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Zweiundzwanzigstes Kapitel..
Im Leid

Die ausgewählte Gesellschaft von Vercelli war festlich und zahlreich auf dem Schlosse erschienen, infolge einer Einladung des Besitzers. Alle waren mit Freuden gekommen: die einen, um ihre Neugierde zu befriedigen, die anderen, um sich zu unterhalten; man wußte, daß der Haushalt Herrn Arnaldis einen fürstlichen Zuschnitt trug.

Alle brachten der jungen Schloßherrin ihre Huldigungen dar, während sie auf den schön gehaltenen Wegen des Parkes zwischen Myrten und Lorbeerbüschen promenierte, bei allen Anwesenden Erstaunen und Bewunderung hervorrufend. Malwina war nicht mehr das launenhafte Mädchen von ehedem. In kurzer Zeit war sie zur Frau herangereift; ernst und ruhig, lächelte sie kaum bei den lebhaften Gesprächen der Gesellschaft, und über ihrem Antlitz lag es wie ein Schleier der Wehmut.

Der Doktor Alfonso hatte sich ebenfalls im Schlosse eingefunden, aber nur durch die Gebote der Konvenienz dazu gezwungen. Herr Arnaldi war mit Malwina selbst gekommen, um ihn einzuladen. Er hatte erst abgelehnt, mit dem Bemerken, daß seine Kranken in der Stadt ihn benötigten. Herr Arnaldi hatte jedoch Doktor Bizzi, der ohnedies am Feste nicht teilgenommen hätte, gebeten, dessen Besuche zu übernehmen, und so konnte Alfonso nicht zurückbleiben.

Niemand war glücklicher darüber als Malwina. Sie hatte den Doktor Salvadeo herbeigesehnt, ihn so oft aufgefordert, die Abende im Schlosse zuzubringen. Und immer hatte er sich entschuldigt mit der Versicherung, daß er seiner Mutter Gesellschaft leisten müsse, die abends nie ausginge und mit niemand verkehre.

Dieses Mal sollte er aber nicht fehlen.

Wie freudig schlug ihr Herz, als sie ihn ankommen sah! Wie warm und dankbar war der Willkommgruß, mit welchem sie ihm entgegenging! Aber leider! sie sollte sich dieses Tages nicht so recht erfreuen können; denn der Doktor blieb ernst und gedankenvoll, hatte nicht ein verbindliches Wort, nicht einen Blick, der sie ermutigen, ihr auch nur einen Schimmer von Hoffnung zu bieten vermochte.

Nach dem Diner zerstreute sich die Jugend im Park. Doktor Salvadeo, der kein Interesse für die geputzten Menschen, ihr Schwätzen und Lachen empfand, war es gelungen, sich von der Gruppe, die ihn bis dahin aufgehalten hatte, zu trennen; und in einen einsamen Waldweg einbiegend, schritt er dem kleinen See zu. Da bemerkte er eine Schar junger Mädchen, die fröhlich lachten über die Scherze einiger Herren, welche den Kahn lösten, um mit ihnen auf dem See zu fahren. Er bog schleunigst in eine andere Richtung ein. In geringer Entfernung sah er auf der drüberen Seite einer Wiese ein Fichtenwäldchen, und schritt darauf zu. Dort angekommen, entdeckte er eine Grotte, die wie in einen Felsen gehauen schien.

Es war ein köstliches Plätzchen. Die Wände waren mit Epheu umwachsen, und im Hintergrunde barg es einen bequemen Sitz. Alfonso spähte umher, und sah niemand weit und breit; nur aus der Ferne hörte man das frische Lachen der jungen Mädchen auf dem See. Er trat ein, setzte sich nieder und lehnte sich mit dem Rücken an die Epheuwand; dann schloß er die Augen und überließ sich seinen Gedanken.

Auf einmal war es ihm, als hörte er eine Stimme. Er lauschte; die Stimme fuhr zu sprechen fort, allein, in der Stille des Waldes, in geringer Entfernung von ihm.

»Wer das nur sein mochte?« fragte sich Alfonso überrascht.

Er stand auf und horchte gespannt. Es waren abgebrochene Sätze, wie Klagen, die er vernahm. Die Worte konnte er jedoch nicht verstehen. Von Neugierde getrieben, schritt Alfonso gegen die Seite zu, woher die Töne zu kommen schienen. Je mehr er sich näherte, desto lauter schlug sein Herz … Diese Stimme, es unterlag keinem Zweifel, war die ihrige, die Stimme Malwinas! … Es kam ihm vor, als ob sie weine. Warum weinte sie? … Er schritt lautlos vorwärts, auf den Fußspitzen, mit dem Blick aufmerksam auf das Gras, die Blätter und Zweige gerichtet, damit die Berührung mit denselben ihn nicht verrate; dann hielt er wieder ein, mit verhaltenem Atem lauschend, mit den Händen auf dem Herzen, um dessen heftige Schläge zurückzuhalten; und sobald die Stimme aussetzte, blickte er ängstlich um sich, in der Furcht, entdeckt zu werden.

Am äußersten Rande des Wäldchens bemerkte er eine Laube; vermutend, daß Malwina sich dortselbst befand, lenkte er seine Schritte behutsam dahin. In stürmischer Aufregung näherte er sich und blickte durch die Blätter der Laubwand. Und was sah er? … Malwina saß dort einsam, einen Arm auf den Marmortisch gestützt, in Schmerz versunken, ein Etwas in der Hand haltend. Noch ein Schritt, und Alfonso hätte es erkennen können. Er hatte jedoch nicht mehr Zeit, sich zu bewegen, denn Malwinas Lippen sprachen einen Namen aus, der den jungen Arzt wie ein elektrischer Schlag berührte; er blieb wie versteinert, mit geöffnetem Munde, starren Augen, des Denkens und Sprechens unfähig, unbeweglich …

»Alfonso,« so hörte er Malwina sprechen, »Alfonso, warum fliehst du mich? Was habe ich dir gethan? Wenn ich dich beleidigt habe, verzeihe mir! Siehst du nicht den Schmerz, der in meinem Herzen wütet? Siehst du nicht, daß ich weine, daß ich verzweifle? Siehst du nicht, daß ich dich liebe? Ich liebe dich so innig, o, so innig! … Wenn du wüßtest, wie viel ich leide, wie viel ich bereits unter deiner Gleichgültigkeit gelitten habe! … Und doch sagen mir diese Augen, daß du nicht gleichgültig bist; dieser Blick verrät mir, daß du einen reichen Schatz an Liebe im Herzen birgst; die Liebe zu deiner Mutter läßt mich ahnen, wie du dein Weib lieben würdest! … Du weißt es nicht; aber du allein hast in mir das Verlangen nach dem Guten, die Liebe zur Tugend und zur Barmherzigkeit zurückgegeben, du allein! Deine Liebe hat in mir die schlummernden Keime der guten Neigungen wieder erweckt; dein Beispiel, dein Opfermut, deine Selbstverleugnung haben mich angeeifert, mich dem Wohle meines Vaters und meiner Mitmenschen zu weihen! O, nicht wahr, du glaubst nicht, daß ich oberflächlich bin? Nein, ich bin nicht gefallsüchtig, ich bin nicht eitel! Die Gesellschaft allein hat mich vorübergehend angezogen! … O, wie gut verstünde ich es, meinen Gatten zu lieben! O Alfonso, wie fühle ich die Macht in mir, dich glücklich machen zu können! …«

Alfonso sah und hörte nichts mehr von der Außenwelt; er hörte nur diese klagende Stimme, die tief ergreifenden Worte. Sein Herz war zum Zerspringen voll; die Thränen fielen ihm heiß brennend aus den Augen; er wähnte, sterben zu müssen. Er hätte sich zu den Füßen dieses Mädchens werfen und ihr sagen wollen: »Ich bin es, der deine Verzeihung nötig hat; ich, der ich dich betrübt habe. Hier liege ich zu deinen Füßen, dein, ganz dein! Liebe mich, der ich dir schon längst mein Herz geschenkt habe, der ich dich vom ersten Augenblick an, als ich dich sah, aus ganzer Seele liebte. Sowie dich bisher meine angebliche Kälte verletzt hat, ebenso sollst du von nun an die volle Stärke meiner Liebe kennen lernen! …«

Er wollte eben an die Seite des trostlosen, schönen Mädchens eilen, als in demselben Momente eine Stimme sich vernehmen ließ, die, näher kommend, Malwina anrief.

Der Doktor blieb stehen und blickte nach allen Seiten, vermochte jedoch niemand zu sehen. Das hatte indes genügt, um den Zauber zu brechen. Die Gedanken des jungen Mannes nahmen eine andere Richtung. Es schien ihm, als ob zwischen ihm und diesem Mädchen sich ein Schatten erhöbe: ein elegantes kleines Wesen, das sein Kleidchen vorsichtig an sich zog, damit es nicht den armen Knaben, der vor ihr stand, berühre. Ihr Reichtum und seine Armut traten in ihrem scharfen Gegensätze vor seinen Geist, wie im Kampfe gegeneinander begriffen. Das Antlitz Alfonsos wechselte den Ausdruck, seine Züge verdüsterten sich und der Fuß, der voranschreiten wollte, zog sich entschlossen zurück.

Alfonso war Sieger geblieben.

Die rufende Stimme und das Geräusch des unter den Tritten knirschenden Kieses rüttelten Malwina aus ihren Träumen empor. Von der Furcht ergriffen, so allein und in dieser Gemütsverfassung getroffen zu werden, versteckte sie schnell den Gegenstand, den sie in der Hand hielt, trocknete die Augen und sah umher. Sie bemerkte niemand, da sich der Doktor in die Grotte zurückgezogen und die rufende Stimme sich wieder entfernt hatte, nachdem ihr keine Antwort geworden war. Sie beeilte sich hierauf, wieder zu den Gästen zurückzukehren.

Dieser Tag sollte für Malwina ein Tag der traurigsten Erinnerungen bleiben. Die Erregung, welche ihr Vater empfunden hatte, als er sich von all seinen Freunden und Bekannten so gefeiert und geehrt sah, und die darauffolgende Ermüdung hatten seine Kräfte erschöpft.

Er zog sich ermattet zurück, konnte jedoch erst gegen Morgen den Schlaf finden. Kaum war er indes eingeschlummert, als er plötzlich erwachte, mit einem schweren Druck auf der Brust; es war ihm, als läge er unter einem enormen Felsstück, das ihn hinderte, sich zu bewegen. Er öffnete die Augen und wollte rufen, aber die Stimme versagte ihm und er vermochte nicht zu atmen; er versuchte, den Kopf zu erheben, aber es gelang ihm nicht; kaum war er imstande, den Glockenzug zu ergreifen und denselben in Bewegung zu setzen, als sein Arm wie vom Blitz getroffen zurückfiel. Die Dienerschaft eilte herbei; Malwina wurde gerufen. Niemand hatte ihn mehr ein Wort aussprechen hören; sein Mund war geschlossen, die Zähne fest aufeinander geklemmt, das Antlitz leblos.

Es wurde nach dem Pfarrer geschickt, der ihm den letzten Segen erteilte; der zugleich erschienene Arzt konnte nicht mehr helfen … Herr Arnaldi hatte Malwina allein auf Erden zurückgelassen! …

Den folgenden Tag hielt ein Wagen vor dem Schloßthore; eine Dame, mit weißen Haaren und würdevollem Äußeren stieg aus, welche Malwina, die ihr schluchzend entgegengekommen war, liebevoll umarmte und ihr sagte: »Mein liebes, liebes Töchterchen, du gehst mit mir heim; von nun an sollst du mein siebenter Stern sein!«


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