Jean Paul
Siebenkäs
Jean Paul

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– Ein Mensch, dessen Stoppeln der Tod vollends umstürzt und einackert, hat bei mir ein größeres Recht als das der ersten Bitte, er hat das der letzten. Ich erschien den andern Tag und brachte den Notarius und meinen Haß gegen den argwöhnischen Sterbenden mit. Ich half mit lustiger Kälte die Effekten der Krankenstube protokollieren: seinen von der abgescheuerten Jagdtasche gebohnten Jagdrock, seine abgegriffne Gewehrkammer, die er oft in Stürmen vor dem Fuchsbau als Wild-Schildwache präsentiert hatte, und sogar den ledernen Unterzieh-Schuh des Daums und die lange Mumien-Bandage der Nase, die er über den Wunden beider getragen, als er sich solche mit seiner eignen Vogelflinte geschossen hatte.

Da wir die übrigen stummen Zimmer, die leeren Schalengehäuse seiner vertrockneten Tage, durchgingen: fing schon das gefrorne Blut in mir aufzutauen an und rollte in wärmere leichte Quecksilberkügelchen auseinander. Als ich aber gar mit dem Notarius in die Rumpelkammer stieg und da die Trödelbude seiner alten Schlafröcke durchblätterte, dieser Raupenbälge und Bluthemden seiner Fiebernächte, in denen ich ihn noch einmal dürsten und stöhnen sah – ferner seinen Patenbrief und seinen daraus in Silber nachgestickten Namenzug auf den Halskrägen der Hühnerhunde – und das Kniestück seiner schönen Mutter, der er als ein lächelndes Kind im Schoße saß, und das drahtene, mit grüner Seide übersponnene Brautkränzchen seiner Frau... (Um Gottes willen, stört mich nur jetzt nicht mit Zureden, wahrlich ich habe schon davon gegessen) – – als ich diese Opernkleider, diese Opernkasse und diese Theatermaschinen in die Hände nahm, womit der kranke Schauspieler unten die Proberolle eines Harpaxes zum Besten der Armen hienieden gespielt: so tat mir nicht nur der moralische Kassedefekt und der magere Freuden-Monatsold des siechen Mannes im Erdgeschosse weh, sondern ich wünschte ihm auch nicht mehr Strafe und Elend, als er sich selber wünschen würde, wenn er sich vor dem Sturze ins tiefste Erdgeschoß aufrichtig bekehrte; nein, eher weniger Elend. Ich hatte also keinen Haß mehr; denn ich setzte mich nicht bloß in seine äußere Stelle – wie andere tun, die sich bloß mit ihrer eignen ganzen Seele, ihren Wünschen und Gewohnheiten etc. in des andern physische Stelle denken –, sondern in seine innere, in seine Seele, in seine Jugend, seine Wünsche, seine Leiden, in seine Gedanken. Ich sagte, indem ich die Treppe herunterging: ›Armer Pikeur, ich habe keine satirische Freude mehr an deinem nagenden Argwohn, an deinen Irrtümern und Selbgeschossen des Geizes, an deinem knickernden Hunger – du mußt eine ganze lange Ewigkeit mit deinem Ich auskommen und leben wie ich mit meinem. – Du mußt mit ihm aufstehen und umherziehen und allein für dasselbe sorgen – und du mußt dich ja lieben wie ich mich; ja wider Willen auch die Not und die Sünde an diesem Ich aushalten. – Ziehe damit in Frieden hin in die andere Welt, wo statt der zerbrochnen Gläser schon neue gestimmte für die verstimmte Harmonika deines Lebens werden zu finden sein im großen Geister-Hause.‹

Auf der Treppe schrie mir die alte Frau das Verscheiden des Mannes entgegen. Ich traf im Bette den gelben naßkalten Körper ohne Sinne an und sah, daß er bald das letzte Bühnenkleid abwerfe, den Leib. Den andern Tag verkündigte mir das Geläute seine Zurückkehr in die Erde, in diese theatralische Anzieh-Stube der Seelen und Blumen – wie auf andern Bühnen werden wir herein- und hinausgeklingelt.

Noch unterwegs probiert' ich mein gemäßigteres System auch dem armen Notariat-Teufel an, und am Tage darauf wurde es den Juristen anversucht, die aus den Kollegien kamen – (Jean Paul! wahrlich ich bin jetzt mild, kommuniziere uns deinen Einfall nachher, fahr mir nur jetzt nicht dazwischen) – Ich tats, sag' ich, und sogar mit den Plebejern unter ihnen, die diesen Stand, den einzigen freimütigen im Staate, verunehren, konnt' ich einen Frieden meines Herzens schließen. Denn ich durfte ja nur denen Advokaten und denen von meinen medizinischen Kollegen, denen ich oft so hitzig die von ihnen selber gemünzten Preismedaillen abschnitt und einschmolz, das Dach über dem Kopfe abdecken, das Mauerwerk aus dem Sparrwerk brechen und ihre Stuben allen vier Winden aufmachen: dann konnt' ich hinein gucken und darin alles sehen, was mich versöhnte, ihre Haushaltung, ihre schuldlosen Weiber, ihren Schlaf, d.h. ihren Schein-Tod, ihre Krankheiten, ihre Tränen, ihre Geburt- und Trauertage. Wahrlich um einen Mann zu lieben, brauch' ich mir nur seine Kinder oder Eltern zu denken und die Liebe von und zu ihm. – Diese menschenliebende Seelenwanderung legt man in jeder Minute leicht zurück, ohne den Luftball der Phantasie und ohne die Täucherglocke des Tiefsinns. Beim Himmel! es ist eine Sünde, daß ich erst dreißig Jahre alt werden mußte, eh' ich darhinter kam, was die Eigenliebe eigentlich will, meine und jede – nichts als Wiederholungen des Ich sucht sie um sich zu haben, sie dringt darauf, daß jeder Infant der Erde ein Pfarrsohn sei wie ich – daß jeder edle Menschen verloren und gewonnen – daß jeder ein Leibarzt sei und vorher in Göttingen den Wissenschaften obgelegen – daß er Sebastian heiße und daß gegenwärtiger Berghauptmann sein Leben in 45 Hundposttagen geschrieben – kurz daß es auf der Erde 1000 Millionen Viktors gebe statt eines einzigen. Ich bitte jeden, in seiner eignen Seele Auskundschafter herumzuschicken und nachsehen zu lassen, ob sie nicht tausendmal hasseWenigstens stärker, da, wenn man einmal kalt gegen jemand ist, alles Äußerliche, das Schöne wie das Häßliche, die Kälte nur mehret. , weil der andere eine Speckkammer auf dem Magen trägt, oder weil er so dünn ist wie eine Fadennudel, oder weil er Kreissekretär ist, oder weil er sein Kalbfleisch mit Butter begießetEin Franzos beschwor es, er könne die Engländer nicht ausstehen, parce-qu'ils versent du beurre fondu sur leur veau roti. , oder weil er katholischer Nachtwächter in Augsburg ist und einen Rock, links weiß, rechts rot und grün, trägt. Die Menschen sind so sehr in ihre Ich eingesunken, daß jeder den Küchenzettel fremder Leibgerichte gähnend anhört und doch mit dem Intelligenzblatte der seinigen andere zu erfreuen meint.«

Die befiederte Echo, die Nachtigall, schlug den Tönen der ungehörten Sphären-Musik nach und brachte sie uns hernieder; aber ich mußte meinen Herabschuß vom Berge Senis gar hinaustun und gab, da ich schon das Lob des Vogels besorgte, es ihm nickend hurtig voraus. »Göttlich! Himmlisch! – Ich horche immer gelegentlich mit hin! – Aber nur noch eines: in den Tanzsälen, in den Vorzimmern, in großen Gesellschaften, deren heißer Lerchenrost einem Swift alles Fett ausbrät, werd' ich seit meinen empfindsamen Reisen in fremde Seelen froher und fetter. Diese Duldung des Sünders schließt eine noch größere des Narren und die größte des Dunsen ein, obgleich die große Welt diese drei geduldeten Sekten gerade im umgekehrten Verhältnis ihres Unwerts bekriegt. Diese Amnestie der Menschheit macht die Pflichten der Liebe leichter und die hohen Entzückungen der Freundschaft und Liebe gerechter, weil die Glut der letztern das Herz oft für die übrigen Menschen verglaset und verkalkt. Daher ist die letzte und beste Frucht...«

Klotilde sah mich fragend und bittend um die Erlaubnis eines Wortes und fast zurechtweisend an, da ich mich in die Stelle derer zu setzen vergaß, denen ich diese Versetzung anlobte. Ich hielt errötend inne. Jean Paul bemerkte: »Daher fahren die Zuhörer im Konzertsaale gerade bei den schönsten Adagios, die sie am meisten erweichen, am meisten über Getöse auf und fluchen und weinen in einer Minute.« – »Mich beschämt«, sagte Klotilde, »eine eigne Erfahrung. Ich legte neulich Sillys Brief in ›Allwills Papieren‹ vor Tränen weg und ging voll vom Buche ins Casino: aber ich darf die harten Urteile nicht bekennen, die ich jenen Abend einige Male innerlich über meine Bekannte fällete. Ich mutete ihnen zu, sie sollten alle in meiner Stimmung sein, da sie doch nicht gerade von Sillys Briefe herkamen.«

»Das wollt' ich eben«, beschloß ich, »noch beifügen: die letzte und beste Frucht, die spät in einer immer warmen Seele zeitigt, ist eben Weichheit gegen den Harten – Duldungen gegen den Unduldsamen – Wärme gegen Ichsuchtler – und Menschenfreundschaft gegen den Menschenfeind.«...

– – Es ist sehr sonderbar, geliebter Kato. Gerade eben kommt Jean Paul und erzählt mir eine Mordgeschichte von menschlicher Ungerechtigkeit, die mir wie ein Glüheisen zischend durchs volle Herz fährt. Alle meine Grundsätze stehen licht und klar wie Gestirne um meine Seele, aber ich muß untätig den Wellen, mit denen mein Blut auf dem unterirdischen Erdbrand kochend aufspringt, von oben herab zusehen und ihr Fallen und Auskühlen abwarten. Ach, wir arme, arme Sterbliche! – Jean Paul, der die Geschichte schon vorgestern wußte und also die kühlende Methode ebensolange vor mir gebraucht hatte, will an meiner Stelle die Gemäldeausstellung unserer insularischen Blumenstücke besorgen und ein Nachschreiben anschließen. Recht! Denn ich könnt' es heute wahrlich nicht. – Am 10ten April hat sich die Luft gekühlt: da kommen Sie gewiß schon der Franzosen wegen, die den 10ten ihre Wahlversammlungen anfangen: wir müssen hier von ihren großen Festen und Messen wenigstens die Zahlwochen und Nach-Kirchweihen feiern. – Ach, wie beklommen hör' ich auf. – Jetzo lesen Sie weiter, aber nicht

Ihren
Viktor

Nachschreiben von Jean Paul

Guter Bruder!

Das tugendhafte Zürnen unsers Viktors wird sich bald stillen. Die Ursache, warum er (und jetzt ich) Dir die große Bekehrung unsrer unfriedlichen Triebe schriftlich berichten, ist, damit wir uns recht schämen müssen, wenn wir einmal länger poltern als eine Minute oder länger hassen als einen Augenblick. Diese umfangende Liebe begehrt ein Opfer, das zögernder hingegeben wird, als man denkt, das Opfer des selbstgefälligen Vergnügens, das der Zorn in den Anblick fremder Sünden, und die Satire in den der fremden Torheiten als einen versüßenden ZusatzDie wachsende Menschenliebe bricht dem satirischen Vergnügen an fremder Torheit immer mehr ab; die Torheit eines Busenfreundes macht uns nichts als bittern Schmerz: warum wollen wir nicht alle Menschen als Busenfreunde behandeln? mengt und an deren Stelle nur das reine Mitleiden über die ewigen Krankheitversetzungen und chronisch-blutenden Wunden und Narben der hülflosen Menschheit tritt.

Aber nun will ich mit unserer schwimmenden Insel und mit ihrem seligen Helldunkel ganz nahe vor Dein Auge rudern!

Die Sonne hatte sich über die Nebel-Alpen herumgezogen und stand weißglühend über Frankreich in Westen, gleichsam um bald als ein funkelndes Schild der Freiheit in seine Ebene, als ein Vermählung-Ring des Himmels und der Erde in sein flutendes Meer hineinzufallen. Die Abendschatten überschwemmten schon die zwei ersten Stufen des Berges, und der verfinsterte Rhein ergriff mit einem Arm der Nacht die Erde. Wir stiegen unsere kleinen Stufen hinauf, so wie die Sonne ihre großen hinabging, und sie richtete sich immerfort gegen uns aus ihrem brennenden Grabe auf mit ihrem auferstehenden Heiligenangesicht. Der Berg erhob unsere Augen und unsere Seelen. Ich nahm, an meine Fehler erinnert, Viktors Hand und sagte: »Ach, Lieber! wenn es einmal wäre, daß ein Mensch mit allen Menschen Frieden schlösse und mit sich, wenn einmal sein zerrüttetes Herz mitten im Sauerteige der hassenden und gehaßten Welt nur den milden süßen Lebensaft der Liebe auffaßte und bewahrte, wie die Auster mitten im Schlamm nur helles reines Wasser in ihr Gehäuse nimmt; ach, wenn er das voraus wüßte: dann könnte wohl ein froher Abend wie dieser seine dürstende zerlechzte Brust erquicken und füllen und den ewigen Seufzer befriedigen.« – Viktor antwortete (aber er schauete sich nicht um, sondern hielt sein glänzendes und beglänztes Angesicht, das sein menschenliebendes Herz mit dem Rote eines wärmern Blutes übergoß, bloß gegen die halb aus der Erde brennende Sonne gekehrt): »Vielleicht werden wir es können – wir werden überall glücklich sein, wo ein Mensch lächelt, sollt' ers auch nicht verdienen – wir werden nicht mehr aus Pflicht der höflichen Verleugnung, sondern aus Liebe freundlich mit jedem Bruder sprechen, und für Herzen, die keine innre Entrüstung mehr zu decken haben, wird es keine verwickelte Lage mehr geben. – – Ruhet die Frühlingsonne heute nicht wie ein gebrochnes Mutterauge über ihrer Welt und blicket warm an alle Herzen, an böse und gute? – Ja, du Ewiger, wir alle hier geben jetzt allen deinen Wesen unsre Hand und unser Herz, und wir hassen nichts mehr, was du geschaffen hast.«


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