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Zwanzigstes Kapitel.
Im Kampfe

Der Zug sauste durch die schneebedeckten Felder pustend an den ländlichen Häusern vorüber, durch entlaubte Gehölze und Büsche eilend, dahinfliegend als ein schwarzer, lärmender Koloß, aus dessen Schlot dichter, dunkler Rauch quoll, der sich ungestüm in Spiralwindungen erhob, um sich sodann allmählich majestätisch und immer langsamer auszudehnen und sich endlich ganz aufzulösen am kalten Winterhimmel.

In der Ecke eines Wagens zweiter Klasse saß ein junger Mann, der, tief in Gedanken versunken, weder auf die Mitreisenden noch auf die Landschaft draußen achtete, eine weite Ebene, von den Alpen begrenzt, die, zu dieser Stunde von der untergehenden Sonne vergoldet, als Hintergrund einen feenhaften Anblick boten.

Der Doktor Salvadeo sah nichts von all der Pracht, weder den in den letzten Sonnenstrahlen glitzernden Schnee, noch den schönen Monviso, dem sie sich näherten. Wirklich nichts? O, ja! Er sah in seinem Geiste ein elegantes Gemach, in welchem ihm eine wunderschöne Mädchengestalt gegenüberstand. Sie war blaß, aber diese Blässe machte sie noch schöner, dieses hartnäckige Schweigen noch anziehender.

O, wie liebte er sie im Tiefsten seines Herzens! … Er hatte keinen Schmerzenslaut von ihren Lippen gehört während der wiederholten Operationen; sie mußte ein groß veranlagtes, mutiges Mädchen sein! Aber ach! dies Mädchen war nicht ihm beschieden! Warum hatte er mit diesem stolzen Geschöpfe zusammentreffen müssen? Gleich von Anfang an hätte er dasselbe meiden sollen; aber er hielt es nicht für notwendig, da bei dem ersten Besuche sein Blut bereits heiß aufgewallt war in Haß und in dem Verlangen nach Vergeltung. Er hatte auf einem Tische in ihrem Zimmer das Bild einer Dame gesehen, die er wiederzuerkennen glaubte: die Schloßdame von damals! Und eine traurige Scene stieg vor seinem Geiste auf: ein armer, weinender Knabe und eine Dame mit einem kleinen Mädchen an der Hand.

Die Handlungsweise jenes Kindes hatte er nie vergessen; sie blieb in seiner Seele mit Flammenzügen eingegraben; und größer geworden und älter, erst ein Jüngling, dann ein Mann, dachte er jedesmal, so oft er einen Armen ein Almosen empfangen sah, mit Scham und Zorn an jenen Tag, dessen Erinnerung mit solcher Zähigkeit in seinem Gedächtnisse haften blieb. Dieses schöne junge Mädchen war das kleine stolze Kind von damals. Das Gesicht erkannte er allerdings nicht mehr; es hatte sich wohl sehr verändert; aber das Miniaturbild stellte dessen Mutter dar; somit mußte es dasselbe sein.

Und es war ohne Zweifel so; dafür zeugte die geringschätzige, unhöfliche Art, wie sie ihm fortgesetzt den Rücken zukehrte, der hochmütige Blick, den sie hartnäckig stets auf das Fenster richtete und ihr beständiges Schweigen. Alles sagte klar und deutlich, daß das Kind von damals sich auch als junges Mädchen nicht verändert hatte.

Und trotz allem hatte er dem Mädchen gegenüber nicht über sein Herz zu wachen, nicht gleichgültig zu bleiben vermocht. Wer hätte ahnen können, daß er sich eines Tages von derjenigen angezogen fühlen würde, die er zu hassen wähnte? Von derjenigen, die ihm sein Leben verbittert hatte? … O, warum hatte er sich, ohne Vermögen, ohne persönliche Vorzüge, ihr genähert, die er hätte fliehen sollen, dieser Schönheit, die so reich und so stolz war? Stand es wirklich in dem Ratschlusse Gottes, daß er nicht einen Tag des Glückes in dieser Welt genießen sollte? Früh hatte für ihn schon das Leiden begonnen, und nun, nachdem er den Doktortitel errungen hatte und anfing, sich die Achtung all derer, die ihn kannten, zu gewinnen; jetzt, da er auf eine Zeit der Ruhe und eines relativen Wohlstandes rechnen durfte, mußte seinem Herzen eine Wunde geschlagen werden, die nie mehr vernarben würde! O, wie hart war dies! …

Der Pfiff der Lokomotive zeigte die Ankunft in Saluggia an. In seinem Heim wurde Alfonso mit Liebe erwartet und herbeigesehnt. Seine Mutter empfing ihn mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen, mit offenen Armen, um ihn zu bewillkommnen, und er mußte sich Gewalt anthun, das Lächeln zu erwidern und sich der Mutter froh und heiter zu zeigen.

Diesen Abend jedoch lagerte auch auf dem Antlitze der Mutter ein Schatten von Traurigkeit. Dem Sohne fiel es sogleich auf, und nachdem er mit zärtlicher Ehrfurcht ihre Hand geküßt hatte, fragte er: »Was hast du, liebe Mutter?«

»Mein lieber Sohn!« antwortete sie, »du weißt, ich lasse mich so leicht entmutigen; daß jedoch kein Grund zu eigentlichem Kummer vorliegt, wirst du zugeben, wenn ich dir die Ursache meiner Verstimmung mitgeteilt haben werde. Ich hörte heute, daß das Schloß neuerdings zum Verkaufe ausgeboten ist.«

»Und wird sich ein Käufer finden?«

»Es hat sich bereits einer gemeldet. Und ebendeshalb wollte ich dich fragen, ob du ihn vielleicht kennst. Er ist von Vercelli, ein reicher Handelsherr, der sich von seinen Geschäften zurückzieht und das Schloß bewohnen will.«

»Und wie heißt er?«

»Das mußt du mir sagen; ich erinnere mich des Namens nicht mehr. Es ist derselbe, der es bereits vergangenen Sommer gemietet hatte; jetzt kömmt er, um zu bleiben. Wie heißt er doch?«

Alfonso war ganz bleich geworden; er fühlte seine Kniee zittern, die Stimme schien ihm zu versagen bei dieser unerwarteten Nachricht; doch vermochte er die Worte hervorzubringen: »Herr Arnaldi.«

»Kennst du ihn?«

»Ja, ich behandelte unlängst seine Tochter.«

»Hörtest du nicht von der Angelegenheit sprechen?«

»Nein; ich spreche in Vercelli nur mit meinen Kranken, und erfuhr kein Wort davon.«

»Man hat mir versichert, daß es damit seine Richtigkeit habe.«

Alfonso erwiderte nichts und zog sich so schnell wie möglich in sein Zimmer zurück.

Es schien somit sein Verhängnis zu sein, diesem Mädchen nicht entfliehen zu können; er mußte demselben beständig und überall begegnen? O, wie furchtbar! Das Mädchen meiden zu wollen und zu müssen, und dennoch gezwungen zu sein, es immer zu sehen in seiner Schönheit und seinem Liebreiz, in seinem Stolze und seinem Hochmut! Es lag so etwas unaussprechlich Edles in seinem ganzen Wesen! Und jetzt kam das junge Mädchen hierher, in seine Nähe; er sollte es immer sehen, ihm mit den Blicken folgen können auf den Straßen im Dorfe, in den Feldern, in Gedanken auf den Wegen des Parkes, in den Sälen des Schlosses! … O, das war zu viel! …


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