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Siebentes Kapitel

Er kannte Evanston und Hall, und sie kannten ihn, aber alle drei verbargen es einen Augenblick, jeder aus seinem Beweggrunde. Und sie sahen alle drei stark aus, jeder auf seine Weise, während der wenigen Sekunden, die sie einander fixierten. Mason war der Gewandteste, er tat, als erhole er sich endlich von einer ganz lähmenden Überraschung.

»Ja, ich sage, New-York ist klein!« rief er kameradschaftlich aus und ging mit ausgestreckter Hand vor. »Sie sind nicht die ersten bekannten Gesichter vom Promenadendeck des ›Bacharach‹, auf die ich heute gestoßen bin, Herr Evanston und Herr Edmund Hall. Wissen Sie übrigens, daß man immer, wenn man von Bord eines Schiffes geht, seine Mitreisenden auf die rätselhafteste Weise in der Stadt treffen wird, nach der man kommt – in einem Fahrstuhl, auf der Straßenbahn, an Orten, wo es sich um Sekunden handelt, ob man zusammenstößt oder nicht, aber man tut es. Ich bin einmal mit einem Reisegefährten in einem Rettungsnetz zusammengetroffen, in das wir beide aus einem brennenden Hotel hinabsprangen und fragten: »Wie geht es Ihnen,« als wir uns von Angesicht zu Angesicht in dem Netz sahen. – »Ist Ihnen die Reise gut bekommen?« – Einmal habe ich einen höchstgeehrten Mitreisenden in einer Zelle in Sing-Sing – getroffen …«

»War dies letzte Zusammentreffen so ungeheuer zufällig?« fragte Hall verzweifelt. Er wollte doch einen Stein in die dritte Mühle werfen, die dort zu mahlen anfing.

Mason hielt auch wirklich mit einem knirschenden Laut an, nickte dann mit der aller familiärsten und anerkennendsten Miene von der Welt.

»Nicht übel!« sagte er und kniff die Augen zusammen. Hall wandte sich gleichgültig von ihm ab und Mc Carthy zu, aber er war gezwungen, den Schlag mit einem Lächeln zu erwidern, da er zuerst geschlagen hatte. Mc Carthy sprach leise mit seiner Frau. Hall sah nach seiner Uhr, es war über neun. Evanston hatte sich ebenfalls erhoben, um zu gehen, er stand im Schatten hinter der hohen Stehlampe, das Gesicht einem Bild an der Wand zugewendet.

»Die Herren wollen doch nicht gehen, weil ich gekommen bin?« sagte Mason bedauernd, »mein Anliegen nimmt nur kurze Zeit in Anspruch, ich werde mich gleich wieder empfehlen.«

»Wenn Sie mir Ihre Adresse geben wollen, Herr Thomas A. Mason,« sagte Mc Carthy, »so will ich heute abend noch in meinen Büchern nachsehen und Ihnen die gewünschten Aufklärungen senden.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden.«

Mason zog eine Karte heraus und schrieb seine Adresse darauf. Dann verabschiedete er sich, indem er jedem die Hand gab.

»Herr Evanston,« fragte er, als er zu ihm kam, »könnte ich wohl ein Wort mit Ihnen reden? Nicht jetzt, aber vielleicht würden Sie mir sagen, wo Sie wohnen, dann sehe ich morgen bei Ihnen vor.«

Evanston wandte sich langsam um, er antwortete nicht. Hall sah staunend, daß das knochige Gesicht ganz aschgrau war, und daß seine Augen matt aussahen.

»Es ist übrigens nichts von Wichtigkeit,« fügte Mason hinzu, als ihm Evanston nicht gerade willig entgegen zu kommen schien. »Ich weiß, Sie sind Missionar in China gewesen, Herr Evanston, und ich dachte an die Möglichkeit, einige Aufschlüsse, um die es mir zu tun ist, von Ihnen zu erlangen. Vielleicht treffen wir uns einmal wieder. – Aber was – was ist denn dies

Ein leises, knarrendes Geräusch an der Tür machte sich bemerkbar. Alle sahen dahin. Mirjam stand dort. Sie hatte nur ein weißes Nachtgewand an, und das Haar war gelöst, das Lampenlicht fiel auf ihre nackten, dünnen Füße. Die Augen standen offen, aber sie sahen nicht; die jungen Züge schliefen, der Mund war gerade so weit geöffnet, daß sie den Eindruck machte, als atme sie. Sie schlief. Jetzt trat sie vor, die Augen fielen ganz langsam zu, als das Licht sie berührte, öffneten sich aber wieder.

»Still!« flüsterte Edmund Hall befehlend. Und während sich nun niemand vom Fleck rührte, ging Mirjam weiter ins Zimmer hinein, ohne den Stühlen nahe zu kommen und ohne die Arme zu heben. Sie ging dicht an eine Stubenwand heran und glitt in ihrer ganzen Länge daran entlang, blieb ein wenig an dem Harmonium stehen und begann dann weiter zu gleiten. Evanston und Hall standen nicht weit voneinander, Mirjam ging ihnen entgegen und blieb einige Schritte von ihnen entfernt stehen; die andern hatten den Eindruck, als wolle sie zu einem von ihnen hingehen, wisse aber nicht zu wem. Sie bog den Kopf ein wenig hintenüber, sie sah überirdisch aus in ihrer Feinheit und Ruhe, wie sie so dastand. Dann wendete sie ganz leise und langsam den Kopf Hall zu, trat dicht an ihn heran und sah ihm gerade ins Gesicht. Er beugte sich herab und begegnete ihrem Blick, der blind war aber sanfter und tiefer als der Blick des Rehs im Walde. Sie erhob die eine Hand und näherte sie seinem Herzen. Da zuckte er zusammen und wich zurück. Mirjam erwachte, sie wandte sich stamm ab, legte den Arm über ihre Augen und schien zu schwanken. Frau Mc Carthy führte sie still hinaus.

» Ein neues Versuchsobjekt, Herr Edmund Hall?« ertönte Masons Stimme mit einer stark verächtlichen Betonung. Und als Edmund Hall sich aus seiner Gemütsbewegung herausriß und Mason erstaunt ansah, begegnete er einem dreisten, fast wilden Blick aus den Augen des kleinen Mannes. – ›Der ist sicher Unteroffizier gewesen‹, dachte Hall.

»Was wollen Sie?« fragte er. »Was gehen Sie hier überhaupt herum und sammeln unfaßliche Privatgeheimnisse, Herr Mason?«

Thomas A. Mason trat dicht an Hall heran und bohrte den Blick in den seinen. Es war ein roher, tatkräftiger Blick, es lag Gewalt darin.

»Haben Sie die Güte, mich nicht mit Ihrer Person zu wärmen,« sagte Hall. »Ihr Atem ist auch keineswegs gut, Herr Mason.«

Mason zog sich zurück.

»Sie werden schon erfahren, was ich will,« kommandierte er. Und sich mit einer entschuldigenden Gebärde vor Herr und Frau Mc Carthy verbeugend, wandte er sich mit kräftiger und sprungbereiter Bewegung wie ein Mastift zum Gehen.

»Was in aller Welt ging nur mit dem Manne vor sich?« rief Hall sehr erbost aus, als Mc Carthy, der Mason hinausgelassen hatte, zurückkehrte.

Mc Carthy schüttelte unschuldig den Kopf. Ahnte es nicht. Kannte den Menschen nicht. Er war gekommen, um Mc Carthy um einen Auszug aus seinen Protokollen zu bitten aus der Zeit, als er noch Gefängnisprediger war, und da Mc Carthy in dem Glauben war, daß er ein Detektiv sei, obwohl er sich nicht als solcher vorgestellt, hatte er ihm die gewünschten Aufschlüsse versprochen. Edmund Hall müsse den Auftritt sehr entschuldigen. Dergleichen Menschen hätten nicht allemal den richtigen Begriff davon, wie sie sich benehmen müßten. Jo Mc Carthy erhielt häufig Besuch von irgend einem Mann, der im Dienst der Polizei stand und einen Einblick in seine Protokolle zu tun wünschte, und er pflegte es nicht abzuschlagen, obwohl diese Menschen nicht alle gleich taktvoll waren … Mc Carthy redete jetzt von einem frischen Wind getrieben drauf los. Aber Hall war müde und wollte gehen, er unterbrach ihn, führte selber die Unterhaltung und verabredete einen Abend für die nächste spiritistische Sitzung. Er teilte Mc Carthy mit, daß er diesen einen Abend in seinem Hause erscheinen wolle, aber wenn die Sitzung ein Resultat ergab, das die Abhaltung anderer Zusammenkünfte zur Folge hatte, so müsse er darauf bestehen, daß sie alle in sein Laboratorium drüben in der Stadt verlegt würden, wo er die nötige Kontrolle üben könne. Darüber einigten sie sich, und dann verabschiedete sich Hall kurz und ging.

Er fühlte sich sehr nervös, unruhig und beschloß, einen Spaziergang zu machen. Brooklyn, wo er nicht oft gewesen war, ward ihm indes bald zu trübselig mit seinen häßlichen Straßen und seinem Gewimmel von schäbigen Leuten, er bestieg eine Straßenbahn, deren Ziel er nicht kannte und beschloß damit zu gehen, wohin sie ihn führte, wie er das oft zu tun pflegte, wenn er das Bedürfnis hatte, alles von sich abzuschütteln. Die Bahn ging quer durch die Stadt und eine meilenlange Straße entlang, bis nach Long Island hinaus. Hall stieg ab, als keine Häuser mehr an den Seiten des Weges lagen, und als er sah, daß eine andere Straßenbahnlinie wieder in die Stadt hineinführte, eine halbe Meile quer über das offene Land, da beschloß er die Strecke Weges über die Felder zu gehen und mit der andern Linie nach Hause zu fahren. Es war nicht sehr dunkel, außerdem sah er hin und wieder einen erleuchteten Wagen vor sich vorübergleiten, mit blauen Lichtern aus der Leitung; er hielt diese Richtung inne, durch betautes Gras watend. Es war so wunderlich still hier. Ein Geruch von Üppigkeit schlug ihm über dem Kopf zusammen, in weiter Ferne erscholl ein ganz gedämpftes Quaken von Fröschen, wie aus einem Horizont von dunklem Grün. Weit hinten lag Brooklyn in einem trüben Rauch, und dahinter schimmerte New-York weiß in der Luft, in der großen Entfernung wie der heiße Nebel über einem Feuerschlund erscheinend. Hinter New-York stand eine ferne, gewaltige Wolkenbank, und darüber wölbte sich der Himmel, noch klar und grün nach dem Sonnenuntergang.

Hall stand still in dem hohen, saftigen Gras. Er stand dort einen Augenblick mitten auf dem Felde und sog die Frühlingsüppigkeit ein. Eine Fledermaus strich lautlos in den Gesichtskreis über seinem Kopf hinein und wieder heraus. Hall spürte den Duft einer bestimmten Pflanze, mit der er als Kind vertraut gewesen war. Das war ja noch gar nicht so lange her. Ihm wurde so einsam zumute. Ja, dann Lebewohl, dachte er und faßte den Himmel, das dunkle Feld und den Duft des Grases gleichsam in einem langen Atemzug zusammen. Dann eilte er weiter, um die Straßenbahn zu erreichen, die ihn nach Hause fahren sollte. Eine Strecke vorher bog er in einen Steig ein, der ihn zu dem Wege führte, und hier kam er an einem Hause vorüber, dem man es auf den ersten Blick ansah, daß es unbewohnt war. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen, die Wände, die aus Holz waren, hatten die Farbe verloren, und es herrschte jene ganz verlassene, gähnende Finsternis in den Fensterhöhlen, die in einem Hause zurückbleibt, wenn niemand dort mehr wohnt. Der Garten lag in einer schwarzgrünen Wildnis von Nesselkraut da, ein großer Baum lehnte umgestürzt gegen den einen Giebel des Hauses. Hall konnte nicht umhin, er mußte hineingehen und eine Weile neben dem leeren Hause stehen. Er sah, daß die Haustür schief in den Hängen hing und nicht schloß, er schob sie zurück und ging in die große Stube, die gleich dahinter lag. Sie war ganz leer. Während Hall dastand und sich umsah, hörte er ein Springen und Rascheln draußen im Gebüsch, aber er wußte im selben Augenblick, daß es eine Katze war, die aus dem Fenster gesprungen war. Es war beinahe dunkel im Zimmer, Hall stieß mit den Füßen gegen leere Konservendosen, die an der Erde lagen; es hatten wohl Vagabunden dadrinnen gehaust. Die Tür zu dem Nebenzimmer stand ebenfalls offen, und hier lag eine alte Packkiste. Hall sank darauf nieder und blieb lange sitzen.

Es paßte ihm, hier allein in dem verlassenen Haus zu sitzen. Aus dem verrotteten Fußboden stieg ein erdiger Schwammgeruch auf, es war so still hier, und die Dunkelheit hatte etwas Beruhigendes. Die Zeit war hier stehen geblieben; alles hatte aufgehört und das gab Ruhe. In der schwarzen Stille, in dem Geruch nach Rost lag ein Blühen; es knarrte hier und da ein wenig in dem Holzwerk des Hauses, das sich sehr, sehr langsam aber sicher der Erde zu senkte. Und draußen im Garten war die Dunkelheit voll von Schwermut und boshaftem Gemurmel.

Hall nahm die Brille ab und legte die Hand auf seine Augen. Er sah in sein eigenes inneres Dunkel hinab. Es war tief und öde nach allen Seiten hin.

Als Hall nach minutenlanger schmerzlicher Ruhe wieder aufsah, entschlossen, dennoch zu leben, hob sich in einer der leeren Fensterhöhlen ein Kopf von dem helleren Himmel ab. Er sah ihn gerade noch, als er zur Seite glitt und verschwand. Hall blieb eine lange Zeit sitzen, ohne sich zu rühren und wartete darauf, daß der Kopf wiederkommen sollte. Es war ihm, als höre er ein Rascheln im Buschwerk. Als aber alles still blieb und sich nichts zeigte, ging er aus dem Hause heraus. Der Kopf, den er gesehen hatte, gehörte einem Manne mit rundem Derbyhut, Hall sah sich im Garten und aus dem Wege um, als er aber niemand entdeckte, ging er an die Schienen der Straßenbahn und stellte sich an einem Halteplatz auf, bis ein Wagen kam.

Es war fast Mitternacht, als Hall nach der achtunddreißigsten Straße zurückkam. Da er aber Hunger verspürte, ging er in ein Restaurant und saß dort, bis die Uhr eins war. Als er aus dem Lokal heraustrat, sah er einen Mann hinter einen Kübelbaum gleiten, der auf dem Bürgersteig aufgestellt war, einen Mann mit rundem Filzhut. Hall stutzte und trat schnell an den Baum heran. Er verdeckte gerade die Straßenecke, und als er dahin kam, sah er niemand. Der Mann mußte in eine der Haustüren hineingeglitten sein. Hall ging nach Hause ohne sich umzusehen.

Als er aber seine Haustür geöffnet hatte und auf den teppichbelegten Treppen bis in das zweite Stockwerk gekommen war, wo seine Wohnung lag, sah er auf der untersten Stufe der Treppe zu dem nächsten Stockwerk eine Gestalt sitzen, eine Frau mit einem großen, schwarzen Tuch um den Kopf. Er strich ein neues Streichholz an und sah gerade in Leontinens große, betrübte Augen. Und ohne ein Wort zu sagen, ließ er das Streichholz fallen und glitt neben ihr in der Dunkelheit nieder. Ihm ward so glühend froh zu Sinn. Er erholte sich von diesem Schwarzen und Stillen, das seine Freude gewesen war, während er allein in dem verlassenen Hause saß. Auch Leontine sagte nichts, sie war ganz zerschlagen vom Warten. Drei Stunden lang hatte sie auf der Treppe vor seiner Tür gesessen, von dem Augenblick an, als die Haustür da unten geschlossen werden sollte.


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