Jean Paul
Siebenkäs
Jean Paul

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Tage in Vaduz – Nataliens Brief – ein Neujahrwunsch – Wildnis des Schicksals und des Herzens

Wir finden unsern Firmian, der nach seinem Abschiede aus der Welt, wie Offiziere nach dem ihrigen, höher gestiegen war – nämlich zum Inspektor –, in der Inspektorwohnung zu Vaduz wieder. Er hatte sich jetzo durch so viele verwachsene Stechpalmen und Dornenhecken durchzuwinden, daß er darüber vergaß, er sei allein, so ganz allein in der Welt. Kein Mensch würde die Einsamkeit verwinden und dulden, wenn er sich nicht die Hoffnung einer künftigen Gesellschaft oder einer jetzigen unsichtbaren machte.

Bei dem Grafen hatte er nichts zu scheinen als das, was er war; dann blieb er dem freien Leibgeber am ähnlichsten. Er fand in ihm einen alten Weltmann, der einsam, ohne Frau, Söhne, ohne weibliche Dienerschaft, seine grauen Jahre mit den Wissenschaften und Künsten – die längsten und letzten Freuden eines ausgenossenen Lebens – nachfüllte und schmückte und der auf der Erde – den Spaß darüber ausgenommen – nichts mehr recht lieb hatte als seine Tochter, mit welcher eben Natalie unter den Sternen und Blüten der Jugendtage geschwärmt.

Da er in früherer Zeit alle Kräfte des Geistes und Leibes daran gesetzt, um die schlüpfrigsten und höchsten Cocagnebäume der Freude zu erklettern und abzuleeren: so kam er mit beiden Teilen seines Wesens etwas matt von ihnen herunter; sein geistiges Leben war jetzt eine Art von Pflegen und Liegen in einer lauen Badwanne, aus welcher er nicht ohne Regenschauer sich aufrichten konnte und in welcher immer Warmes nachgegossen werden mußte. Der Ehren-Punkt des Worthaltens und das höchste Glück seiner Tochter waren die einzigen unzerrissenen Zügel, womit ihn das moralische Gesetz von jeher festgehalten; indes er andere Bande desselben mehr für Blumenketten und Perlenschnüre nahm, die ein Weltmensch so oft in seinem Leben wieder zusammenknüpft.

Da man sich leichter hinkend als gerade gehend stellen kann, so hatt' es Siebenkäs hierin leichter, den lieben hinkenden Teufel, seinen Leibgeber, zu spielen. Der Graf stutzte bloß über seine natürliche weiße Schminke auf dem Gesicht und über seine Trauermiene und über eine Menge unnennbarer Abweichungen (Varianten und Aberrationen) von Leibgeber; aber der Inspektor half dem Lehnherren durch die Bemerkung aus dem Traum, daß er sich selber kaum mehr kenne und sein eigner Wechselbalg oder Kielkropf geworden sei, seit daß er krank gewesen und daß er seinen Universitätfreund Siebenkäs in Kuhschnappel habe einschlafen und aus der Zeitlichkeit gehen sehen. Kurz, der Graf mußte glauben, was er hörte – wer denkt an eine so närrische Historie, als ich hier auftrage? – und wäre damals mein Leser im Zimmer mit dabei gestanden, so hätte er dem Inspektor mehr als mir selber beigepflichtet, bloß weil sich Firmian noch mehr von seinen vorigen Unterredungen mit dem Grafen – freilich aus Leibgebers Tagebuch – entsann als der Graf selber.

Indes, da er als der Geschäftträger und Lehnträger seines geliebten Heinrichs zu sprechen und zu handeln hatte: so war er wenigstens zweierlei in einem hohen Grade zu sein gezwungen, lustig und gut. Leibgebers Laune hatte eine stärkere Farbengebung und freiere Zeichnung und einen poetischern, weltbürgerlichern und idealern Umfang»Daher ich voraussehe, daß die Leibgeberischen Hirtenbriefe in diesen Blumenstücken für die meisten Leser unausstehliche Absage- oder Ausfoderbriefe sind. Die meisten Deutschen verstehen – dies soll man ihnen nicht nehmen – Spaß, nicht alle Scherz, wenige Humor, besonders Leibgeberschen. Deshalb wollte ich anfangs – weil doch ein Buch leichter zu ändern ist als ein Publikum – alle seine Briefe verfälschen und faßlichere unterschieben; aber man kanns noch immer in der zweiten Auflage so anordnen, daß man die verfälschten ins Werk einmacht und seine wahren hinten anhangweise nachbringt.« – Dies wurde gar nicht nötig gemacht. – Aber Himmel! wie können erste Auflagen so fehlschießen und so viele Leser falsch nehmen, für welche nachher zweite sich mit aufrichtiger Wärme erklären! als Firmians seine; daher mußte dieser seinen Kammerton zu jenes Chorton hinaufstimmen, um ihn, wenn nicht zu erreichen, doch nachzuahmen. Und dieser Schein einer heitern Laune setzte sich am Ende in eine wahre um. Auch trug sein feines Gefühl und seine Freundschaft immer Heinrichs vergrößertes, glänzendes Bild, auf dessen Haupt sich der Strahlenreif und Lorbeerkranz durchflochten, vor ihm, wie an einer Mosis-Wolkensäule, auf seinem Lebenswege her, und alle Gedanken in ihm sagten: »Sei herrlich, sei göttlich, sei ein Sokrates, bloß um dem Geiste, dessen Abgesandter du bist, Ehre zu machen.« Und welchem von uns wär' es möglich, den Namen einer geliebten Person zu nehmen und unter diesem zu sündigen? –

Niemand wird in der Welt so oft betrogen – nicht einmal die Weiber und die Fürsten – als das Gewissen; der Inspektor machte dem seinigen weis: er habe ja ohnehin in frühern Jahren, wie bekannt, Leibgeber geheißen, gerade so, wie er sich jetzo schreibe – auch tu' er dem Grafen Vorschub genug – und wer sei mehr entschlossen als er, einmal wenn sichs schickt, diesem alles haarklein zu beichten, den, wie leicht vorauszusehen, eine solche humoristische, juristische Falschmünzerei und malerische Täuschung schöner überraschen müsse als alle notwendige Vernunftwahrheiten und responsa prudentum, nicht zu erwähnen der gräflichen Freude, daß hier derselbe Freund und Humorist und Jurist zweiköpfig, zweiherzig, vierbeinig und vierarmig, kurz in duplo zu haben sei. Aber erwähnen müss' er doch dieses, daß er mehr Not- als Scherzlügen vorbringe, indem er an die vergangenen Unterredungen und Verhältnisse Leibgebers so ungern als selten anstreife und sich öfter über seine eignen nächsten, die keine Wahrheit ausschließen, verbreite.

So ist nicht der Inspektor, sondern der Mensch; dieser hat einen unbeschreiblichen Hang zur Hälfte – vielleicht weil er ein auf zwei Welten mit ausgespreizten Beinen stehender Kolossus und Halbgott ist –, namentlich zu Halbromanen – zum Halbfranko des Eigennutzes – zu halben Beweisen – zu Halbgelehrten – zu halben Feiertagen – zu Halbkugeln und folglich zu ehelichen Hälften. –

Die neuen Anstrengungen aller Art verbargen ihm in den ersten Wochen (wenigstens solange die Sonne schien) seine Schmerzen und seine Sehnsucht. Den größten Freudenzuschuß lieferte ihm aber des Grafen Zufriedenheit mit seinen juristischen Kenntnissen und pünktlichen Arbeiten. Als ihm dieser gar einmal sagte: »Freund Leibgeber, Ihr haltet brav, was Ihr mir früher versprochen; Euere Einsicht und Pünktlichkeit in Geschäften macht Euch neue Ehre; denn ich gestehe gern, daß ich einige Zweifel darüber bei aller meiner Achtung für Euere andern Talente nicht gern gehegt; denn Geschäfte trenn' ich wie Euer Friedrich II. durchaus von Gesprächen, und für jene foder' ich jeden nur möglichen schulgerechten und pünktlichen Gang« – da dachte und frohlockte er heimlich in sich: »So hab' ich doch meinem Lieben einen Tadel ab- und ein Lob zugewandt, das er am Ende, sobald ers nur gewollt, auch selber sich hätte erringen können.«

Nach einer solchen Opferfreude will der Mensch – wie Kinder tun, die immer, wenn sie etwas gegeben, nicht nachlassen wollen zu geben – immer stärkere Opferfreuden haben und Opfer bringen. Er packte seine Auswahl aus des Teufels Papieren aus und gab sie dem Grafen und sagte ihm ganz unverhohlen: er habe sie gemacht. »Ich täusch' ihn damit nicht im geringsten«, dacht' er, »ob er sie gleich Leibgebern zuschreibt; denn ich heiße jetzo eben nicht anders.« Der Graf konnte die Papiere gar nicht genug lesen und loben, und besonders erfreuete er sich an dem treuen Eifer, womit der Verfasser von seinen beiden Landsleuten, dem britischen Zwillinggestirn des Humors, Swift und Sterne, sich die rechten Wege des Scherzes zeigen lassen. Siebenkäs hörte sein Buch mit solchen Genusse und mit einem so seligen Lächeln loben, daß er ordentlich wie ein eitler Autor aussah, indes er nichts als ein Verliebter in seinen Heinrich war, auf dessen Namen und Gestalt in des Grafen Seele er einige Lorbeerkränze mehr hatte spielen können.

Aber dieses einzige Erfreuliche war ihm auch als Trost und Labsal für ein Leben vonnöten, das beschattet und kalt zwischen zwei steilen Ufern von Aktenstößen fortschoß, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat; ach, er hörte nichts Bessers – bloß den guten Grafen ausgenommen, dessen ungewöhnliche Güte noch wärmer seinen Busen umflossen hätte, wenn er ihm dafür unter fremdem und eignem Namen zugleich hätte danken dürfen – ich sage, er hörte nichts Bessers als die Wellen seines Lebens, die zuweilen murmelten. Er kam täglich in die wiederholte harte Lage eines Kunstrichters – der er auch gewesen –, nämlich das lesen zu müssen, was er richten mußte, sonst Autoren, jetzt Advokaten – er sah in so viel leere Köpfe, in so viel leere Herzen; in jenen so viel Dunkelheit, in diesen so viel Schwärze – er sah, wie sehr das gemeine Volk, wenn es zur Egerien-Quelle der juristischen Dintenfässer reiset, um sich Blasensteine weg zu bringen, den Karlsbader Gästen gleiche, denen die heiße Quelle alle verheimlichten Krankheitmaterien auf die äußere Haut herausjagt – er sah, daß die meisten alten und schlimmsten Advokaten bloß darin eine schöne Ähnlichkeit mit den Giftpflanzen behaupten, daß sie, wie diese, in ihrer Jugend und Blütenzeit nicht halb so giftig sind, sondern mehr unschädlich; er sah, daß ein gerechtes Urteil oft so viel schade als ein ungerechtes, und daß man gegen beide appelliere – er sah, daß es leichter und ekelhafter zugleich sei, ein Richter als ein Advokat zu sein, nur daß beide durch ein Unrecht nichts verlieren, sondern daß der Richter für ein kassiertes Urteil so gut bezahlt wird als der Advokat für einen verlornen Prozeß und sie also vom Rechtsfalle wie Schaffhäuser vom Rheinfalle gemächlich leben – daß man bei den Untertanen den Grundsatz der Stallbedienten handhabe, welche die Striegel für die halbe Fütterung des Pferdes halten – er sah endlich, daß niemand schlimmer daran fährt als eben der, ders sieht, und daß der Teufel nichts seltener hole als Teufel...

Unter solchen Arbeiten und Ansichten ziehen sich die weichen Herzadern gerinnend zusammen, und die offnen Arme des innern Menschen werden gelähmt – der beladene Mensch behält kaum den Wunsch zu lieben, geschweige die Zeit. Stets lieben und suchen wir Sachen auf Kosten der Personen, und der Mensch, der zu viel arbeitet, muß zu wenig lieben. Der arme Firmian hörte jeden Tag nur an einer einzigen Stätte die Bitten und Wünsche seiner weichen Seele an, nämlich auf dem Kopfkissen, dessen Überzug sein weißes, auf seine nassen Augen wartendes Schnupftuch war. Über seiner ganzen alten Welt stand eine Sündflut aus Tränen, und nichts schwamm darin empor als die beiden schlaffen Totenkränze der gestorbnen Tage, Nataliens und Lenettens Vorsteck-Blumen, gleichsam die versteinerten Arzneiblumen seiner erkrankten Seele, die Einfaßgewächse verheerter Beete.


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