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Achtes Kapitel.
Düstere Ahnungen

Der Frühling war gekommen, ein milder, schöner Frühling, wie man ihn seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Malwina lag ausgestreckt auf dem Divan ihres Salons und wartete auf das Zeichen zur Mahlzeit. Sie fühlte sich sehr angegriffen. Den vorigen Abend hatte sie an einem Konzert teilgenommen, bei dem sie selbst gesungen und Klavier gespielt hatte, wie auch Conti. Die Furcht, sie möchte vielleicht den Beifall des jungen Mannes nicht erringen, die Anspannung ihrer Nerven, alles hatte sie so ermüdet, daß sie sich jetzt noch ganz erschöpft fühlte. Während sie ihren Gedanken nachhing, wurden ihr zwei Briefe gebracht, deren einer schwarz berändert war. Sie nahm sie gleichgültig entgegen und las die Überschriften. Eine war von Donna Ildefonsas Hand, der andere schien ihr unbekannt. Sie öffnete diesen letzteren Brief; es war die Todesanzeige von Frau Boschis, der Mutter ihrer Freundin.

Wie? Lina eine Waise! Mit achtzehn Jahren! Arme Lina! Wie tief war sie zu beklagen! Wie gern hätte sie sie in ihrem Schmerz getröstet! Aber … wie konnte sie ihr Hilfe bringen? … In keiner Weise. Es hätte sich allerdings ein Mittel geboten: die Freundin nach Vercelli einzuladen, damit sie wenigstens die erste Zeit ihrer Trauer bei ihr verleben könne.

Aber, … es gab so viele »aber« …

Die Freundin zog unter solchen Verhältnissen jedenfalls vor, allein zu bleiben. In den größten Seelenschmerzen ist man dem Troste oft nicht zugänglich; man scheut jede Berührung der Wunde. Und was sollte sie ihr sagen? Wie vermöchte sie das Unglück weniger schmerzlich darzustellen, das doch in Wahrheit so groß war? Sie sah ein, daß sie dazu nicht fähig wäre. Und dann hatte Lina sicher viel zu thun, um ihre Angelegenheiten zu ordnen; sie mußte an so vieles denken und würde nicht kommen können. Den nächsten Sommer wollte sie die Freundin einladen, und dann hätten sie beide viel mehr Genuß von dem Zusammensein. Es wäre gewiß auch für ihren Vater und für sie selbst eben keine besondere Freude, immer und immer weinen zu sehen! Was ihren Vater betraf, der seit einiger Zeit ziemlich traurig schien, war es nichts weniger als rätlich, jemand im Hause zu haben, der ihn noch trüber stimmen würde. Nein, nein, das durfte nicht versucht werden! Und sie selbst wäre gezwungen, allen Vergnügungen zu entsagen, um ihrer Freundin Gesellschaft zu leisten … Das fehlte noch! … Mit ihren siebzehn Jahren hatte sie schließlich doch alles Recht, sich zu unterhalten. So lange es möglich war, wollte sie das Leben genießen. Auch für sie würden einst trübe Zeiten kommen. Sie müßte sie hinnehmen, wenn sie an sie heranträten; freiwillig wollte sie denselben nicht entgegen gehen.

Sie nahm sich vor, am Nachmittag an Lina einen zärtlichen Brief zu schreiben, und mit diesem Entschlusse schmiegte sie sich behaglich in ihr Lieblingseckchen.

Was war in dem sonst so zartfühlenden, so teilnehmenden Herzen Malwinas vorgegangen?

Es blieb jedoch noch ein anderer Brief zu lesen übrig. Malwina nahm ihn auf, indem sie ihn hin und her wandte; sie konnte sich nicht entschließen, ihn zu öffnen. Sie ahnte schon, was die frühere Erzieherin ihr schreiben könnte. Sie würde ihr Vorwürfe machen, weil sie ihr seit zwei Monaten keine Nachricht mehr gegeben hatte; aber es fehlte ihr wirklich an Zeit dazu. Des Morgens stand sie spät auf, nachmittags mußte sie spazieren gehen und Besuche machen oder empfangen, und des abends war stets irgend eine Gesellschaft. Und dann, diese gute Klosterfrau machte wahrlich zu große Ansprüche; sie wußte nichts davon, was die Welt von einer jungen Dame verlangte.

Sie wurde eben zum zweiten Frühstück gerufen, und behielt sich das Lesen des Briefes für den Abend vor. Unglücklicherweise kamen die Tante und Cousinen und nahmen sie mit fort, und somit wurde nicht einmal der Brief an Lina geschrieben. Sie kam spät nach Hause, war müde und schläfrig, und dachte nicht mehr an den bewußten Brief. Den folgenden Tag hatte sie keinen Augenblick für sich. Die junge Gräfin Palmieri, von ihrer Hochzeitsreise zurückgekehrt, lud die ganze schöne Welt nach Villafiorita, einem herrlichen Landsitze in der Nähe der Stadt gelegen, zu sich ein.

An jenem Morgen brauchte Malwina nicht erst geweckt zu werden. Seit dem Aufenthalte in den Bergen hatte sie das Glück nicht wieder genossen, einen ganzen Tag mit Conti zusammen zu verleben. Welche Wonne versprach sich Malwina von diesem Tage! Die Gäste waren gebeten, sich um elf Uhr zum Gabelfrühstück einzufinden, und demselben sollte eine Jagdpartie folgen, an welcher auch die Damen teilnehmen würden, zu Pferd, zu Wagen oder zu Fuß, wie es ihnen beliebte. Als Vereinigungspunkt aller Teilnehmer war Isolabella, ein malerischer, schattiger Punkt mitten im Wald gewählt worden. Dort sollten Erfrischungen eingenommen werden, und nach völliger Erholung die Rückkehr nach Villafiorita erfolgen, woselbst nach dem Diner eine großartige Beleuchtung und ein festlicher Ball geplant waren.

Malwina war außer sich vor Freude. Eine Jagd! Auch sie sollte ihren Kavalier haben, Conti, der sie zu Pferd begleiten würde. Im Wald, im Schatten der Bäume, an seiner Seite, wie glücklich würde sie sich fühlen! Und am Abend im beleuchteten Garten, wie herrlich mußte es werden!

Als die Familie Varelli kam, um sie abzuholen, stiegen sie alle in den Wagen und hatten bald Villafiorita erreicht. Malwina suchte sofort mit dem Blicke Conti, konnte ihn aber nicht entdecken. Vielleicht war er im Garten. Sie schaute von der Terrasse aus hinunter. In den Alleen und auf den Kieswegen leuchteten die hellen Kleider der Damen zwischen den Bäumen hervor, aber er war nicht unter ihnen. Sie näherte sich der Gruppe, welche die junge Hausfrau umgab. Eine Dame meinte scherzend bei ihrem Erscheinen: »Jetzt ist die Reihe an Ihnen, Fräulein Arnaldi, dem Beispiele der Gräfin zu folgen!«

»Ich weiß von keinem anderen Amerikaner.«

»Es giebt auch Italiener. Sie haben nur zu wählen. Sind Sie nicht zufrieden damit?«

»Nun … vielleicht …«

»Ah!« fiel eine andere Dame ein, »ich glaube, daß es nicht lange dauern wird, bis wir die bewußte Einladung von Fräulein Arnaldi erhalten werden.«

»Ein sicheres Zeichen, daß »er« bereits gefunden ist. Wollen Sie ihn uns nicht nennen?«

Das Gespräch begann etwas peinlich zu werden. Glücklicherweise kamen neue Gäste an, die dasselbe unterbrachen.

Es schlug elf Uhr und kein Conti erschien. Man nahm die Mahlzeit ein, machte sich auf den Weg zur Jagd, und Malwina wartete immer noch. Der Tag war herrlich; nicht eine Wolke trübte den Himmel. Alle waren heiter und fröhlich; nur Malwina konnte sich nicht freuen; ihr fehlte Conti. Sollten sie vergessen haben, ihm die Einladung zukommen zu lassen? Aber Conti war nicht der Mann, der sich streng an eine schriftliche Einladung halten würde; er stand mit allen auf so gutem Fuße, und vor allem mit Palmieris! Er war die rechte Hand des Grafen, der seine großen Eigenschaften nicht genug loben konnte.

Als Malwina sah, wie die Stunden entschwanden, versuchte sie sich zu trösten, indem sie zu sich sagte: »Er wird spät angekommen sein und uns in Villafiorita erwarten. Er ist gewiß dort! Es ist so seine Gewohnheit, unerwartet zu erscheinen.«

Sie wäre am liebsten gleich zurückgekehrt, um sich dessen zu vergewissern; allein die Gesellschaft befand sich so wohl in Isolabella, auf dem weichen Moose lagernd, und die Konversation war so animiert, daß noch niemand an den Heimweg dachte. Malwina schienen diese Stunden eine Ewigkeit. Sie stand auf, ging umher, setzte sich wieder und blieb der allgemeinen Unterhaltung völlig geistesabwesend gegenüber. Alles an ihr war in Erregung.

Als sich endlich die Gäste zur Rückkehr anschickten, wäre sie lieber nach Villafiorita geflogen; aber man ging langsamen Schrittes dahin. Malwina, am Arme Olgas schreitend, hörte teilnahmslos dem Gespräche zu, das letztere mit der Schwester der Neuvermählten pflog, die von der Hochzeitsreise erzählte. Das junge Paar war auf dem Rückweg in Turin mit Conti zusammengetroffen, der von Genua kam, wo er sich ein Kunstwerk angesehen hatte.

»Da fällt mir eben ein,« fragte Olga, »ist Conti heute nicht gekommen?«

»Nein, er hat sich noch nicht sehen lassen.«

»Habet ihr ihn eingeladen?«

»Das will ich meinen! Ich selbst habe die Adresse geschrieben.«

»Es kann leicht sein, daß er noch kömmt.«

Als Malwina, die mit Spannung gelauscht hatte, seinen Namen nennen hörte, erheiterten sich ihre Züge und sie sah mit Vergnügen, daß sie sich der Allee näherten, die nach Villafiorita führte. Sie erwartete sicher, ihn am Eingangsthore oder im Salon zu sehen. Am Thore war er nicht. Sie wollte die erste im Salon sein und eilte voraus. Sie trat leise auf den Fußspitzen ein, nach rechts und links schauend. Niemand war zu sehen. Malwina fühlte ihr Herz sich schmerzhaft zusammenziehen. Beim Diner machte sie die größten Anstrengungen, einige Bissen zu genießen. Sie lauschte auf jedes von außen kommende Geräusch; sie hoffte immer noch. Beim Feuerwerk und selbst während des Balles hielt sie noch an einem Schimmer von Hoffnung fest.

Als aber die Gäste anfingen sich zu verabschieden, ließ auch sie ihren Wagen vorfahren und drückte sich trostlos in die Ecke. Es war das erste Mal, daß Conti fern geblieben war. Etwas Wichtiges mußte ihn zurückgehalten haben.

Am Abend des folgenden Tages ging sie ins Theater; ihre Augen hafteten nicht an der Vorstellung, sondern an dem Platze, auf dem sich Conti gewöhnlich einfand. Er kam nicht. Sie fing an, sich zu beunruhigen.

Auf diese Weise verstrich eine Woche, eine Ewigkeit für Malwina, die ihr um so länger schien, da sie nicht einmal den Trost hatte, von Conti sprechen zu hören, weil sie sich nicht getraute, jemand nach ihm zu fragen.

Eines Tages sah Mario auf dem Flügel ein neues Musikstück liegen. Er öffnete es und rief aus: »O! das ist ja das Stück, das Conti am letzten Konzertabend gesungen hat! Gehört es dir, Malwina?«

»Ja.«

»Willst du es mir leihen? Ich möchte es einstudieren.«

»Nimm es nur.«

Die Tante, die am Kamin stand und eine Rose entblätterte, fragte: »Wer kann mir Nachrichten von Conti geben? Schon seit längerer Zeit läßt er sich nimmer sehen.«

»Wer kann Genaues über dieses Original wissen? Heute ist er da, morgen dort.«

»Daß er in Villafiorita gefehlt hat, war schade!«

»Wer weiß, wie lange er jetzt wieder ausbleiben wird!«

»Er ist so sonderbar.«

Niemand wußte also etwas von ihm, nicht einmal Mario, der im Verkehr mit seinen Freunden am ehesten etwas über ihn hätte erfahren können. Sollte sie ihn am Ende beleidigt haben? Und Malwina dachte an ihr letztes Zusammentreffen und überging in Gedanken ihre damalige Unterredung, vermochte aber nichts zu finden, das ihm hätte mißfällig sein können. Immer noch hoffte sie, und um keine Gelegenheit zu versäumen, ihn zu sehen, fehlte sie bei keiner Unterhaltung; sie kehrte jedoch von allen nur um so trostloser zurück.

Eines Tages fand sie auf ihrem Tischchen einen Brief von Donna Ildefonsa. Malwina erbleichte; sie erinnerte sich desjenigen, den sie vor vierzehn Tagen erhalten hatte, ohne ihn zu beantworten. Und nicht nur diesen hatte sie nicht erwidert, sondern ebensowenig jenen so viel wichtigeren, den Brief ihrer Freundin, die ihr den Tod der Mutter angezeigt hatte. Malwina bekannte sich schuldig. Andere Gedanken hatten ihr ganzes Sein in Anspruch genommen: das Verschwinden Contis und die Besuche und Ausflüge in die Umgegend. All das bot jedoch keine Entschuldigung. Sie hatte gefehlt, und sie war sich dessen bewußt.

Sie mußte sich endlich entschließen, den Brief zu öffnen; einmal schon hatte sie dies versäumt; jetzt durfte sie nicht länger zögern. Sie würde gleich heute noch schreiben, ohne weiteren Aufschub.

Sie öffnete und las: »Malwina! Hast Du Dich denn so gänzlich verändert, daß Du diejenige vergessen kannst, die Dir eine zweite Mutter war; diejenige, die Dich mehr als sich selbst liebte, die Dich noch liebt, trotz Deines Undankes? O, wenn Du den Schmerz ahntest, der mein Herz erfüllt, Du würdest mich nicht länger leiden lassen. Es schmerzt mich, Malwina, nicht, daß Du mich vergessen hast, sondern weil ich fürchte, daß Du den heilsamen Grundsätzen untreu geworden bist, die in Dein Herz zu pflanzen meine stete Sorge war; ich fürchte allein nur für Dich. Mich kannst Du vergessen! Aber, – der Himmel verhüte es! Sage mir nicht, daß Du Dich von Gott abgewendet hast, daß Du nicht mehr betest! Das wäre meinem Herzen der schwerste Schlag! Malwina, sag' mir, daß Du immer noch das alte gute Kind bist, fromm und gottesfürchtig; daß Du Dich für das Wohl Deines Vaters, wie auch Deiner Untergebenen sorgst; daß Du den jungen Mädchen Deiner Vaterstadt als Muster und Vorbild voranleuchtest. O, bestätige mir das, und ich bin befriedigt. Ich habe dann meinen Zweck erreicht und kann ruhig sterben. Indes ahnt mir leider, daß dem nicht so ist! Deine Handlungsweise läßt nur allzu sicher darauf schließen. Wenn Du mir wenigstens ab und zu ein Wort geschrieben hättest, wie früher; ich hätte mich nicht einmal beklagt, wenn dann und wann einer meiner Briefe unbeantwortet geblieben wäre, wie mein letzter. Daß Du jedoch eine heilige Liebespflicht versäumen würdest, hätte ich von Dir nicht erwartet! Eine Pflicht, deren Erfüllung so wenig Mühe gekostet hätte! Ein halbes Stündchen, eine Viertelstunde hätte genügt, an Lina zu schreiben, und dennoch hast Du es nicht gethan! Das läßt mich sehr befürchten, daß du auch Pflichten von höherer Wichtigkeit vernachlässigst! Malwina, Malwina! bei der Liebe zu Deiner Mutter, um Deiner selbst willen beschwöre ich Dich, gehe nicht weiter! Halte ein! Malwina, was ist mit Dir geschehen? Wer konnte in diesen wenigen Monaten aus Deinem Herzen die Eindrücke verwischen, welche die unablässige Arbeit von vielen Jahren hinein verpflanzte? Sind es die Zerstreuungen, die sich Deiner in einer Weise bemächtigt haben, daß Du alles andere zu vergessen vermagst? Um des Himmels willen, Malwina, weiche nicht von Deinem Platze als Christin! Reiß aus Deinem Herzen das Übel, welches dasselbe im Banne hält! Die Wunde wird bluten, aber das darf Dich nicht hindern. Du mußt frei sein, wie Dich Gott erschaffen hat, während Du jetzt eine Sklavin dessen bist, von dem Du Dich beherrscht fühlst. Malwina, kehre zurück! Schreibe mir, daß Du unverändert bist, und ich werde Dich noch inniger lieben wie bisher. Sieh', ich fühle, daß Dich diese Worte bewegen, daß Du bereust, Dich einen Augenblick den vergänglichen Freuden der Welt hingegeben zu haben. Ich, die ich die Reue Deines Herzens ahne, bin bereit, Dich ans Herz zu drücken und Dir zu verzeihen!

Gott segne Dich, wie Dich segnet

Deine Mutter
Donna Ildefonsa.

P. S. Höre, wie die Vorsehung über ihre Kinder wacht! Lina Boschis verlor ihre Mutter, und Gott sendet ihr zum Troste einen tugendhaften, braven Mann, der ihrer würdig ist. Sie wird Dir selbst Näheres darüber schreiben. Aber Du säume nicht länger, Deine Pflicht zu thun; Du hast schon zu lange gezögert.«

 

Während Malwina den Brief Donna Ildefonsas las, waren ihren Augen heiße Thränen entstürzt. Wie wahr hatte die gute Mutter gesprochen! Es schien, als habe sie wirklich in ihrem Herzen gelesen! Wie viele Pflichten hatte sie vernachlässigt! Aber wie sollte sie ihr Versäumnis wieder gutmachen? Sie fühlte sich nicht mutig genug, die Mittel anzuwenden, welche die fromme Nonne ihr angegeben hatte.

Die arme Lina, wie wird sie verletzt gewesen sein, daß ihr keine Antwort auf die traurige Anzeige zukam! Sie wollte die Freundin sofort um Verzeihung bitten und ihr sagen, daß sie nicht einen Moment der Muße für sich selbst gehabt hätte.

Sie schrieb in der That zwei herzliche Briefe an Donna Ildefonsa und an ihre Freundin. Von letzterer kam nach wenigen Tagen eine Antwort, in welcher Lina Boschis ihr von der traurigen Krankheit ihrer Mutter erzählte. Im Verlaufe derselben hatte sie, ganz von ihrem bitteren Leid und der Pflege der Teuren in Anspruch genommen, keine Zeit gefunden, ihr darüber zu schreiben, und nun gab sie der Dankbarkeit Ausdruck, daß Malwina sich der Institutsfreundin erinnert habe. Sie erwähnte, wie schwer es ihrer Mutter auf dem Herzen gelegen war, ihre Tochter so allein zurücklassen zu müssen, ohne nähere Verwandte und Freunde. Das einzige Wesen, das ihr blieb, war eine Cousine zweiten Grades, ein altes Fräulein, das in Mailand wohnte, und dieser hatte die Mutter sie empfohlen. Dieselbe war gekommen, sie zu holen, und nun lebte sie mit ihr in Mailand ein sehr zurückgezogenes Leben, zwischen Arbeit und Gebet geteilt. Aber ihr Schmerz um die verlorene Mutter, wenn auch gemildert, füllte noch ihr ganzes Herz aus. Doch durfte sie sich nicht beklagen; denn Gott hatte für sie gesorgt, mehr als sie verdiente! Ein edles, großmütiges Herz hatte Mitleid mit ihrem grenzenlosen Leid empfunden. Ein junger Mann, der sie in den furchtbarsten Momenten ihres Unglückes gesehen hatte, war von Teilnahme für sie ergriffen worden, und nachdem er Erkundigungen über sie eingezogen und die günstigsten Urteile über sie gehört, hatte er um ihre Hand geworben. Sobald die erste Trauer verflossen wäre, würde er sie als seine Gattin heimführen.

Malwina zog eben ihre Handschuhe an, um auszugehen, als die Varellis kamen, um sie zum Spaziergang abzuholen. Während die Tante und Lydia im Garten warteten, eilte Olga schleunigst die Treppe hinauf und in Malwinas Zimmer.

»Weißt du, Cousine,« rief sie aus, »wen wir eben begegnet haben? Niemand anders als Conti!«

»Wirklich?« erwiderte Malwina, indem sie eine Gleichgültigkeit heuchelte, die sie weit entfernt war zu fühlen, und um die plötzliche Röte in ihrem Gesichte zu verbergen, öffnete sie den Schrank und entschuldigte sich, das Taschentuch nicht zu finden.

»Ja, in der That! Wir fragten ihn, warum er sich seit einem Monat nicht mehr hatte sehen lassen. Er antwortete, daß er sich in die Arbeit gestürzt habe und sich nur selten von derselben trenne, um irgend einen kleinen Ausflug zu unternehmen. Mama lud ihn ein, mit uns zu kommen; er entschuldigte sich jedoch mit der Versicherung, daß er große Eile habe und nur in Geschäften gekommen sei. Er hatte in seinem Blick etwas so Unerklärliches, von seinem früheren Wesen so Verschiedenes; er schien mit seinen Gedanken anderswo zu sein und antwortete zerstreut. Eine fieberische Ungeduld ließ ihn augenscheinlich gegen seinen Willen bei uns verweilen. Kaum, daß wir ihn verlassen hatten, flog er schon wie der Wind dem Bahnhofe zu.«

»Sollte ihm etwas zugestoßen sein?«

»Wer weiß?«

»Wo kann nur dieses Taschentuch hingeraten sein!«

»Mama meint, daß seine Geschäfte schlecht stehen. Du mußt wissen, daß jeden Moment derartiges vorkommt; die angesehensten Bankhäuser machen Bankrott; könnte es nicht möglich sein, daß auch er? …«

»Malwina, Olga!« hörte man vom Garten herauf rufen; »kommt ihr?«

»Sofort,« antwortete Malwina vom Fenster aus. »Ich suche nur mein Taschentuch.«

»Nimm ein anderes,« sagte Olga.

»Nein, ich will dieses. Und dann?«

»Was meinst du?«

»O, das, was du mir erzählt hast. Du sprachst … «

»Ah, ja, von Conti. Nun, wir trafen gerade vor deinem Hause Frau Bera. Wir erzählten ihr von der Sache, und sie erwiderte, daß er jede Woche zu ihrem Gatten komme, der seine Geldangelegenheiten besorgt. Sie versuchte, ihrem Manne auf den Zahn zu fühlen; aber der Advokat ist keiner von denen, die ihren Frauen über ihre Geschäfte Rechenschaft geben; und wenn Conti erscheint, so schließen sie die Thür des Amtszimmers und sprechen mit leiser Stimme. Wer weiß, was sie sich zu sagen haben? Auch sie, wie Mama, vermutet, daß es mit seinen Verhältnissen nicht so gut steht, wie man denkt. Man weiß, daß er viel ausgiebt, und dann reist er beständig. Er ist auch nicht immer in Novara; selbst dort war er während zwei Wochen unsichtbar geworden, und gegenwärtig kommt er alle zwei bis drei Tage hierher. Mario hat dies von seinen Freunden erfahren, die Conti in Novara aufsuchten, aber dortselbst nicht trafen und den Portier befragten …«

»Malwina!« rief von neuem die Tante.

»Ich komme,« antwortete dieselbe. »Wie zerstreut! Ich suchte nach dem Taschentuch und hatte es die ganze Zeit in der Hand.«

Sie begaben sich hinunter. Während des Spazierganges war Malwina sehr einsilbig. Was war mit Conti vorgefallen? Wo ging er hin und was that er?

Es waren dies unlösbare Fragen.

Sollte er wirklich sein Vermögen eingebüßt haben? Conti verarmt? In welcher Weise konnte dies geschehen sein? Ah, vielleicht hatte er gespielt? Die Neuvermählten von Villafiorita hatten ihn in Genua getroffen; vielleicht kehrte auch er von Monte Carlo zurück … Wie schrecklich! …

Aber nein, das war nicht möglich. Er war zu rechtlich, um sich dem Spiel hinzugeben; und dann hatte er nie eine Leidenschaft dafür gezeigt. Die Leute reden oft, nur weil sie eine Zunge im Mund haben. Man durfte den Schwatzereien keinen Glauben schenken. Es würde sich schon zeigen? Aber warum ließ er sich nicht mehr sehen?


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