malwina, in ihr Zimmer zurückgekehrt, kniete vor dem Kruzifix nieder, und es inbrünstig küssend, brachte sie dem Gekreuzigten ihren heißesten Dank dar. Dann wandte sie sich zu dem Miniaturbild ihrer Mutter, und mit Thränen des Glückes in den Augen vertraute sie demselben ihre Wonne an, als spräche sie in der Wirklichkeit mit ihr. Sie legte sich nieder und schlief ein, unter innigen Dankesgefühlen gegen Gott.

Am Tage nach der Gedächtnisfeier betrat die Marquise Isabella, von ihrem Sohne begleitet, nach so vielen Jahren von neuem die Schwelle ihres väterlichen Schlosses. Malwina und deren Tante eilten ihr entgegen und empfingen sie mit all der Hochachtung, die in ihren Augen der ehemaligen Schloßherrin gebührte. Malwina nahm ehrerbietig ihre Hand, um sie zu küssen; aber Isabella öffnete ihre Arme und sagte: »Wenn du es nicht verschmähst, meine geliebte Tochter zu werden, soll ich mich dann wohl weigern, dich an mein Herz zu drücken?«

Malwina überließ sich glückselig der mütterlichen Umarmung, während Alfonso sein Antlitz abwandte, um die Thränen zu verbergen, die in seinen Augen standen.

Am Abend desselben Tages schrieb Malwina an Donna ldefonsa, daß sie die glückliche Braut des vorzüglichsten aller Männer geworden sei; den ersten Besuch nach ihrer Verheiratung würden sie ihr, der geliebten Erzieherin, abstatten. Alfonso sehne sich vor allem, die zweite Mutter seiner Frau kennen zu lernen. Sie dankte ihr nochmals aus ganzer Seele für alles, was sie an ihr gethan, für die erhaltenen Ermahnungen wie für die empfangenen Strafen; denn ihnen verdanke sie ihr jetziges Glück.


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