Jean Paul
Siebenkäs
Jean Paul

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Dreizehntes Kapitel

Die Uhr aus Menschen – Korbflechterin – der Venner

Als ich im vorigen Kapitel von Kurzschläferinnen sprach, die um sechs Stunden früher erwachen als ihre Gegenfüßlerinnen: so tat ich, glaub' ich, wohl, daß ich das Modell einer von mir längst erfundenen Uhr aus Menschen, das ich im 12ten Kapitel nicht unter die eng aneinander stehenden Begebenheiten schieben wollte, auf das 13te aufsparte; in das trag' ichs herein und stell' es auf. Ich glaube, Linnés Blumenuhr in Upsal (horologium florae), deren Räder die Sonne und Erde, und deren Zeiger Blumen sind, wovon immer eine später erwacht und aufbricht als die andere, gab die geheime Veranlassung, daß ich auf meine Menschen-Uhr verfiel. Ich wohnte sonst in Scheerau, mitten auf dem Markt, in zwei Zimmern; in mein vorderes schauete der ganze Marktplatz und die fürstlichen Gebäude hinein, in mein hinteres der botanische Garten. Wer jetzo in beiden wohnt, hat eine herrliche vorherbestimmte Harmonie zwischen der Blumenuhr im Garten und der Menschenuhr auf dem Markt.

Es ist 3 Uhr, wenn sich der gelbe Wiesenbocksbart aufschließet, ferner die Bräute, und wenn der Stallknecht unter dem Zimmer-Mietmann zu rasseln und zu füttern anfängt. – Um 4 Uhr erwachen (wenns Sonntag ist) das kleine Habichtkraut und die heiligen Kommunikantinnen, welche Sing-Uhren sind, und die Bäcker. – Um 5 Uhr erwachen die Küchen- und Viehmägde und Butterblumen – Um 6 Uhr die Gansdisteln und Köchinnen – Um 7 Uhr sind schon viele Garderobejungfern im Schlosse und der zahme Salat in meinem botanischen Garten wach, auch viele Kauffrauen – Um 8 Uhr machen alle ihre Töchter, das gelbe Mausöhrlein, die sämtlichen Kollegien die Blumen-, Kuchen- und Aktenblätter auf – Um 9 Uhr regt sich schon der weibliche Adel und die Ringelblume; ja viele Landfräulein, die zum Besuche kamen, sehen schon halb zum Fenster hinaus – Um 10, 11 Uhr reißen sich Hofdamen und der ganze Kammerherrenstab und der Rainkohl und der Alpenpippau und der Vorleser der Fürstin aus dem Morgenschlafe, und das ganze Schloß bricht sich, weil die Morgensonne so schön vom hohen Himmel durch die bunte Seide glimmt, heute etwas Schlummer ab – Um 12 Uhr hat der Fürst, um 1 Uhr seine Frau und die Nelke in ihrer Blumen-Urne die Augen offen. – Was noch spät abends um 4 Uhr sich aufmacht, ist bloß das rote Habichtkraut und der Nachtwächter als Kuckuckuhr, die beide nur als Abenduhren und Monduhren zeigen. Von den heißen Augen des armen Teufels, der sie erst um 5 Uhr aufschließet, wie die Jalape, wollen wir unsere Augen traurig wegwenden; es ist ein Kranker, der solche eingenommen, und der die mit glühenden Zangen zwickenden Fieberbilder bloß mit wachen Stichen vertauscht. – –

Wenns 2 Uhr war, konnt' ich nie wissen, weil da ich (samt tausend dicken Männern) und das gelbe Mausöhrlein miteinander einschliefen; aber um 3 nachmittags und um 3 am Morgen erwacht' ich als eine richtige Repetieruhr.

So können wir Menschen für höhere Wesen Blumen-Uhren abgeben, wenn auf unserem letzten Bette unsere Blumenblätter zufallen – oder Sand-Uhren, wenn die unsers Lebens so rein ausgelaufen ist, daß sie in der andern Welt umgekehrt wird – oder Bilder-Uhren, weil in jene zweite, wenn hier unten unsere Totenglocke läutet und schlägt, unser Bild aus dem Gehäuse tritt – – sie können in allen solchen Fällen, wo 70 Menschenjahre vorüber sind, sagen: »Schon wieder eine Stunde vorbei! Lieber Gott, wie doch die Zeit verläuft!« –

Das seh' ich an dieser Abschweifung. – Firmian und Heinrich traten heiter in den benachbarten lauten Morgen, aber jener konnte den ganzen Vormittag auf keinem Sessel und Stubenbrette einwurzeln; die opera buffa e seria seines Lug-Todes zog immer vor seiner Seele ihren Vorhang auf und zeigte ihre burlesken Auftritte. Er war nun, wie allemal, humoristischer durch Leibgebers Gegenwart und Vorbild geworden, der über ihn durch seine innere Ähnlichkeit regierte. Leibgeber, der schon vor vielen Wochen alle Kulissen und Bühnenverschiebungen des Vexier-Sterbens mit der Phantasie erschöpfend ausgewandert hatte, dachte jetzo wenig daran; sein Neues war der Vorsatz, aus Rosas Brautfackel, die schon gegossen und angestrichen war, den Dacht herauszuziehen, die Braut. Heinrich war überall ungestüm, frei, kühn, ergrimmend und unversöhnlich gegen Ungerechtigkeiten; und dieser moralische Ingrimm nahm, wie hier in Rosas und Blaisens Sache, zuweilen zuviel vom Schein der Rachsucht an. Firmian war milder und schonte und vergab, oft sogar auf scheinbare Kosten seiner Ehre; er wäre nicht imstande gewesen, der schönen Natalie den brieflichen Geliebten mit Heinrichs englischem Schlüssel oder Pelikan aus der blutenden Seele zu ziehen. Sein Freund mußte, als er heute in Fantaisie zu ihr ging, das Versprechen der weichsten Behandlung und des vorläufigen Schweigens über die Kgl. preuß. Witwenverpfleganstalt zurücklassen. Allerdings hätt' es Nataliens Ehrgefühl blutig versehret, wenn man ihre moralische Trennung vom unmoralischen Venner auch nur von weitem in irgendeine Zusammenstellung mit einem metallischen Ersatze einer geistigen Einbuße hätte bringen wollen; sie verdiente und vermochte zu siegen, bei der Aussicht, zu verarmen.

Spät kam Heinrich wieder, ein wenig mit verworrenem Gesicht, aber doch mit einem erfreueten. Rosa war verworfen – und Natalie verwundet. Die Engländerin war in Ansbach bei der Lady Craven und aß die Butter mit, die die letztere noch außer den Büchern machte. Als er dieser Römerin – so hieß die Britin Natalien gewöhnlich – das ganze schwarze Brett und Sündenregister des Venners vorgelesen hatte, zwar ernsthaft, aber ein wenig laut und treu: so stand sie in dem großen Anstand, den die aufopfernde Begeisterung annimmt, auf und sagte: »Wenn Sie hierin so wenig getäuscht wurden, als Sie täuschen können; und wenn ich Ihrem Freunde so viel glauben darf als Ihnen: so geb' ich Ihnen mein heiliges Wort, daß ich mich zu nichts zwingen oder bereden lasse. Aber in einigen Tagen kommt der Gegenstand ja selber, dem ich so gut wie meiner Ehre schuldig bin, ihn zu hören, da ich meine Briefe in seine Hände gegeben. Aber wie hart ists, daß ich so kalt sprechen muß!« Von Minute zu Minute erlosch auf ihrem glühenden Gesicht das Rosenrot immer mehr in Rosenweiß; sie stützte es auf ihre Hand, und als die Augen voller wurden und endlich tropften, sagte sie fest und stark: »Kehren Sie sich daran nicht; ich halte Wort. Dann reiße ich mich, was es mir auch koste, von meiner Freundin ab und kehre nach Schraplau in meine arme Verwandtenwelt zurück. Ich habe ohnehin in der vornehmen Welt lange genug gelebt, doch nicht zu lange.« Heinrichs seltner Ernst hatte sie überwältigt. Sie setzte in seine Rechtschaffenheit ein unerschütterliches Vertrauen, bloß weil er – ein sonderbarer Grund! – bisher sich nicht in sie verliebet, sondern nur mit ihr befreundet hatte, ohne mithin ihre Foderungen ans Herz durch seine – einzuschränken. Sie würde vielleicht auf den verheirateten Fiskal ihres Bräutigams, auf Firmian, gezürnet haben, wären ihm drei oder vier der besten Entschuldigungen abgegangen – nämlich seine geistige Ähnlichkeit mit Leibgeber überhaupt, dann seine physiognomische, welche sich vollends durch die Blässe so sehr verklärte, ferner sein rührendes Abendblatt und endlich ein ganzes mildes liebevolles Wesen. Die gestrige Bitte, ihn abends mitzubringen, tat sie nun zu Leibgebers größter Freude zum zweiten Male, so weh es ihr auch um das ganze Herz herum war. – Niemand nehme ihr aber die Halbtrauer über den untersinkenden Venner übel oder ihren Irrtum über ihn, da wir alle wissen, daß die lieben Mädchen so oft Empfindsamkeit mit Rechtschaffenheit, Briefe mit Taten und Dinten-Tränen mit einem ehrlichen warmen Blute verwechseln.

Nachmittags brachte Leibgeber den Advokaten zu ihr, gleichsam als seinen Beweis zum ewigen Gedächtnis, als seine syllogistische Figur, als seine rationes decidendi, da der Venner aus rationibus dubitandi bestand. Aquiliana empfing den Advokaten mit einem fliehenden Erröten und dann mit einem kleinen Stolze aus Scham, aber doch mit der Zuneigung, die sie seiner Teilnahme an ihrer Zukunft schuldig war. Sie wohnte in den Zimmern der Engländerin; das blühende Lusttal lag draußen davor, wie eine Welt vor einer Sonne. Ein solcher voller Lustgarten hat den Nutzen, daß ein fremder Advokat den Spinnen-Faden der Rede an seine Äste leichter anzuknüpfen weiß, bis der Faden, zu einem schimmernden Kunstgewebe herumgesponnen, im Freien hangt. Firmian konnte nie jene Weltleute erreichen, die nichts brauchen, um ein Gespräch anzuspinnen, als einen Zuhörer; die wie Laubfrösche an den glättesten Dingen festzukleben wissen, worauf sie hüpfen; ja die sogar, was die Laubfrösche nicht einmal können, im luft- und sachleeren Raume sich anhalten. Aber eine freie Seele wie Siebenkäs könnte sogar an einem Hofe nicht lange von der Unbekanntschaft mit den Verhältnissen verworren bleiben, sondern sie müßte bald ihre Freiheit in ihrer angebornen Erhebung über alle Zufälligkeiten wiederfinden und durch anspruchlose Einfachheit die kunst- und anspruchvolle der Welt leicht ersetzen.

Gestern hatt' er diese Natalie im heitersten Genusse ihrer Kräfte und der Natur und der Freundschaft lächeln und zaubern und sie den schönen Abend noch mit einer Opferkühnheit krönen sehen; doch heute war so wenig von den zarten hellen Freuden übrig! In keiner Stunde ist ein schönes Gesicht schöner als in der, welche auf die bittere folgt, worin die Tränen über den Verlust eines Herzens auf ihm vorübergezogen; denn in der bittern selber würde uns die jammernde Schönheit vielleicht zu sehr betrüben und schmerzen. Firmian wäre mit Freuden für diese holde Gestalt, die das in ihr Herz getriebene Opfermesser bedeckte und gern es darin glühen ließ, um nur das Bluten zu verzögern, er wäre mit Freuden für sie auf eine ernstere Art als er vorhatte, gestorben, wenn er ihr mehr damit hätte helfen können. Kann man es denn da so außerordentlich finden, daß das Bindwerk zwischen beiden zugleich mit dem fallenden Sand im Stundenglas immer höher und dichter wuchs, sobald man nur erwägen will, daß bei einem ungewöhnlichen dreifachen Ernste – denn sogar Leibgeber geriet darein – sich jede Brust vor der Gala-Natur des Frühlings mit sanften Wünschen füllte – daß Firmian heute, mit seiner bleichen, kränklichen, von alten Kümmernissen bezeichneten Gestalt, gefällig und wie Abendsonnenschein in ein halbverweintes wundes Auge fiel – daß ihr das (sonderbare) Verdienst ihn anempfohl, ihrem Treulosen wenigstens einige Untreuen vergället und verbauet zu haben – daß er alle seine Töne aus der Molltonleiter eines sanften Herzens aussuchte, weil er es vergüten und verdecken wollte, daß er dieser Unschuldigen und Unbekannten so viele Hoffnungen und Freuden auf einmal hatte verheeren müssen – und daß sogar der größere Grad von ehrender, scheuer Zurückhaltung ihn durch den Kontrast, den er mit seinem Ebenbilde, dem vertraulichen Heinrich, machte, verschönerte? – Diese Reize des Verhältnisses, die der weiblichen Welt mehr abgewinnen und abnötigen als die verkörperten beleibten, hatte der Advokat sämtlich in Nataliens Augen. Sie hatte in den seinigen noch größere und lauter neue: ihre Kenntnisse – ihre männliche Begeisterung – ihren feinern Ton – und ihre schmeichelhafte Behandlung, mit der ihn vorher noch keine Schöne verherrlicht hatte, ein Reiz, der viele eines weiblichen Umgangs ungewohnte Mannspersonen nicht bloß bis zum Entzücken, sondern bis zur Ehe hinreißet – und noch die zwei letzten und größten Schönheiten, daß die ganze Sache zufällig und ungewöhnlich war, und daß Lenette überall davon die Gegenfüßlerin war. –

Darbender Firmian! An deinem Lebenflüßchen steht, wenn es auch zu einem Perlenbach wird, immer eine Galgen- und eine Warntafel! – In einer solchen warmen Temperatur, wie deine jetzo war, mußte dir der Ehering zu eng anliegen und dich kneipen, wie überhaupt alle Ringe in warmen Bädern pressen, und in kalten schlottern.

Aber irgendeine teuflische Najade oder ein ränksüchtiger Meergott hatte die größte Freude, Firmians Lebens-Meer, wenn es gerade von einigen phosphoreszierenden Seetieren oder von einer unschädlichen elektrischen Materie reizend leuchtete, und wenn sein Schiff darin eine schimmernde Straße hinzog, umzurühren und zu trüben und zu verfinstern; denn eben als das Vergnügen und die äußere Gartenpracht immer höher wurde – und die Verlegenheit kleiner – die schmerzlichen Erinnerungen an den neuen Verlust versteckter – als schon das Fortepiano oder das Fortissimopianissimo und die Singstücke aufgemacht waren – kurz, als die Honiggefäße ihrer Freuden-Orangerie insgesamt und erlaubte ägyptische Fleischtöpfe und ein weiter Abend- und Liebesmahls-Becher offen war: so sprang mit zwei Füßen nichts Geringers hinein als eine große Schmeißfliege, die schon öfters in Firmians Freudenbecher geflogen war.

Der Venner Everard Rosa von Meyern trat ein, anständig in Safran gekleidet, um seiner Braut das Gesandten-Recht des ersten Besuchs zu geben...


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