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XVII.

Auf dem Stuhl neben Dr. Splitterichts Pult saß die alte Frau Selle, die zur Vernehmung vorgeladen war. Sie hatte ihre beiden Krücken hinter sich an die Wand gelehnt und erzählte munter drauf los mit ihrem freundlichen, alten Gesicht, das in seinem lebhaften Mienenspiel in einem fast jugendlichen Gegensatz stand zu dem gebrechlichen Körper.

»Seh'n Se,« sagte sie, »seh'n Se, Herr Kommissar, ick kann ja so jut wie nischt mehr tun! Wenn man so achtunsiebzig is un so sein janzet Leben hintern Waschzuber jestanden hat ... da sind de Knochen miede ... un denn ewig in det kalte Wasser pantschen ... seh'n Se doch!«

Sie zeigte ihre braunen, von der Gicht verkrümmten Hände.

»Ick kann ja kaum noch wat anfassen! ... Die Beene, mit die is't ooch alle, da hab' ick zweemal 'n Schlaganfall jehatt, erscht uff de linke un denn uff de rechte Seite ... un, nu humple ick an meine Krücken jeden Morjen, wenn't Wetter scheen is, uff de Straße un setz' ma dahin in de Sonne, un laß mir so recht scheen von ihr anwärmen!«

»Und so saßen Sie auch am 14. April vor der Tür? ... War es denn ein schöner Tag, daß Sie draußen sitzen konnten? ... Und woher wissen Sie, daß es gerade der 14. April war, an dem Sie das beobachtet haben wollen?«

Die Alte hob die runzlige Hand mit dem verkrümmten Zeigefinger und lachte pfiffig:

»Der vierzehnte April, det is vor mir 'n kritischer Tag erster Ordnung, Herr Kommissar! Da hab' ick mein' Mann kennenjelernt! Un det olle Unjewitter, Jott hab'n selig, wenn er ooch nie nich ville jedoogt hat, der sagte immer zu mir: »Amalie!« sagte er – denn er jab wat uff 'ne feine Aussprache – »det verjesse nie nich, det wir an 14. April zum erstenmal bei Puhlmanns jedanzt haben!« ... Ja, un denn is ooch unser Jretchen jeboren an 14. April ... un wie se'n mir nach Hause jebracht haben, weil er von' Steenwagen jekippt is, in sein Suff, un de Räder über'n weg, un war mausedod uf de Stelle, det war ooch an 14., aber in September ... nich wahr, wie kann ick 'n da so'n Datum verjessen!«

Der Kommissar nickte voller Verständnis. Er gehörte nicht zu denen, die sich jeden Einblick in das Innenleben des Befragten von vornherein dadurch verschließen, daß sie nur fragen und immer nur das wissen wollen, was sie interessiert; Dr. Splittericht wußte, daß man von den kleinen Leuten besonders dann am meisten erfährt, wenn man sie, selbst ein bißchen weitschweifig und auf Umwegen, auf dem eigenen Gedankengang zu ihrem Ziel kommen läßt. Er nickte also und fragte:

»Und wie Sie da so saßen ... um welche Zeit war denn das ungefähr?«

»Det war eben zehne ... de Kirchenuhr hatte jrade jeschlagen un denn war ick ja ooch man eben 'runterjekommen, un vor halb komm' ick doch nich wech.«

»Und da saßen Sie und sahen, wie der Milchmann aus dem Hause herauskam und ...«

»Jawoll, Herr Kommissar ... so war't! ... Der Milchmann kam 'raus, ick jloobe, er heeßt Lehmann un is aus Marienfelde ... un denn mit ihm kam de Kruschken, wat die Portiersche is, die dut doch den janzen, jeschlagenen Dach nischt anders, wie 'rumloofen und klatschen ... un denn die Frau Adelband aus Nummer 19 ... die bei die Ermordete die Uffwartestelle jehatt hat ... die ihr Mann arbeet' uff de Likörfabrike un is ooch immer blau ... un Kinder hat se keene, da nimmt se denn so'ne Stellen an! ...«

»Die Portierfrau ging dann wieder zurück ... Was war nun? ... wer kam nun?«

»Na nu kam der Herr ... der kam aus't Haus 'raus ...«

»Wie saßen Sie denn? ... Saßen Sie rechts vom Haustor oder links davon?«

»Nee, ick sitze immer rechts ... weil doch links der Schusterladen is ... da sitz' ick denn uff mein kleenen Stuhl mit's Kissen druff und lehne mir an ... manchmal, da les' ick ooch 'n bißken in de Zeitung, ... aber die mehrschte Zeit kuck' ick so, wat los is, denn los is ja immer wat! ...«

»Und da trat also der Herr aus der Haustür ... Wollte er nun nach Ihnen zu gehen? ... Bog er nach Ihrer Seite um?«

»Ja, zuerscht ja! ... Aber wie er mir denn merkte un sah, det ick dasitze un beobachte ihm, da dreht er plötzlich wieder um und jing ab nach Borke!«

Auf des Kommissars etwas erstaunten Blick setzte sie hinzu, mit einem halben Lächeln:

»Ach, det is man so'ne Redensart! ... Ick meene, er drehte mir 'n Rücken zu und trudelte wech ... Aber det hatte ja nu natürlich jakeen Zweck nich mehr! Ick hatt 'n doch jesehn! Un wenn ick mal erscht een in't Ooje jefaßt habe, der kann machen, wat er will! Den behalt' ick un kenne ihm ooch wieder ... nach Jahre noch!«

Der Kommissar nickte.

»Sie würden also den Mann unweigerlich wiedererkennen ... wie sah er denn aus?«

»Na, er trug so'n Schwalbenschwanz ...«

»'n Frack?«

»Ach Jott bewahre! Den tragen bloß die Kellners! ... Wat der trug, det war so'n vorne schräg abjeschnittener Rock, wie se jetz' so modern sind ... un dazu hat er 'ne dunkle Hose anjehabt, ob se jrade janz schwarz war, det weeß ick nich ... aber er hatte 'ne Tiete in de Hand ...«

»Konnte man der Form nach etwa vermuten, was in der Tüte drin war?«

Die alte Frau hob ihre mageren Schultern.

»Det is schwer zu sagen ... Wissen Se, Herr Kommissar, 'ne Tiete is 'ne Tiete ... un wenn man nicht rinkucken kann! ... Aber det hab' ick jesehn: 'ne Zuckertiete war et nich, se war jroß un aus so'n leichtet, knittrijet Papier ...«

»Und die Form? ... Sah sie etwa so aus, als ob ein Hut drin wäre? ... Ein Herrenhut ... ein Zylinder vielleicht?«

Die Alte wandte sich mit einem Ruck nach rechts und sah den Kommissar groß und verwundert an.

»Ja, woher wissen Sie denn det? ... Sie waren doch janich dabei! ... Jewiß! ... Ja ... det war 'ne Tiete, wie se se in de Hutjeschäfte haben ... Wie meine Enkeltochter, die Lucje, sich neulich 'n Hut jekooft hatte, da war er ooch in so'ne Tiete! ...«

»Und auf dem Kopf trug der Mann eine Mütze?«

»Janz recht, so'ne jraue aus jlänzenden Stoff mit kleene Karos ...«

»Und eine Brille hatte er auf?«

Mit heftiger Bewegung verneinte die alte Frau diese absichtlich so gestellte Frage:

»Aber nee, Herr Kommissar, im Jejenteil, er hatte janischt uff ... det hätt' ick doch sehen müssen, wenn er wat uf de Neese jehabt hätte ...«

Der Kommissar suchte im Schubfach seines Schreibtisches und holte dort ein Monokel hervor, das er ins Auge klemmte.

»Hat der Mann vielleicht solch Glas getragen?«

Die Alte sah ihn unsicher an.

»So eens? ... nee ... Aber ick kann's nich sagen, Herr Kommissar, ... De Sonne schien so, un hat mir woll jeblendet ... wer weeß ...«

»Aber Lackstiefel hatte er an?«

»Ja, un so'n weißet Vorhemde, det blitzte ordentlich!«

»Wie sah denn das Gesicht aus? ... Haben Sie das gesehen?«

Der Kommissar wußte, daß da, bei der Schilderung der Gesichtszüge, auch die genauesten Zeugen versagen; einfach aus dem Grunde, weil es schon eines hohen Grades von Intelligenz, ja von künstlerischer Begabung bedarf, sich die Linien eines Menschenangesichts so einzuprägen, daß man sie später noch im Geiste sieht; und weil es noch schwieriger und darum die Fähigkeit noch seltener ist, das Geschaute vor dem Hörer wieder lebendig werden zu lassen.

Die alte Frau versagte hier vollkommen.

Dr. Splittericht meinte:

»Es ist eine Belohnung von 3000 Mark auf die Ergreifung des Mörders ausgesetzt. Wenn es gelingt, ihn mit Ihrer Hilfe, nach der von Ihnen gegebenen Beschreibung, mein' ich, wenn auf diese Art der Mörder gefaßt wird, so muß Ihnen ein Teil der Belohnung zugesprochen werden, Frau Selle! ... Dafür werde ich sorgen ...«

Der Alten bemächtigte sich eine große Aufregung; sie fing an, mit ihren gichtigen Händen auf der blaugemusterten Schürze fahrig hin und her zu tasten, und ganz ängstlich fragte sie:

»Also ... also, Herr Kommissar, wie viel ... wie viel würde ick denn da woll kriejen?«

Dr. Splittericht, den das Geld so wenig lockte, der deshalb auch die Geldgier, die bei hoch und niedrig gleichermaßen die Krallen reckte, am wenigsten begriff, der sah auf sein Protokoll und erwiderte gleichmütig:

»Vielleicht den dritten, vielleicht auch nur den vierten Teil der Summe, je nachdem, wie viele Leute sonst noch an der Ergreifung des Schuldigen beteiligt sind ... Polizeibeamte haben keinen Anspruch auf die Belohnung.«

»Ja wissen Se,« die Alte lachte trocken und hüstelte verlegen, »wissen Se, Herr Kommissar ... ich mecht' et so jerne for mein Enkelchen, for die Lucje haben, die hat nämlich eenen von der Marine, un wenn da keen Jeld nich da is, denn kenn' se nich heiraten! ... Se hat ja wat jespart, aber et reicht doch nich! ... et reicht doch noch nich! ...«

Der Kommissar nickte nur:

»Aber wie der Mann aussah, daran können Sie sich nicht erinnern?«

Da, unter der gewaltsamen Anstrengung ihres alten Herzens, das dem geliebten Enkelkind ein Lebensglück sichern wollte, kam es über die alte Frau wie Eingebung und Erleuchtung ... Der vertrocknete Quell ihres Gedächtnisses sprang auf, ihre Pupillen weiteten sich, ihr Blick wurde starr; und mit einem Gefühl grausiger Bewunderung sah der Kommissar in das Gesicht einer Fernsehenden, deren wegmüder Geist, durch das Unwirkliche irrend, in der Vergangenheit Ort und Stunde nach den verlorenen Eindrücken abtastete ...

Die braunen Hände mit den krummen Fingern griffen krallig in die Luft, der welke Mund wollte Worte formen und, nur halb hörbar, murmelte sie:

»... So'ne Schatten um die Augen, wie bei'n Doten ... un der Mund so zu ... janz fest ...« sie preßte ihren Mund in die Breite ziehend, die Lippen streng aufeinander, »... un janz blaß ... janz blaß war er ...«

Die zu große Anstrengung des Mütterchens wich der Erschlaffung. Sie begann zu zittern und zu weinen.

Mit geheimem Schauder war ihr der Kommissar gefolgt ins Unsichtbare ... Es gab für ihn keinen Zweifel mehr, er irrte sich nicht! ... er kannte jetzt auch den Mörder! ...

So half er der Alten durch freundliche Rede und mit einem Glas Wasser, sich beruhigen. Dann entließ er sie mit dem Trost, ihr werde sicher ein Teil der ausgesetzten Belohnung zufallen.

Sie lachte und weinte und wollte seine Hand nicht loslassen, als er die auf ihren Krücken Humpelnde sanft zur Tür hinausschob.


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