Jean Paul
Siebenkäs
Jean Paul

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Funfzehntes Kapitel

Rosa von Meyern – Nachklänge und Nachwehen der schönsten Nacht – Briefe Nataliens und Firmians – Tischreden Leibgebers

Wenn man in einer feuchtwarmen, gestirnten Lenznacht den Arbeitern in einem Steinsalzbergwerk ihr breites Wetterdach von Erde über den Kopf abhebe und sie so plötzlich aus ihrem lichtervollen engen Keller in den dunkeln, weiten Schlafsaal der Natur und aus der unterirdischen Stille in das Wehen und Düften und Rauschen des Frühlings herausstellte: so wären sie gerade in – Firmians Fall, dessen bisher verschlossenen, stillen, hellen Geist die vorige Nacht auf einmal mit neuen Schmerzen und Freuden und mit einer neuen Welt gewaltsam auseinandergetrieben und verdunkelt hatte. Heinrich beobachtete über diese Nacht ein sehr redendes Stillschweigen, und Firmian verriet sich umgekehrt durch ein stummes Jagen nach Reden. Er mochte die Flügel, die sich gestern zum erstenmal feucht außer der Puppe ausgedehnet hatten, zusammenlegen wie er wollte, sie blieben immer länger als die Flügeldecken. Es wurd' am Ende Leibgebern lästig und schwül; sie waren schon gestern schweigend nach Baireuth und ins Bette gegangen, und er wurde müde, wenn er die vielen Halbschatten und Halbfarben überzählte, die erst alle aufzutragen waren, bevor man vier tapfere, breite Striche am Gemälde der Nacht tun konnte.

Nichts ist wohl mehr zu beklagen, als daß wir nicht alle zu einerlei Zeit den Keichhusten haben – oder Werthers Leiden oder 21 Jahre oder 61 – oder hypochondrische Anfälle – oder Honigmonate – oder Mokierspiele: – wie würden wir, als Choristen desselben Freuden- oder Trauer- oder Husten-Tutti, unsern Zustand in dem fremden finden und ertragen und dem andern alles vergeben, worin er uns gleicht. Jetzt hingegen, wo der eine zwar heute hustet, aber der andere erst morgen – das Simultan- und Kompaniehusten nach dem Kanzelliede in den Schweizerkirchen ausgenommen – da der eine die Tanzstunden besucht, wenn der andere den Kniestunden in Konventikeln obliegt – da das Mädchen des einen Vaters über dem Taufbecken hangt, und in derselben Minute der Junge des andern auf Seilen über dem kurzen Grabe; jetzt, da das Schicksal zum Grundton unsers Herzens in den Herzen um uns fremde Tonarten oder doch übermäßige Sexten, große Septimen, kleine Sekunden greift: jetzt, bei diesem allgemeinen Mangel des Unisono und der Harmonie, ist nichts zu erwarten als kreischendes Katzen-Charivari, und nichts zu wünschen als doch einiges Harpeggieren, wenn nicht Melodie.

Leibgeber ergriff als einen Henkel der Rede oder als einen Pumpenschwengel, um drei Tropfen aus dem Herzen zu drücken, Firmians Hand und umarmte sie mit allen Fingern sanft und warm. Er tat gleichgültige Fragen nach den heutigen Lustgängen und Lustreisen; aber er hatte nicht vorausgesehen, daß ihn der Druck der Hand tiefer in die Verlegenheit senken werde; denn er mußte nun (das konnte man fodern) ebensowohl über die Hand als über die Zunge regieren, und er konnte die fremde Hand nicht Knall und Fall fortschicken, sondern mußte sie in einem allmählichen diminuendo des Drucks entlassen. Eine solche Aufmerksamkeit auf Gefühle macht' ihn schamrot und toll; ja er hätte meine Beschreibung davon ins Feuer geworfen; – ich habe Nachrichten, daß er nicht einmal bei Weibern, die doch das Herz (das Wort nämlich) immer auf der Zunge haben, wie einen heraufsteigenden globulus hystericus, dieses Wort auszusprechen vermochte: »Es ist«, sagt' er, »der Gießhals und der Kugelzieher ihres Herzens selber; es ist der Ball an ihrem Fächer-Rapier und für mich eine Giftkugel, eine Pechkugel für den Bel zu Babel.«

Auf einmal entsprang seine Hand aus dem süßen Personalarrest; er nahm Hut und Stock und plauderte heraus: »Ich sehe, du bist so einfältig wie ich: instanter, instantius, instantissime, mit drei Worten: hast du es ihr gesagt wegen der Witwenkasse? Nur ja und nein! Ich fahre sogleich zur Tür hinaus.« Siebenkäs warf noch schneller alle Nachrichten auf einmal hervor, um auf immer von jeder frei zu sein: »Sie tritt gewiß hinein. Ich hab' ihr nichts gesagt und kann nicht. Du kannst ihrs leichtlich sagen. Du mußt auch. Ich komme nicht mehr in Fantaisie. Und nachmittags, Heinrich, wollen wir uns recht erlustigen, unser Lebenspiel soll ein klingendes sein – an unsern Pedalharfen stehen ja die Erhöhtritte für Freudentöne noch alle, und wir können darauf treten.« Heinrich kam wieder zu sich und sagte fortgehend: »Am menschlichen Instrument sind die Cremoneser Saiten aus lebendigem Gedärm gedreht, und die Brust ist nur der Resonanzboden und der Kopf vollends der Dämpfer.« –

Die Einsamkeit lag wie eine schöne Gegend um unsern Freund, alle verirrte, verjagte Echos konnten zu ihm herübergelangen, und er konnte sich auf dem aus zwölf Stunden gewebten Flor, der sich vor dem schönsten historischen Gemälde seines Lebens aufspannte, das Gemälde zitternd nachzeichnen mit Kreide und tausendmal nachzeichnen. – Aber den Besuch der schönen, immer weiter aufblühenden Fantaisie mußte er sich verwehren, um nicht mit einem lebendigen Zaun Natalien dieses Blumental zu verriegeln. Er mußte für seine Genüsse Entbehrungen nachzahlen. Die Reize der Stadt und ihrer Nachbarschaft behielten ihre bunte Hülse und verloren ihren süßen Kern; alles glich für ihn einem Dessertaufsatz, über dessen gläsernen Boden man in den vorigen Zeiten buntes Zucker-Pulver streuete, und den in den jetzigen nur farbiger Sand grundiert, mehr zum Stippen als zum Käuen tauglich. Alle seine Hoffnungen, alle Blüten und Früchte seines Lebens wuchsen und reiften nun, gleich unsern höhern, wie die der unterirdischen PlatterbseDie Platterbse hat zwar über der Erde einige Blumen und Früchte, aber unter ihr die meisten, obwohl weiße. Linné, Abhandlung von der bewohnten Erde. – unter der Erde, ich meine in dem Schein-Grabe, in das er gehen wollte. Wie wenig hatt' er: und wie viel! Sein Fuß stand auf verdorrten, stechenden Rosenstöcken, sein Auge sah rund um die elysischen Felder seiner Zukunft bedorntes Strauchwerk, borstiges Gestrippe und einen aus seinem Grab gemachten Wall gezogen; sein ganzes Leipziger Rosental schränkte sich auf das grüne Rosenstöckchen ein, das unaufgeblüht von Nataliens Herzen an seines verpflanzt worden. – Und wie viel hatt' er doch! Von Natalie ein Vergißmeinnicht seines ganzen Lebens – das geschenkte seidne war nur die Rinde des immer blühenden –; einen Seelenfrühling, den er endlich nach so vielen Frühlingen erlebt, den, zum ersten Male von einem weiblichen Wesen so geliebt zu werden, wie ihm hundert Träume und Dichter an andern vorgemalt. – Aus der alten papiernen Rumpelkammer der Akten und Bücher auf einmal den Schritt in die frischgrüne blumenvolle Schäferwelt der Liebe zu tun, zum ersten Male eine solche Liebe nicht nur zu erhalten, sondern auch einen solchen Scheide-Kuß wie eine Sonne in ein ganzes Leben mitzunehmen und mit ihm es durchzuwärmen – dies war Seligkeit für einen Kreuzträger der Vergangenheit! Noch dazu konnt' er ganz hingegeben sich von den schönen Wellen dieses Paradiesesflusses ziehen und treiben lassen, da er Natalien nicht zu besitzen, nicht einmal zu sehen vermochte. In Lenetten hatt' er keine Natalie geliebt, wie in dieser keine Lenette; seine eheliche Liebe war ein prosaischer Sommertag der Ernte und Schwüle, und die jetzige eine poetische Lenznacht mit Blüten und Sternen, und seine neue Welt war dem Namen ihrer Schöpfung-Stätte, der Fantaisie, ähnlich. Er verbarg sich nicht, daß er – da er Natalien vorzusterben sich entschieden – in ihr ja nur eine Abgeschiedene liebe als ein Abgeschiedener; ja als ein noch Lebender eigentlich nur eine für ihn schon verklärte Vergangene – und er tat frei die Frage an sich, ob er nicht diese in die Vergangenheit gerückte Natalie so gut und so feurig lieben dürfe als irgendeine längst in eine noch fernere Vergangenheit geflogene, die Héloise eines Abälards oder eines St. Preux oder eine Dichters-Laura oder Werthers-Lotte, für welche er nicht einmal so im Ernste starb wie Werther.

Seinem Freunde Leibgeber war er mit aller Anstrengung nicht mehr zu sagen imstande als: »Du mußt recht von ihr geliebt worden sein, von dieser seltenen Seele, denn bloß der Ähnlichkeit mit dir darf ich ihre himmlische Güte für mich zuschreiben, ich, der ich sonst so wenig gleich sehe und nirgends Glück bei Weibern gemacht.« Leibgeber und sogleich er selber hintendrein lächelte über seine fast einfältige Wendung; aber welcher Liebhaber ist nicht während seines Maies ein wahres gutes lebendiges Schaf?

Leibgeber kam bald wieder in den Gasthof mit der Nachricht zurück, daß er die Engländerin auf Fantaisie habe fahren sehen. Firmian war recht – froh darüber: sie machte ihm seinen Vorsatz noch leichter, sich aus dem ganzen Freudenbezirke auszuschließen. Denn sie war die Tochter des Vaduzer Grafen und durfte also den Armenadvokaten, den sie einmal für Leibgebern halten sollte, jetzt nicht erblicken. Heinrich aber botanisierte jede Stunde des Tages draußen im Blüten-Abhang von Fantaisie, um mit seinen botanischen Suchgläsern (mit seinen Augen) weniger Blumen als die Blumengöttin auszusparen und auszufragen. Aber es war an keine Göttererscheinung zu denken. Ach! die verwundete Natalie hatte so viele Ursachen, sich von den Ruinen ihrer schönsten Stunden entfernt zu halten und die überblühte Brandstätte zu fliehen, wo ihr der begegnen konnte, den sie nie mehr sehen wollte! –

Einige Tage darauf beehrte der Venner Rosa von Meyern die Tischgesellschaft in der Sonne mit der seinigen... Wenn die Zeitrechnungen des Verfassers nicht ganz trügen: so speisete er damals selber mit am Tische; ich erinnere mich aber der zwei Advokaten nur dunkel, und des Venners gar nicht, weil Festhasen seiner Art ein eisernes Vieh und weil ganze Wildbahnen und Tierspitäler davon zu bekommen sind. Ich bin mehr als einmal auf Personen lebendig gestoßen, die ich nachher von der Glatze bis auf die Sohle abgebosselt und in meinem biographischen Wachsfigurenkabinett herumgeführt habe; ich wünschte aber, ich wüßte – es hälfe dem Flor meines biographischen Fabrikwesens in etwas auf – es allezeit voraus, welchen ich gerade unter den anwesenden Leuten, womit ich esse oder reite, abkonterfeien werde. Ich würde tausend winzige Personalien einsammeln und in mein Briefgewölbe niederlegen können; so aber bin ich zuweilen genötigt (ich leugn' es nicht), kleinere Bestimmungen – z.B. ob etwas um 6 oder 7 Uhr vorging – geradezu herzulügen, wenn mich alle Dokumente und Zeugen verlassen. Es ist daher moralisch gewiß, daß, hätten an demselben Morgen noch drei andere Autoren sich mit mir niedergesetzt, um Siebenkäsens Ehestand aus denselben geschichtlichen Hülfquellen der Welt zu geben, daß wir vier, bei aller Wahrheitliebe, ebenso verschiedene Familiengeschichten geliefert hätten, als wir von den vier Evangelisten schon wirklich in Händen haben; so daß unserem Tetrachord nur mit einer Harmonie der Evangelisten wäre nachzuhelfen gewesen, wie mit einer Stimmpfeife.

Meyern aß, wie gesagt, in der Sonne. Er sagte dem Armenadvokaten mit einem Triumph, der etwas von einer Drohung annahm, daß er morgen zurückreise in die Reichsstadt. Er tat eitler als je; wahrscheinlich hatt' er funfzig Baireutherinnen seine eheliche Hand verheißen, als wär' er der Riese Briareus mit funfzig Ringfingern an hundert Händen. Er war auf Mädchen wie Katzen auf Marum verum erpicht, daher jene Blumen und dieses Kraut von den Besitzern mit Drahtgittern überbauet werden. Wenn solche Wildschützen, die überall Jagdfolge und Koppeljagd ausüben, von Geistlichen mit dicken Eheringen lebendig auf ein Wild geschmiedet werden, das mit ihnen durch jedes Dickicht rennt, bis sie verbluten: so schreiben uns menschenfreundliche Wochenblätter, die Strafe sei zu hart; – allerdings ist sie es für das unschuldige – Wild.

Den andern Tag ließ Rosa wirklich beim Advokaten fragen: ob er nichts an seine Frau bestellen solle; er reise zu ihr.


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