Jean Paul
Siebenkäs
Jean Paul

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Durch meine Abschiedrede an die Tochter ärgert' ich ihn leider noch einmal, weil ich ihr und ihm einerlei wünschte, um zu verbergen, wem ich wünschte: »Ich sage Ihnen, Hr. Zopfhaupt und Mademoiselle, ein langes Lebewohl – ich werde Ihnen beiden keine meiner Lebenbeschreibungen in elysischen Abenden ohne Abschweifungen mehr erzählen können, und die hl. Abende und die hl. Tage werden vorübergehen, ohne daß ein Mann ins Haus tritt, der Sie beide sehr rührt. Das Schicksal erstatte beiden die Büchermacher durch Bücher – es gebe dem trägen Herzen zuweilen einen poetischen Schlag, der stillen Brust einen süßen Seufzer, der sie mit Ahndungen schwellt, Ihren beiden Augen einige Tropfen, wie sie ein Andante auspreßt, und führe Sie aus dem heißen Sommer voll Mühe statt in einen Nachsommer in einen blühenden singenden Lenz... Und gute Nacht!« –

– Und wär's mein Erbfeind: er würde mir nahe gehen, wenn ich beim Abschiede dächte: du siehst ihn nicht mehr. Pauline war eigentlich keine Erbfeindin. – Draußen auf den Gassen liefen noch mehre Neujahr-Gratulanten, die Nachtwächter, herum, die ihre Wünsche in Blas-Musik setzten und in schlechte Verse. Mich bewegt allezeit ein steifer altväterischer roher Vers, zumal aus einem ihm angemeßnen Munde, inniger als ein saftloser neuer mit elenden Eis- und Federblumen, und eine ganz elende Poesie ist besser als jede mittelmäßige. Ich beschloß, zum Tore hinauszugehen und die Brust voll sehr unähnlicher Bewegungen – eben weil es erst 11 Uhr und die kalte Nacht voll Sterne war – und weil es die letzte des Jahrs war und ich in das neue nicht wie in das zweite Leben schlafend übergehen wollte, sondern wachend – ich beschloß, die schlagende erhitzte Brust ins Freie in einen stillern Zirkel zu tragen...

Wenn man einen Menschen in eine unabsehliche leere Sarawüste laufen ließe – und ihn nachher wieder in die engste Ecke drückte: so würde ihn dasselbe sonderbare Gefühl seines Ich anfallen – der größte und der kleinste Raum beleben gleich sehr das Bewußtsein unsers Ich und seiner Verhältnisse. Nichts wird überhaupt öfter vergessen als das, was vergisset, das Ich. Nicht bloß die mechanischen Arbeiten der Handwerker ziehen den Menschen ewig aus sich heraus: sondern auch die Anstrengungen des Forschens machen den Gelehrten und den Philosophen ebenso taub und blind gegen sein Er und dessen Stand unter den Wesen; ja noch tauber und blinder. Nichts ist schwerer, als einen Gegenstand der Betrachtung, den wir allzeit außer uns rücken und vom innern Auge weit entfernen, um es darauf zu richten, zu einem Gegenstande der Empfindung zu machen und zu fühlen, daß das Objekt das Auge selber sei. Ich habe oft ganze Bücher über das Ich und ganze Bücher über die Buchdruckerkunst durchgelesen, eh' ich zuletzt mit Erstaunen ersah, daß das Ich und die Buchstaben ja eben vor mir sitzen.

– Der Leser sei aufrichtig: hat er nicht sogar jetzo, da ich darüber zanke, vergessen, daß er hier Buchstaben vor sich hat und sein Ich dazu? –

Aber draußen unter dem schimmernden Himmel und auf einem Schneeberge, um den eine gestirnte weite starre Fläche glimmte, riß sich das Ich von seinen Gegenständen ab, an denen es nur eine Eigenschaft war, und wurde eine Person, und ich sah mich selber. Alle Zeit-Absätze, alle Neujahr- und Geburttage heben den Menschen hoch über die Wogen um ihn heraus, er wischt die Augen ab und blicket im Freien herum und denkt: »Wie trieb mich dieser Strom und übertäubte mein Gehör und überflutete mein Gesicht! – jene Fluten drunten haben mich gezogen! Und diese oben, wenn ich wieder untertauche, wirbeln mich dahin!«

Ohne dieses helle Bewußtsein des Ich gibt es keine Freiheit und keine Gleichmütigkeit gegen den Andrang der Welt.

Ich will in meiner Erzählung fortfahren. Ich stand auf einem Eisberge, obwohl mit einer glühenden Seele – der zerspaltne Mond schien hell hernieder, und die Schattenstücke der Tannenbäume um mich lagen wie zerstückte Glieder der Nacht schwarz auf dem Liliengrund aus Schnee. – Drüben, weit von mir, knieete, wie es schien, ein Mensch unbeweglich auf der Straße.

Jetzt schlug es 12 Uhr und das schlachtenvolle Jahr 1794 fiel mit seinen Strömen von Blut in das Meer der Ewigkeit; das nachsummende Wogen des Glockentons sagte mir gleichsam: jetzo hat das Schicksal euch Hinfälligen das alte Jahr mit dem 12ten Schlage bei der Versteigerung von Minuten zugeschlagen.

Der knieende Mensch auf der Straße stand nun auf und ging eilig davon. Ich konnte im hellen Mondlicht ihm und seinem Schatten lange nachsehen.

Ich verließ meinen Berg, den Grenzhügel zwischen zwei Jahren, und ging hinunter auf die Straße, wo der Mann geknieet hatte. Ich fand einen Kreuzweg und ein verlornes handdickes schwarzledernes Gebetbuch in Duodez, dessen Blätter gelb gelesen waren. Auf dem einzigen weißen vornen stand der Name des Besitzers, dessen Kniee hier tiefe Spuren in das harte Glatteis gehöhlt hatten. Ich kannt' ihn wohl, es war ein sogenannter Häusler, der zwei Söhne in den jetzigen Krieg stellen müssen. Als ich weiter nachsah: fand ich im Schnee einen Kreis, den der Furchtsam-Kecke als einen Ring gegen böse Geister gezogen hatte.

Ich erriet alles: der Blödsinnige, dessen Seele in einer ringförmigen Sonnenfinsternis lebte, wollte in der feierlichen Nacht das ferne dumpfe Donnern der Gewitter in der Zukunft behorchen und hatte sich nicht mit dem Körper, sondern mit der erniedrigten Seele auf die Erde gelegt, um den Vorschritt der fernen Feinde zu hören. »Eingeschränkte bange Seele«, dacht' ich, »warum sollen über die heitre stille Nacht die künftigen Toten mit ihren Wunden ziehen und deine schlafenden Söhne ohne Glieder? Warum willst du schon die fliegenden Flammen der Feuerbrünste sehen und alles düstre Getümmel des ungebornen Jammers, der noch keine Zunge hat, vernehmen? Warum sollen auf die Särge, die im künftigen Jahre noch, wie in Pestzeiten, ohne Aufschrift stehen, die Namen kommen? – O, dein Salomons-Ring hat dich nicht beschirmt gegen den würgenden Geist in unsrer Brust. – Und die ungestalte Riesen-Wolke, hinter der der Tod und die Zukunft steht, wird, wenn wir nahe an sie treten, der Tod und die Zukunft selber.«... –

In solchen Stunden legen wir alle gern unsern Hut und unsern Degen auf die Bahre und uns dazu – die veralteten Narben brennen noch einmal, und unser falsch geheiltes Herz wird wie ein übel eingerichteter Arm wieder gebrochen. – Aber der grausame schneidende Blitz einer großen Minute, dessen Widerschein über den ganzen Strom unsers Lebens leuchtet und reicht, ist uns nötig, um uns gegen die Irrlichter und Johanniswürmchen, die uns in jeder Stunde antreffen und führen, blind zu machen, und der leichtsinnige Mensch hat eine heftige Erschütterung gegen seine kleinen immerfort nagenden Bewegungen nötig. Daher ist eine Neujahrnacht für uns kleine Schaltiere, die am Schiffe der Erde saugend kleben, wie die mythologische Nacht eine Mutter vieler Götter in uns – und in einer solchen Nacht geht für uns ein höheres Normaljahr an als das, darin 1624 anfing. Und mir war, als müßt' ich, es sei aus Demut oder Reue, in die Spuren des armen kinderlosen Vaters niederknieen...

Jetzo trieb ein lebendiges Wehen auf einmal von der Stadt helle erheiternde Töne wie Blumenduft und Blütenstaub über die verhärteten Ebenen daher: Waldhörner und Trompeten warfen vom Turme der Stadt ihre lebendigen Töne über die schlafende Welt und führten froh und kräftig die erste Stunde des neuen Jahrs unter die ängstlichen Menschen ein. Und ich wurde auch froh und kräftig: Ich hob das Auge vom weißen Schleier des künftigen Frühlings auf und sah nach dem Monde; und auf seinen häufigern Flecken, welche in der Nähe grünenNach Schröters Beobachtungen stellen sich uns die grünenden Strecken des Mondes als Flecken dar, weil sie weniger Licht zurückwerfen als kahle weiße. , sah ich unsern Erden-Frühling in Blumen ruhen und darin mit ausgebreiteten Flügeln zucken, um bald mit andern Zugvögeln zu uns, mit Lerchentönen und Pfauenspiegeln geschmückt, herabzufallen. –

Die entfernten Neujahrtöne flatterten noch immer um mich; ich wurde viel glücklicher und weicher und sah die künftigen Schmerzen des neugebornen Jahrs, und sie glichen – so schön verkleideten sie sich – einigen vergangnen oder den Tönen um mich. So nimmt der Regen, der durch die große Höhle im Gebirge von Derbyshire fällt, in der Ferne den Klang von melodischem Getöne anS. Moritz Reise durch England. .

– Aber als ich umhersah und mir die weiße Erde wie eine weiße Sonne vorkam und der stille, vom tiefen Blau berührte Kreis um mich wie ein Familien-Zirkel verschwisterter Wesen – als die Töne, wie schönere Seufzer, meinen Gedanken nachfolgten – als ich am Sternenhimmel so viele tausend unverrückte Zeugen der schönen abgeblühten Minuten, deren Samen die höhere Güte weiter streuet, dankbar anschauete – als ich an die schlafenden Menschen um mich dachte und ihnen wünschte: »schließet froher morgen eure Augen auf« – und als ich an die wachenden unter mir dachte, deren eingeschlafne Seele denselben Wunsch bedarf: da wurde die Brust, die so schöne Töne und die heutige Nacht längst beklemmten, nun zu voll und zu schwer, und der blaue Himmel und der blitzende Mond und die flimmernden Berge aus Schnee flossen und sanken zusammen zu einem großen schwimmenden Schimmer. – – Und im Schimmer und unter dem Getöne hört' ich die Stimmen meiner Freunde und guter Menschen, wie sie einander bang' und weich die Wünsche eines frohen neuen Jahrs brachten; aber ihre rührten mich zu sehr, und ich konnte meinen kaum denken: »O, es geh' euch allen wohl in jedem Jahre!«


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