Jean Paul
Siebenkäs
Jean Paul

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Vom Reichsmarktflecken konnt' er, da er so abgerissen und in keinem Winkel des elliptischen Gewölbes stand, so wenig zu Ohren bekommen als von Schraplau; von Lenetten und Natalien nichts. Bloß aus dem Anzeiger und Götterboten deutscher Programmen ersah er, daß er Todes verfahren sei, und daß das kritische Institut sich um einen seiner besten und emsigsten Mitarbeiter verlustigt sehe – welcher Nekrolog den Inspektor früher belohnte als irgendeinen deutschen Gelehrten, und nicht später als den olympischen Sieger EuthymusPlin. H. N. VII. 48. , dem ein Ausspruch des delphischen Orakels Opfer und Vergötterung noch bei seinen Lebzeiten zuerkannte. Ich weiß nicht, welche Ohren die deutsche Famas-Trompete lieber anbläset, ob taube oder lange. –

Und doch bewahrte Siebenkäs mitten im Eismonate seines Liebe flehenden Herzens und in der Wüste seiner Einsamkeit noch eine lebendige prangende Blume – und dies war Nataliens Abschiedkuß. – O, wüßtet ihr, die ihr an unsrer Unersättlichkeit verhungert, wie ein Kuß, der ein erster und ein letzter ist, durch ein Leben hindurch blüht als die unvergängliche Doppelrose der verstummten Lippen und glühenden Seelen, ihr würdet längere Freuden suchen und finden. Jener Kuß befestigte in Firmian den Geisterbund und verewigte die Liebe auf ihrem Blütengipfel; die stillen Lippen sprachen fort vor ihm – das Geisteswehen von Hauch zu Hauch webte fort – und so oftmals er auch in seinen Nächten hinter den geschlossenen nassen Augen Natalien mit ihren erhabnen Schmerzen von sich scheiden ließ und verschwinden in die dunkeln Laubengänge: so wurd' er doch des Abschieds und der Schmerzen und der Liebe nicht satt.

Endlich nach sechs Monaten – an einem schönen Wintermorgen, als die weißen Berge mit ihren schneekristallenen Wäldern sich gleichsam im Rosenblute der Sonne badeten, und als die Flügel der Morgenröte länger aufgeschlagen sich auf die blinkende Erde legten – da flog ein Brief, wie von Morgenwinden eines künftigen Lenzes früher hergetrieben, in Firmians leere Hand – er war von Natalien, die ihn, wie jeder, für den vorigen Heinrich ansah.
 

Teurer Leibgeber!

Länger kann ich nicht über mein Herz gebieten, das jeden Tag vor dem Ihrigen auseinandergehen oder zerspringen wollte, bloß um Ihnen alles zu zeigen, was darin verwundet ist. Sie waren ja doch einmal mein Freund: bin ich ganz vergessen? Hab' ich Sie auch verloren? – Ach, gewiß nicht, Sie können nur vor Schmerz nicht mit mir reden, weil Ihr Firmian an Ihrem Herzen starb und nun totenkalt auf der schmerzenden Stelle ruht und zerfällt. O warum haben Sie mich beredet, Früchte, die auf seinem Grabe wachsen, anzunehmen und mir jedes Jahr gleichsam seinen Sarg öffnen zu lassen?Sie meint das Witwengehalt. Der erste Tag, wo ichs bekam, war bitter; bitterer als je einer. Wie mir zuweilen ist, das sehen Sie aus einem kleinen Neujahrwunsch, den ich an mich selber gerichtet, und den ich beilege. Eine Stelle darin geht einen weißen Rosenstock an, dem ich im Zimmer einige blasse Rosen mitten im Dezember abgewann. – Mein Freund, nun geben Sie einer Bitte Gehör, die der Anlaß dieses Schreibens ist, meiner heißesten Bitte um Schmerzen, um größere: dann hab' ich Trost; zeigen Sie mir nur an, weil es niemand weiter vermag und ich niemand kenne, wie die letzten Stunden und Minuten unsers Teueren waren, was er sagte und was er litt, und wie sein Auge brach, und wie sein Leben aufhörte; alles, alles, was mich durchschneiden wird, das muß ich wissen – was kann es mich und Sie kosten als Tränen? Und diese laben ja ein krankes Auge. Ich bleibe

Ihre
Freundin
Natalie A.

N.S. Wenn mich nicht so viele Verhältnisse zurückzögen, so würde ich selber nach seinem Wohnort reisen und mir Reliquien für meine Seele sammeln; wiewohl ich für nichts stehe, wenn Sie schweigen. Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrer neuen Stelle; und ich hoffe, es einmal mündlich tun zu können, mein Inneres heilet doch so einmal zusammen, daß ich meine geliebte Freundin bei ihrem Vater aufsuchen und Sie erblicken kann, ohne zu sterben vor Schmerz über die Ähnlichkeiten, die Sie mit Ihrem nun unähnlichen, versenkten Geliebten haben.

*

Das schöne Gedicht, das in englischen Versen war, wag' ich so zu übersetzen:

Mein Neujahrwunsch an mich selber

Das neue Jahr öffnet sein Pforte: das Schicksal steht zwischen brennenden Morgenwolken und der Sonne auf dem Aschenhügel des zusammengesunknen Jahrs und teilt die Tage aus: um was bittest du, Natalie?

Um keine Freuden – ach alle, die in meinem Herzen waren, haben nichts darin zurückgelassen als schwarze Dornen, und ihr Rosenduft war bald zerlaufen – neben dem Sonnenblick wächst die schwere Gewitterwolke, und wenn es um uns glänzt, so bewegt sich nur das wiederscheinende Schwert, das der künftige Tag gegen den freudigen Busen zieht. – – Nein, ich bitt' um keine Freuden, sie machen das durstige Herz so leer, nur der Kummer macht es voll.

Das Schicksal teilet die Zukunft aus: was wünschest du, Natalie?

Keine Liebe – O wer die stechende weiße Rose der Liebe an das Herz drücket, dem blutet es, und die warme Freudenzähre, die in ihren Rosenkelch tropfet, wird früh kalt und dann trocken – am Morgen des Lebens hängt die Liebe blühend und glänzend als eine große rosenrote Aurora im Himmel – O, tritt nicht in die glimmende Wolke, sie besteht aus Nebel und Tränen – Nein, nein, wünsche keine Liebe: stirb an schönern Schmerzen, erstarre unter einem erhabenern Giftbaum, als die kleine Myrte ist.

Du knieest vor dem Schicksal, Natalie: sag' ihm, was du wünschest!

Auch keine Freunde mehr – nein – wir stehen alle auf ausgehöhlten Gräbern nebeneinander – und wenn wir nun einander so herzlich an den Händen gehalten und so lange miteinander gelitten haben: so bricht der leere Hügel des Freundes ein, und der Erbleichende rollt hinab, und ich stehe mit dem kalten Leben einsam neben der gefüllten Höhle – – Nein, nein; aber dann, wenn das Herz unsterblich ist, wenn einst die Freunde auf der ewigen Welt beisammen stehen, dann schlage wärmer die festere Brust, dann weine froher das unvergängliche Auge, und der Mund, der nicht mehr erblassen kann, stammele: nun komm' zu mir, geliebte Seele, heute wollen wir uns lieben, denn nun werden wir nicht mehr getrennt.

O du verlassene Natalie, um was bittest du denn auf der Erde?

Um Geduld und um das Grab, um mehr nicht. Aber das versage nicht, du schweigendes Geschick! Trockne das Auge, dann schließ es! Stille das Herz, und dann brich es! – Ja, einstmals, wann der Geist in einem schönern Himmel seine Flügel hebt, wann das neue Jahr in einer reinern Welt anbricht, und wann alles sich wiedersieht und wiederliebt: dann bring' ich meine Wünsche... Und für mich keine – denn ich würde schon zu glücklich sein...

*

Mit welcher Sprache könnt' ich die innere Sprachlosigkeit und die Erstarrung ihres Freundes zeichnen, da er das Blatt gelesen hatte und immer noch behielt und anblickte, ob er gleich nichts mehr sehen und denken konnte. – O die Eisschollen des Gletschers des Todes wuchsen immer weiter und füllten ein warmes Tempe nach dem andern – der einsame Firmian hing durch kein anderes Band mehr mit den Menschen zusammen als durch das Seil, das die Totenglocke und den Sarg bewegt – und sein Bette war ihm nur eine breitere Bahre – und jede Freude schien ihm ein Diebstahl an einem fremden entblätterten Herzen. – Und so wurde der Stamm seines Lebens, wie mancher Blumen ihrerBei den Ranunkeln und bei der Braunwurz senket sich jedes Jahr das Unterste des Stengels tiefer in die Erde ein und wird der Ersatz der wegfaulenden Wurzel. , immer tiefer hinabgezogen, und der Gipfel wurde zur verborgnen Wurzel. – –

Überall war der Abgrund einer Schwierigkeit offen und jedes Tun so mißlich wie jedes Unterlassen. Ich will die Schwierigkeiten oder Entschlüsse in der Reihe, wie sie durch seine Seele zogen, vor die Leser bringen. Im Menschen fliegt der Teufel allemal früher auf als der Engel, der schlimme Vorsatz eher als der guteIm Enthusiasmus ist die umgekehrte Rangordnung. Um deine fest liegenden Gründe von moralischem Werte viel gewisser zu kennen als aus Entschlüssen und Handlungen, so merke nur auf die Freude oder Betrübnis, welche zuerst in dir bei einer moralischen Anfoderung, Nachricht, Abweisung blitzschnell aufsteigt, aber sogleich wieder verschwindet durch das spätere Besinnen und Besiegen. Welche große faulende Stücke vom alten Adam findet man da oft! : sein erster war nicht moralisch, der nämlich, Natalien zu antworten und zu erzählen, d.h. vorzulügen. Der Mensch findet den Trauerrock sowohl schön, wenn man ihn für ihn anlegt, als warm, wenn er ihn für andere umtut. »Aber ich löse ihr schönes Herz (sagt seines) mit einer fortgesetzten Wunde und Lüge in einen neuen Kummer auf: ach, nicht einmal mein wahrer Tod wäre einer solchen Trauer wert. – Ich schweige also gar.« – Aber dann mußte sie denken, Heinrich zürne, auch dieser Freund sei eingebüßet; ja sie konnte dann nach dem Reichsmarktflecken reisen und vor seinen Grabstein treten und diesen als eine neue Bürde auf die gebückte, zitternde Seele laden. Beide Fälle teilten noch die dritte Gefahr, daß sie nach Vaduz hinkomme, und daß er dann die schriftlichen Lügen, die er sich ersparet, in mündliche verwandeln müsse. Noch ein Ausweg lief vor ihm hinauf, der tugendhafteste, aber der steilste – er konnte ihr die Wahrheit sagen. Aber mit welcher Gefahr aller seiner Verhältnisse war dieses Bekenntnis verknüpft, wenn auch Natalie schwieg – und auf seinen guten Heinrich fiel in Nataliens Augen ein schräges, gelbes Licht, zumal da sie über die Großmut seiner Zwecke und Lügen keinen Aufschluß hatte. Gleichwohl litt sein Herz auf dem unsichern Wege der Wahrheit am wenigsten; und er beharrte endlich auf diesem Entschluß.


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