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Achtzehntes Kapitel.
Stolz und schön

Auf einem kleinen Lehnsessel, vor einem zierlichen Arbeitstischchen saß ein junges Mädchen, eine schlanke, anmutige Gestalt. Das Gesicht bildete ein vollendetes Oval, von dunklen Haaren eingerahmt, die Hautfarbe, jetzt eben sehr blaß, war klar und rein. Das Mädchen konnte in der That für eine schöne Erscheinung gelten. Von einem weißen Spitzenshawl graziös umhüllt, stützte es sein Haupt auf die zarte Hand, und trocknete sich von Zeit zu Zeit die Thränen, die reichlich aus den schönen dunklen Augen fielen. Aber es war nicht der Schmerz allein, der sie hervorlockte; es war zugleich Unmut und Zorn; man merkte es an dem nervösen Zucken der Lippen, der Hände und des zierlichen Fußes, der ab und zu den Boden stampfte. Vor ihr stand ein hochgewachsener Herr mit grauem Bart und neben ihm eine ältere Dame, die sie beide bekümmert anblickten; es waren ihr Vater und ihre Tante.

»Sei vernünftig, Malwina,« sagte der erstere, »laß den Arzt kommen; er soll deinen Arm untersuchen, damit man wenigstens die Gewißheit hat, daß weder ein Bruch noch eine Verrenkung vorliegt; unterdessen wird sich der Doktor Bizzi erholen, und dann kann er dich wieder selbst behandeln. Aber indessen muß der andere Arzt den Arm ansehen, zu unserer Beruhigung!«

»Nein, nein, um keinen Preis! Ich will keinen anderen Arzt; entweder Doktor Bizzi oder gar keinen!«

Und dabei brach sie in lautes Schluchzen aus.

Die Tante blickte ihren Neffen bedeutungsvoll an und winkte mit dem Kopfe nach der Thüre hin. Herr Arnaldi ging hinaus, sagte dem auf Befehle harrenden Diener einige Worte und begab sich hierauf in sein Arbeitszimmer.

Die Dame setzte sich nieder und blickte stillschweigend zur Decke empor, während sie dem halbunterdrückten Schluchzen des jungen Mädchens lauschte. Draußen herrschte ein eisiger Frost. Nach und nach hörte das Weinen auf und Malwina schaute durch die Fensterscheiben hinunter in den schneebedeckten Garten und auf die Bäume, die von Krystallblüten übersäet schienen.

Als sich die Glocke der Hausthür vernehmen ließ, näherte sich die ältere Dame ihrer Nichte, legte eine Hand auf deren Schulter und sagte sanften Tones: »Malwina, höre mich an. Führe dich nicht wie ein kleines Kind auf; du bist achtzehn Jahre alt. Der Doktor Salvadeo ist da. Du wirst so vernünftig sein, ihn artig zu begrüßen und ihn deinen kranken Arm untersuchen zu lassen, nicht wahr?«

Malwina erhob sich hastig. »Er ist da?« rief sie rot vor Zorn aus. »Er soll nur kommen; ich werde ihn weder ansehen noch zu ihm sprechen; nein, nein, ich spreche nicht mit ihm!«

Wie ein launenhaftes, eigenwilliges Kind, das sie war, nahm sie ihre vorige Stellung wieder ein und rührte sich nicht im geringsten, als der Diener den Herrn Doktor meldete.

Frau Amalia ging dem Eintretenden entgegen und begrüßte ihn voll zuvorkommender Liebenswürdigkeit. Er war ein junger Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, mit einem sympathischen Gesicht, schönen, ausdrucksvollen Augen, dunklem Haar und Bart, und einem hohen Ernst in seiner ganzen Erscheinung.

Sie führte den Arzt zu Malwina und teilte ihm mit, wie das Mädchen vor einigen Tagen ausgeglitten und auf den linken Ellbogen gefallen sei. Sie wollte den Arm niemand sehen lassen in der Meinung, daß die Sache von keiner Bedeutung sei. Nachdem sie jedoch mehrere schlaflose Nächte verbracht hatte, wäre beschlossen worden, den Hausarzt kommen zu lassen, der aber leider erkrankt sei.

Der Doktor näherte sich dem jungen Mädchen, das noch immer zum Fenster hinausblickte. Er schlug den Shawl zurück, um den Arm zu untersuchen, der in ein Battisttuch eingebunden war, und nahm den Verband hinweg; da der Battist an der Wunde klebte, bat er um lauwarmes Wasser. Die Tante verließ das Zimmer, um es zu bestellen, und die zwei jungen Leute blieben allein. Malwina rührte sich nicht; unverwandt, mit stolzer, ablehnender Haltung, blickte sie vor sich hin. Der junge Arzt, blaß und ernst, schien sich nicht weiter um das Benehmen des hübschen Mädchens, das er vor sich hatte, zu bekümmern; er hatte weder ein Auge für das elegante Zimmer, in dem er sich befand, noch für die zahllosen Luxusgegenstände, die von dem Reichtum dieses Hauses zeugten; er sah nichts als ein Miniaturbild der Frau Ermenegilda, der Mutter Malwinas.

Er blickte es an und erbleichte. Dann wandte er sich von demselben ab, indem er einen Seufzer unterdrückte und mit der Hand über die Stirn strich, als wolle er einen traurigen Gedanken verscheuchen.

Tante Amalia kehrte zurück, von einer Kammerjungfer mit dem warmen Wasser gefolgt. Der Arzt schlug seine Ärmel etwas zurück, und zart den Ellbogen des Mädchens anfassend, tauchte er denselben in das Wasserbecken und ließ ihn einige Zeit darin ruhen. Dann löste er sorgsam den Battist, und es zeigte sich eine schreckliche, klaffende Wunde. Der Doktor runzelte die Stirn und Frau Amalia wandte sich entsetzt zur Seite.

»Signorina, Sie haben unrecht gethan, die Wunde nicht von Anfang an sorglich gepflegt zu haben; sie wäre an und für sich unbedeutend gewesen. Hingegen jetzt! …«

Malwina blieb unbeweglich und sprach kein Wort.

»Gnädige Frau,« fuhr der Doktor fort, indem er sich an die Tante wendete, »vor allem müßte man die Wunde waschen, was ich selbst thun würde, wenn ich Zeit dazu hätte. Ich habe jedoch viele Kranke und kann mich im Moment nicht länger aufhalten. Aber ich komme wieder. Haben Sie die Güte, das zu besorgen, und verbinden Sie dann die Wunde mit in Sublimatlösung getauchtem Musselin; unterdessen schicken Sie in die Apotheke um das Medikament, welches ich verschreiben werde. Wenn ich zurückkehre, besorge ich dann das Weitere.«

Er schrieb eiligst und reichte das Rezept der Dame, grüßte hierauf und entfernte sich. Draußen erwartete ihn Herr Arnaldi mit Ungeduld.

»Nun, wie geht es?« fragte er.

»Die Wunde ist ernster Natur; sie würde unbedeutend gewesen sein, wenn sie gleich richtig behandelt worden wäre. Jetzt muß das Eisen herhalten.«

Herr Arnaldi konnte sich eines Schauders nicht erwehren. »Herr Doktor,« sagte er, »meine Tochter ist in Ihren Händen. Thun Sie, was Sie für gut finden. Wenn Sie mir meine Malwina wiederherstellen, werden Sie es nicht bereuen, mein Haus betreten zu haben. Aber, beim Himmel! Ich empfehle mein Kind Ihrer Sorge! Und dann, entschuldigen Sie; sie ist ein etwas launenhaftes Mädchen; sie wird Sie mit Kälte empfangen haben … Haben Sie Nachsicht mit ihr!«

»Ich thue meine Schuldigkeit,« entgegnete der junge Mann; »ich verlange keine Liebenswürdigkeit. Auf Wiedersehen!«

Den folgenden Tag stellte sich der Doktor Salvadeo zur selben Stunde im Hause Arnaldi ein. Er grüßte Frau Amalia, die ihm entgegenkam, und mit sorglichem Eifer näherte er sich Malwina. Während er den Verband vom Arme löste, bat er wieder um warmes Wasser; dann breitete er einen weißen Lappen auf ein bereit stehendes Tischchen, und goß, nach vorheriger Prüfung, das aus der Apotheke geholte Mittel auf den Stoff. Hierauf legte er ein Tuch auf Malwinas Schoß, und vor ihr stehend, griff er in eine Tasche seines Rockes und zog ein Kästchen heraus. Er entnahm demselben ein winziges Scherchen, und indem er die Wunde fest zwischen seine Finger faßte, wie mit einer Zange, schnitt er ohne Erbarmen daran herum. Nachdem er sie alsdann sorgfältig in Sublimatlösung gewaschen und den bereit gehaltenen Lappen darauf gelegt hatte, verband er neuerdings den Arm und ordnete an, daß die Wunde alle zwei Stunden ebenso behandelt werden sollte.

Während der ganzen Operation, deren Verlauf sich der Leser vorstellen kann, hatte sich Tante Amalia, die neben ihrer Nichte stand, an die Stuhllehne halten müssen, um nicht zu fallen. Das junge Mädchen hingegen hatte nicht einen Schrei, nicht einen Seufzer ausgestoßen, ebensowenig einen Blick auf den Arzt geworfen, der ihr solche Schmerzen zufügte. Daß sie furchtbar litt, zeigte sich an der Totenblässe, die ihr Gesicht überzog und an dem kalten Schweiße, der ihr von der Stirne rann. Erschöpft lehnte sie sich in den Lehnsessel zurück.

Der Doktor, welcher seine Instrumente reinigte, schaute seine Patientin, vielleicht zum erstenmal, an und verordnete, daß man sie zu Bette bringe.

Als er wiederkehrte, fand er Malwina auf ihrem Lager ruhend. Wie schön war ihr Antlitz zwischen den feinen Spitzen, die es umgaben! Aus dem blassen Gesichte strahlten die schönen dunklen Augen, die beharrlich geradeaus blickten, um denen des Doktors nicht zu begegnen. Aber sie brauchte keine Sorge zu haben: er beschäftigte sich nur mit ihrem Arm und pflegte ihn mit solcher Sorgfalt, daß man hätte wähnen können, eine stärkere Macht als nur die der Pflicht leite ihn dabei. Er erneuerte die Operation des vorigen Tages, was er noch zwei- oder dreimal wiederholte. Alltäglich erschien er zur selben Stunde, immer mit demselben Eifer, demselben Interesse. Er kam, pflegte die Wunde und entfernte sich, in aller Stille, und nur die allernotwendigsten Worte sprechend. Malwina war schon so daran gewöhnt, um drei Uhr den Glockenton zu vernehmen, der sein Erscheinen anzeigte, daß sie sich immer fünf Minuten vorher darauf vorbereitete und sicher darauf rechnen durfte, nicht umsonst gewartet zu haben.

Jeden Tag berichtete ihr Laura von den Freundinnen oder Bekannten, die gekommen waren, um sich nach ihr zu erkundigen. Kein Besuch betrat ihr Zimmer, da sie den Wunsch ausgedrückt hatte, niemand sehen zu wollen. Nur der Familie Varelli war der Zutritt gestattet; aber dieselbe belästigte Malwina nicht oft mit ihrer Gegenwart, da sie einmal durch Gäste, ein andermal durch irgend ein Vergnügen am Kommen verhindert wurde. Die Hauptursache ihres Fernbleibens war jedoch in Frau Varellis Ruhelosigkeit zu suchen und in der Langweile, die sie am Krankenbett ihrer Nichte empfand. Sie bedurfte Unterhaltung, Bewegung, Leben; sie war so empfindsam, daß sie den Anblick dieses bleichen Gesichtes nicht zu ertragen vermochte!

Olga blieb eines Tages länger als Mutter und Schwester, und als sie sich allein mit Malwina wußte, sagte sie: »Heute früh habe ich den Doktor Salvadeo gesehen. Wie sympathisch ist er! Ist es wahr, daß du noch kein Wort an ihn gerichtet hast?«

»Ich? nein.«

»Warum doch nur?«

»Warum? Das weiß ich eigentlich selbst nicht; ich wollte einfach nicht, das ist der Grund.«

»Weißt du, daß du recht sonderbar bist?«

»Ich kann nicht helfen.«

»Und doch halten ihn alle für einen ausgezeichneten Mann. Und an dir, wie ich von Onkel und Tante Amalia höre, macht er eine bewundernswerte Kur.«

»Ja, aber man hat ihn mir aufgezwungen.«

»Bist du jetzt nicht zufrieden gestellt?«

Malwina zuckte die Achseln.

»Er soll so gut und tüchtig sein,« fuhr Olga weiter; »auch muß er einen geheimen Kummer haben; scheint es dir nicht ebenfalls, als ob eine Schwermut und eine Traurigkeit auf ihm lasteten, die nicht verfehlen, Interesse zu erwecken.«

»Ich weiß nichts davon, da ich ihn noch gar nicht angesehen habe.«

»Wie?«

»Nein, ich habe ihn noch nicht angeblickt.«

»Wenn er aber jeden Tag zu dir kömmt, wie stellst du es an, ihn nicht anzusehen?«

»Er tritt von einer Seite ein, und ich wende mich zur anderen. Dann reiche ich meinen Arm hin, und er thut damit, was er für gut findet.«

»Ist das möglich?«

»Sehr möglich, nachdem es so ist.«

»Du besitzest aber schon einen grenzenlosen Starrsinn und Eigenwillen, das muß man sagen!«

»Wie kannst du annehmen, daß mir etwas an einem armen, obskuren Doktor liegen sollte, den ich nicht einmal kenne!«

»Wirklich? Es heißt aber, daß er einen eminenten Verstand besitze und von guter Familie sei. Er ist von Saluggia. Hast du ihn den letzten Sommer dort nicht gesehen?«

»Nein, ich ging nie in das Dorf und empfing keine Besuche.

»Man sagt, daß seine Mutter dort lebt, und daß er jeden Abend hinfährt, um am Morgen wieder hierher zurückzukehren. Wenn er wieder kömmt, sieh' ihn dir doch näher an; du wirst sehen, daß er deine Gnade gewinnen wird, wie er sich die meine erworben hat.«

Olga wurde in diesem Moment abgerufen. Noch von der Thüre aus rief sie ihrer Cousine zu: »Vergiß nicht, ihn anzuschauen! du wirst mir dann darüber berichten!«

Malwina wandte sich auf die andere Seite. Alle sprachen sie immer von den Männern und sie konnte sie nicht mehr leiden; sie haßte sie alle, namentlich wenn sie jung, schön und reich waren. Dieser jedoch konnte nicht reich sein; nachdem er so sehr darauf bedacht war, sie zu heilen, geschah es jedenfalls in der Erwartung eines großen Honorars; also mußte er arm sein.

Das war schließlich gleichgültig; er war ihr deswegen nicht weniger antipathisch. Er richtete nie ein Wort an sie. Gerade diese stumme Unermüdlichkeit, welche die anderen bewunderten, machte sie reizbar; es regte sie auf, ihn so pünktlich kommen zu sehen; noch unerträglicher war ihr diese ängstliche Sorgfalt, mit der er ihren kranken Arm behandelte … Dennoch, um der Sache einmal eine andere Wendung zu geben und um der Cousine antworten zu können, wollte sie ihn morgen ansehen; sie konnte sich dann selbst überzeugen, ob er wirklich so hübsch sei, ob sich etwas von diesem hervorragenden Verstand, den alle bewunderten, in seinen Zügen offenbaren würde. Wenn sich derselbe im Schneiden dokumentierte, o dann ja, dann stimmte sie mit den anderen überein; er verstand das Schneiden mit Meisterschaft; da ließ sich nichts einwenden; dafür sprach klar und deutlich ihr Arm, der von den Fingerspitzen an bis zur Schulter hinauf so angeschwollen war, daß sie ihn gar nicht rühren konnte.

Sollte sie ihn wirklich ansehen, den Doktor? Sie? … Aber, schickte es sich für sie? … Wenn er es bemerken würde, möchte er zu glauben wagen, daß sich Fräulein Arnaldi endlich bis zu ihm herabgelassen hätte! … Sie? O, einmal hatte sie die Thorheit begangen, sich von dem Äußeren eines Mannes bestechen zu lassen … sie wollte sich dem nicht ein zweites Mal aussetzen … Aber, was lag schließlich daran, wenn sie ihn flüchtig, im verstohlenen, anblickte … Und selbst wenn er es bemerkte? … Gleichviel! Sie wollte diese Neugierde befriedigen, was er auch davon denken mochte. Sie kümmerte sich von nun an um niemand und um nichts mehr.


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