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XIII.

Der Kommissar befand sich indessen in einer leise geführten, sehr interessierten Unterhaltung mit Frau Dorée.

»Sie haben mir diesen Brief geschrieben?«

Er zeigte verstohlen den grauen, duftenden Bogen.

Sie schüttelte ihren Kopf, der ehemals von einer kühnen Schönheit gewesen sein mußte.

»Ich denke nicht daran!«

»Wirklich nicht?«

»Aber, lieber Doktor, Sie sollten mich doch kennen. Ihnen persönlich tu' ich gern 'mal einen Gefallen, weil Sie trotz Ihres entwürdigenden Berufs ein guter Mensch sind und nebenbei klüger als die anderen ... Ihre Behörde – na, Sie wissen ja, wie ich darüber denke!«

»Aber sollen denn die Herren Verbrecher uns schließlich mit Haut und Haaren auffressen?«

»Die wirklichen Verbrecher sitzen ganz wo anders! ... Das sind die, die Hunderttausende jährlich mit der kalten Guillotine abschlachten, die die Männer in ihren Arbeitshöllen verelenden lassen, die Frauen mit der Heimarbeit zugrunde richten, die die armen Mädchen erst in die Schande hineinzerren und nachher ihre Sittenpolizei drauf hetzen, ja, die selbst Kinder auf tausend Arten verderben und dran schuld sind, daß ungezählte, die kaum geboren sind, schon wieder die dunkle Straße hinab müssen ... Das sind die Halunken, eure widerwärtigen, dickgefressenen Bourgeois, die sich obendrein den Tugendmantel umhängen und auf jeden spucken, der nicht ebensolch jammervoller Heuchler ist wie sie selber!«

Das starke, männliche Gesicht der Frau, über dessen dunkle Augen mächtige, fast weiße Brauen im stolzen Bogen standen, loderte von Verachtung; was mußten diese Augen gesehen haben, was dieses mutige Herz erlebt haben, um so an die letzte Grenze des Zornes und des Hasses gegen alles, was Gesellschaft hieß, zu gelangen! ...

Der Kommissar wußte von ihr, daß ihr Gatte, der Arzt war, sich erschossen hatte, weil er nicht gegen Entgelt, sondern aus tiefem Mitgefühl heraus Frauen dem Gesetz zuwiderlaufende Dienste geleistet hatte ... Der Mann war aus dem Leben gegangen, als ihm für seine Freundlichkeit und Güte entehrende Strafe sicher war.

Und die Frau, deren Idol dieser Gesetzesverbrecher gewesen war, deren Logik erlahmte vor der unerbittlichen Konsequenz der Staatsgrundsätze, die ihr das Herz zerbrochen hatten, diese Frau verlor den letzten Glauben an ihre Kaste, als die einzige Tochter, eine junge Lehrerin, von einem reichen Manne verführt, den Tod der Schande vorzog. Mit derselben Waffe, die dem Vater hinweggeholfen hatte aus dieser Welt der Widersprüche und der Erbarmungslosigkeiten, erschoß sich auch die Tochter. Von ihrer Leiche mußte man die Mutter fortreißen, um sie in eine Heilanstalt zu bringen.

Aber diese Seele war zu stark, um dem furchtbaren Anprall für immer zu erliegen; sie erwachte wieder. Und die Geheilte verschwand aus der Welt, in der jeder ihr ein Feind schien. Sie tauchte unter in die Tiefe des Elends, der Verkommenheit, selbst unberührt von der Finsternis, durch die sie wandelte, voll Mitleid und Erbarmen für die Ausgestoßenen, hilfreich und freundlich jedem, der ihr auf diesen schattenhaften Wegen begegnete.

So hatte sie der Doktor-Kommissar kennengelernt, inmitten der Lasterhaften, die in ihrer Nähe rein wurden und ihren guten Engel in der Frau sahen, die für alle Fehler wie auch für die Leiden ein so tiefes Verständnis zeigte ... Der Kommissar selbst, der mit jedem Tage seines Lebens und Wirkens mehr begriff, wie eitel und äußerlich die menschlichen Moralbegriffe waren, wie zwecklos die Bestrafung der Sünder in ihrer heutigen Form – er verstand die Frau, die von alledem nichts mehr wissen wollte.

Aber sein Empfinden war doch anders. Für ihn ergab sich aus dem rücksichtslosen Gegeneinanderstreben aller die eiserne Notwendigkeit der Gesetze und ihrer Anwendung. Er sah auch und verstand abermals den langsamen Fortschritt der menschlichen Entwicklung, dessen praktische Begriffe der geistigen Erkenntnis nicht folgen konnten. Am Ende mußte doch für jeden ein Richtpfahl der Pflicht aufgestellt sein. Ob deren Erfüllung nun vom »Wollen« oder »Nichtwollen« abhing, oder ob da das »Können« die letzte, schwer bestimmbare Grenze bildete – das waren Fragen, so ernst, so gewaltig wie das Schicksal selber, an dem keiner rütteln konnte.

So sah der Kommissar am letzten Ende doch in den Spiegel des Fatalismus; all sein Nachdenken warf ihn immer nur zurück auf den Weg, den er ging und den er gehen mußte ...

Frau Dorée beobachtete ihn, sie sah ihm an, was er dachte.

»Ihr Spintisieren nutzt Ihnen nichts, Doktor! Sie werden auch noch den Stecken nehmen und Ihre eigene Straße ziehen ... Ein braver Mann kann es da, wo Sie sind, nicht zu lange aushalten! ...«

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

»Vorläufig möchte ich meinen Mc. Duffre haben ... er soll hier gewesen sein ... Da drüben bei der roten Therese soll er gesessen haben? ...«

»Ein Amerikaner? Ein Mensch, der aussieht wie ein Gentleman und der's auch wahrscheinlich ebensogut ist wie die meisten, die sich dafür ausgeben ... hm ... ja ... ich glaube, den hab' ich gesehen ... vor 'ner halben Stunde etwa ...«

Sie sah den Kommissar an, der hörte nicht auf sie. Er blickte mit seinen scharfen Augen zu zwei Männern hin, die an der anderen Kellerseite in einer Nische saßen und eifrig miteinander sprachen. Der eine von den beiden hatte trotz der Hitze hier im Keller seinen Ulster anbehalten und den kleinen Filzhut auf dem Kopf. Dieser Kopf war nur von hinten sichtbar, aber des Kommissars Augen hingen wie gebannt an ihm.

Und wie die Augen der Frau Dorée den seinen folgten, nickte sie leise: sie hatte auch bemerkt, daß der Mensch da drüben eine schwarze Perücke trug, die sich ein wenig verschoben hatte, unter der ein kleiner Streifen blonden, kurzen Haares hervorsah.

Jetzt wandte sich der Mann mit in die Runde spähendem Blick um, und gleichzeitig hörte man die Klingel an der Kellertür gehen.

Jemand trat ein, ging durch den Lärm und Qualm rasch den Mittelgang hinauf.

Der Kommissar stand ruhig auf und trat aus der Nische. Der drüben am Tisch mit der Perücke erhob sich ebenfalls ...

Als der in den Keller getretene Gast an dem Tisch, wo die Bierfahrer saßen, vorbei wollte, standen plötzlich zwei der Kutscher vor ihm und zwei hinter ihm.

Mc. Duffre konnte noch den Revolver herausreißen, zum Schießen kam er nicht mehr. Braun hatte seinen rechten Arm gefaßt und in die Höhe gerissen! ... Da war er erledigt; die anderen hatten ihn um den Leib, bei der linken Hand, am Kopf; er war gefesselt, ehe er recht wußte, wie ihm geschah.

Alles im Keller war von den Sitzen, ein gefährlicher Lärm, Pfeifen und Johlen erfüllte die rauchige Luft, und in dem wilden Durcheinander wollte der Mann mit der Perücke sich fortschleichen, wie der Fuchs aus dem Treiben.

Da stand plötzlich ein kleiner, magerer Herr vor ihm, den Browning in der Faust, dessen Mündung sich auf die Brust des Geheimnisvollen richtete.

»Bewegen Sie sich nicht, Herr Feinglas,« sagte Dr. Splittericht, »ich muß sonst ein Loch in Ihren schönen Anzug machen! ... Braun!« rief er dann. Und der Riese brach sich rücksichtslos Bahn durch Weiber und Männer, die, fast alle zu den Gesetzlosen zählend, vor Wut knirschten, als so die Polizei in ihre Hürde brach.

»Fesseln Sie den!« Der Kommissar hielt seine Waffe, wie eingespannt, geradeaus.

Der Engländer lachte, er sprach gut Deutsch:

»Was uollen Sie von mir? Kann ich nicht trinken meine Bier in diese Restaurant? ... Aoh, ich uerde Sie nicht lassen das durchgehen ...«

Er hatte schon den kleinen Lederriemen ums Handgelenk und widersetzte sich auch nicht, ging ruhig mit, während der Amerikaner vor ihm wutschäumend sich befreien wollte.

Der ganze Keller drängte nach, wie Dieb und Hehler die Treppe hinauf mußten. Aber der Kommissar, der den Zug deckte, wandte sich, schon auf den Stufen, um und sagte deutlich:

»Geht auf eure Plätze, Leute! ... Wenn ihr nicht ruhig seid, muß ich euch alle verhaften! ...«

So ließ er erst seine Beamten zur Tür hinaus, gab Braun noch leise Weisungen und schritt dann selbst, als sei nichts vorgefallen, wieder die Treppe hinab, ging zwischen den zurückweichenden Gästen hindurch, bis ans Kellerende und setzte sich wieder in seine Nische zu Frau Dorée.

Schneller, als man hätte denken sollen, beruhigten sich die Leutchen. Und Graf Zeinfeld plauderte längst wieder mit den Mädchen, die teils ängstlich, teils böse zu dem Kommissar hinschielten, als die rote Therese herüberkam und sich an den Tisch setzte.

Sie sah Dr. Splittericht an und lächelte, während ihre spitze Zunge, wie die einer Schlange, zwischen den aufgeworfenen Lippen spielte. Ihre grünlichen Augen schienen zu fragen: »Na, hab' ich das gut gemacht?« Und auf einmal wehte ein Duft wie von Mandelblüten zu dem Kommissar herüber. Da wußte der, wer ihm den Brief auf grauem, wohlriechendem Papier geschrieben hatte.

Er winkte die Rote zu sich und fragte:

»Warum?«

Sie hob die vollen Schultern, die runden Arme, die aus dem schwarzen Seidenkleide so weiß hervorschimmerten, ein wenig, und in ihren Raubtieraugen stand eine unergründliche Lust am Bösesein, an der Schlechtigkeit um der Schlechtigkeit willen. Sich wieder erhebend, nahm sie das Sektglas des Grafen, leerte die Schale und warf sie klirrend zu Boden.

Die blonde Emmy, die Klügste wohl unter den fünfen, die mochte eine Ahnung beschleichen.

»Bestie du!« sagte sie halblaut.

Die Rote hatte es doch gehört, sie warf ihr ein ekelhaftes Wort ins Gesicht und ging tänzelnd hinüber zu einer anderen, die ihr gleichen mochte.

»Können Sie daran nun eine Freude haben?« fragte Frau Dorée den Kommissar.

»Ich bin Kriminalbeamter,« sagte der einfach, »aber ich will Ihnen was zeigen ... hier,« er holte die Photographie, die er bei Ilona Sebraczety gefunden hatte, aus der Tasche, »Sie haben mir doch mal erzählt, daß Sie früher in solchen Zirkeln gewesen sind ... Erinnern Sie sich, diese Person 'mal irgendwo als Medium gesehen zu haben?«

»Sie wollen wohl wieder jemand unglücklich machen?« Frau Dorée zögerte mit der Antwort: »Nein, dazu geb' ich meine Hand nicht!« setzte sie dann entschlossen hinzu.

»Im Gegenteil, es handelt sich hier darum, unglücklichen Menschen zu helfen ...«

Der Kommissar erzählte rasch von der Entführung der Schauspielerin und dem tiefen Kummer des Grafen, der sich vergebens bemühte, seine Liebste wiederzufinden.

Voll Teilnahme betrachtete die alte Frau den Aristokraten.

»Das ist 'was anderes ... wenn ich helfen kann! ... Und so ein Scheusal! ... ja, da bin ich dabei!«

»Wissen Sie denn wirklich etwas?«

Die alte Frau, die doch so jugendlich trotz ihrer weißen Haare aussah und sprach, schwieg eine ganze Weile.

»Können Sie sich vorstellen, lieber Doktor, daß ein ganz vernünftiger und nüchterner Mensch, wenn er in meiner Lage ist, zu allem greift? ... Sehen Sie, ich habe früher, als mein Mann noch lebte, aus rein wissenschaftlichem Interesse derartige Veranstaltungen mitgemacht ... Niemals, auch nicht im Traum wäre es mir eingefallen, an solche Sachen zu glauben ... aber jetzt ... ich ... ich bin so furchtbar allein ... und eine Sehnsucht hab' ich nach meiner Ilse ... Sie können sich das nicht vorstellen, nicht wahr? ... Ja, da hört eben das Verstehen auf ... wenn man so Tag und Nacht an nichts anderes denkt, wenn ... es ist doch nicht zu glauben, daß ein Mensch, der gesund und blühend und so lebensfroh war, der einem anderen alles auf der Welt ist ... ich meine ... mein Kind, ich hatte doch weiter nichts mehr ... da klammert man sich an einen Strohhalm! ... Wenn da plötzlich Menschen sind, die sagen: Du brauchst sie ja bloß rufen, dann ist sie wieder da, ist bei dir! ... du kannst mit ihr reden, kannst sie fragen ... sie kommt ... kommt wieder ... so oft du willst! ... Ja, sehen Sie, lieber Freund, da glaubt man nicht ... aber man will glauben! ... Es ist so schön, so selig, das zu glauben ...«

Die Frau schwieg. Der Kommissar, der wohl verstand, wann man reden und wann man still sein müsse, der blickte auch stumm vor sich nieder.

Im Keller war wieder Lärm und Lachen. Das Orchestrion hatte aufgehört zu rasseln und zu brüllen, dafür war eine von Lokal zu Lokal ziehende Truppe von Italienern da. Die spielten Mandoline und Gitarre, und eine mit langen schwarzen Zöpfen, die auf das grüne, mit Silber gestickte Samtmieder fielen, die sang dazu:

»Seele, du fliehest mir,
Wenn ich dir fahsen will! ...
Sehnsucht, o Sehnsucht!
Herz, halte still!«

Das war wie echte Wehmut. Ein paar Augenblicke wehte sie durch den stillen Raum, dann rauschten wieder Lärm und Trunkenheit auf. Ein Mensch griff nach der Tänzerin, wurde fortgestoßen und die Kellner mußten dazwischengehen und den Streit schlichten.

Von den Mädchen erzählte die brünette Käthe dem Grafen ihre Lebensgeschichte, die anderen hörten zu und eine sagte eben:

»'s is ja alles egal ... so oder so ... is alles egal! ...«

Da nickte Frau Dorée vor sich hin.

»Das ist die letzte Philosophie, lieber Freund ... Wen das Leben hier heruntergetrieben hat, der hat keine andere mehr!«

Aber der Kommissar, dessen unerbittliche Zähigkeit sich eisern an seine Dinge klammerte, der führte das Gespräch von vorhin weiter.

»Und so sind Sie jetzt wieder in diese spiritistischen Kreise hineingekommen?«

»Ja,« sagte die Matrone, wie aus einem Traum erwachend. »Wenn Sie wollen, will ich Sie noch heute nacht dort hinführen.«

»So spät? ... Es ist halb zwei ... die werden hier gleich schließen ...«

»Die Sitzung beginnt um halb drei ... wenn wir ein Auto nehmen ... ich wäre sowieso noch hingefahren ... ja ... das ist wie Morphium ... können Sie sich das vorstellen?«

»Kann ich denn den Grafen auch einladen?«

»Doch! ... Ich führe Sie eben alle beide ein.«

»Und Sie meinen, diese Dame, die Sebraczety wird dort sein ... als Medium?«

»Kommen Sie mit und sehen Sie selber!«

Der Kommissar schrieb etwas auf eine Karte, die gab er dem Grafen.

Der stand sofort auf. Mit bebender Hand suchte er in seiner Brieftasche nach Geld. Aber er konnte sich nicht so weit besinnen, daß er die Summe errechnete, gab schnell ein paar blaue Scheine der blonden Emmy und bat sie, die Zeche zu begleichen.

»Ich wünsch' Ihnen Glück!« sagte das Mädchen; sie wußte nicht wozu, aber sie hätte ihm gern ihr heißes Herz gegeben, um das seine zu erlösen.


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