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X.

Dr. Splittericht saß an seinem Schreibtisch in dem kahlen Bureau, dessen Nüchternheit ihm ganz entging, das ihm allgemach zur lieben und vertrauten Arbeitsstätte geworden war.

Eben war er beim Chef gewesen und hatte von dem ernsten, arbeitsfreudigen Manne, der von seinen Beamten dasselbe Maß von Eifer und Pflichttreue verlangte, Worte gehört, die einen anderen vielleicht verstimmt hätten.

»Sie haben sich da wieder mit einer neuen Sache belastet, Herr Doktor. Ich meine diese mysteriöse Affäre mit der Sebraczety, bei der ich überhaupt nicht recht weiß, ob es sich da um ein Verbrechen handelt ... Sehen Sie mal: eine Schauspielerin, 'ne Persönlichkeit, der man ja gewiß nichts Schlechtes nachsagen kann, aber ... die Vergangenheit der Dame ... ich meine, da sieht man doch absolut nicht klar ... Ihre Nachforschungen haben doch nach der Verbrecherseite bisher nichts Positives ergeben ... Mit fünfzehneinhalb ist die Sebraczety von Budapest fort, mit diesem Dr. Koloman, Professor Andoschin, oder wie sich der Kerl sonst noch genannt hat ... das haben Sie bisher herausgefunden ... das ist eigentlich bis jetzt alles! ... Offenbar ein ganz gewöhnlicher Hochstapler, der Kerl! ... Sie lächeln. Sie meinen, ein gewöhnlicher Hochstapler ist er nicht? ... Zugegeben ... Aber was will das sagen? ... Er hat sie damals entführt, ist überall in der Welt mit ihr herumgezogen und jetzt ist sie wieder mit ihm auf und davon! Nachweisen läßt sich ihr Aufenthalt erst seit Ende 1914, wo sie erst ein halbes Jahr am Varieté und dann hier am Goethe-Theater war ... Sie wollen sagen, der Graf steht für sie ein – richtig! Aber ist etwa der Geschmack dieser blaublütigen Herrschaften immer so exklusiv in Liebesdingen? ... Wir beide, Sie und ich, wir kennen sie doch! ... Nee, wissen Sie, ich muß gestehen, ich habe den Eindruck: Sie vergeuden da Ihre schöne Zeit umsonst ... Das ist so, wie in den meisten Fällen, wo junge Frauenzimmer vermißt werden, erst heißt es immer: Verbrechen! und nachher kommt irgendeine dumme Liebesgeschichte heraus ...«

Ohne das geringste Zeichen, wie er selbst über die Angelegenheit dächte, fragte Dr. Splittericht:

»Wenn Herr Geheimrat wünschen, soll ich also die Sache fallen lassen. Oder soll ich sie vielleicht weitergeben, an einen von den anderen Kollegen?«

Der Chef winkte abwehrend:

»Nee, nee, das is auch nicht das Richtige! Wir sind da in so'ner Art Zwickmühle! Einmal besitzt Graf Zeinfeld, der, wie Sie wissen, immens reich ist, großen Einfluß, und man würde es uns vielleicht verargen, wenn wir allzu offen mit unserer Ansicht ...«

Der Chef unterbrach sich und sah seinem Kommissar, von dessen Fähigkeiten er überzeugt war, prüfend in das bewegungslose Gesicht.

»... Mir scheint beinah', lieber Doktor, daß wir da gar nicht der gleichen Ansicht sind. Sie und ich! ... na, jedenfalls empfiehlt es sich, mit aller Vorsicht zu Werke zu gehen. Bloß das eine bitt' ich mir aus: die andere Sache, der Mord an der Witwe Meyer, darf dadurch auch nicht einen Moment in den Hintergrund gedrängt werden ... Hier liegt doch ein großes, allgemeines Interesse vor! Und schließlich ist die Kriminalpolizei wohl nicht so sehr dazu da, verwickelte Liebesaffären zu entwirren, wie wirkliche Kapitalverbrecher zu eruieren!«

Damit hatte der Geheimrat ihm die Hand gereicht, was er selten tat, und Dr. Splittericht war hinuntergegangen, die öden Korridore entlang, die immer in einem stillen Halbdunkel lagen, die Steintreppe hinab, in sein Bureau, wo Braun ihn erwartete.

Der machte eine Meldung über das Resultat, das die Arbeit von etlichen Tausenden von Polizeibeamten gehabt hatte. Alle waren sie mit einer Beschreibung des an der Mordstätte in der Mariendorfer Straße 19 gefundenen braunen Lederhandschuhs und der blauen Seidenschnur versehen worden, mit der die alte Frau erdrosselt war. Alle waren sie damit in die Posamenteriegeschäfte, in die Weißzeugläden und Modebasars gegangen und hatten überall nachgefragt, ob man sich erinnere, Handschuhe oder Schnur von solcher Beschaffenheit an irgendeine Person verkauft zu haben ...

Das war das sogenannte »Siebsystem«, dessen richtiges Funktionieren von der pflichtmäßigen Lösung der Einzelaufgabe jedes einen Beamten abhing. Den sämtlichen Polizeien Deutschlands und den großen Stationen des Auslandes waren Photogramme beider Gegenstände und erläuternde Zirkulare übermittelt; und ein Heer von Agenten, von Leuten, die sich für drei Mark Diäten am Tage an allen dunklen Plätzen umhertrieben, wo vielleicht doch etwas aufzuspüren war, das ganze Aufgebot der Polizeivigilanten, die, ehemals selbst Verbrecher oder noch mit einem Fuß im Ungesetzlichen stehend, ihre Genossen für wenige Groschen verraten, Männer und Weiber, selbst Kinder aus jenen Elendskreisen – alles war auf den Beinen, um den Mörder mit der blauseidenen Schnur zu fassen.

Welch eine Fülle von Anzeigen ging täglich bei der vierten Abteilung ein! Die lächerlichsten und dümmsten Bekundungen, Dinge, die monatelang vorher passiert waren; Denunziationen, denen der Stempel der Gemeinheit aufgeprägt war; Ströme von Haß und Wut auf einen Geliebten, der treulos, nun für eine andere schwärmte; die Wichtigtuerei der kleinen Leute und die Borniertheit derjenigen, die jetzt in jedem Manne, der einmal braune Handschuhe getragen hatte, den Mörder sahen!

Und alle diese Anzeigen, die die Aktenstöße immer mehr anschwellen ließen, mußten gesichtet und geprüft werden! Wie viele Unschuldige brachten dadurch Tage und Nächte im Polizeigewahrsam zu, erlebten qualvolle Stunden!

Nie sah man deutlicher die Häßlichkeit und das Unzulängliche in der Menschennatur! ...

Und es blieb einzig die Ruhe, das Gleichmaß und der ernste Wille der Beamten zu bewundern, niemandem mehr wehe zu tun, als im Interesse der Allgemeinheit geboten war ...

»Bis jetzt haben wir so gut wie gar nichts heraus, Herr Kommissar,« sagte Braun, »bloß eine alte Frau, die immer vor'm Hause sitzt, weil sie an beiden Beinen gelähmt is, die will einen großen Herrn gesehen haben, der nach ihrer Ansicht sehr elegant war ... aber was verstehn solche Leute alles unter ›elegant‹! ... ja, die will den aus dem Hause haben gehen sehen ...«

»Zu der fraglichen Zeit?«

»Ja, sie sagt sogar ganz genau: der Milchmann wäre eben mit seiner Kanne 'rausgekommen – es ist der Molkereibesitzer Lehmann – und der hätte sich mit der Adelband, was die Aufwärterin is, noch unterhalten, und die Kruschke, die Portierfrau, die wäre auch mit 'rausgekommen ... Und wie die alle drei weg waren, da kam der Herr ...«

»Wie war er gekleidet? Weiß sie das noch?«

»Ja, das hat sie sogar mit einer merkwürdigen Sicherheit behalten: er hatte solchen Schwalbenschwanz an – einen Cutaway meint sie – dunkel – also wahrscheinlich: schwarz – und dann ein leuchtendes Vorhemd – das heißt also tiefausgsschnittene Weste – und Lackstiefel ...«

»Danach ist er also schon vom Abend vorher mit der Meyer zusammen gewesen,« warf der Kommissar ein, »und hat wahrscheinlich auch bei ihr genächtigt ...«

»Ja, aber das Merkwürdige ist, Herr Kommissar, er hat einen Mantel, auch 'n schwarzen, über'n Arm getragen, hat 'ne Tüte in der Hand gehabt, 'ne ziemlich große Tüte, und auf dem Kopf 'ne kleine, graue Seidenmütze ...«

»Und das weiß die Alte so genau?«

»Ja, sie sagt: er wäre ihr aufgefallen, weil er so gar nicht 'reinpaßte in das Haus ... und tatsächlich hat sie's auch gleich ihrer Enkelin erzählt, als die zu Mittag nach Hause gekommen is! ...«

»Und Sie halten die alte Frau für glaubwürdig?«

»Soweit man da ›ja‹ sagen kann, Herr Kommissar, ja! ... Sie wissen doch selber, was so'ne Leute manchmal für 'ne Phantasie haben, nu besonders noch Frauen! ... Es stimmt bloß alles so gut ... ich meine sogar: zu gut!«

Der Kommissar blickte nachdenklich, die blaue Seidenschnur in seiner Hand drehend, vor sich hin, dann sagte er, als wäre er allein und spräche zu sich selber:

»Der Mantel, der könnte stimmen, den hatte er zusammengefaltet ... aber die Mütze ... daß er keinen Zylinder getragen hat ...«

»Warum denn 'n Zylinder, Herr Kommissar?«

»Ach ... ich meine nur so ... zu solchem Anzug gehört doch eigentlich ein Zylinder ...«

»Aber die sind doch total außer Mode, Herr Kommissar! Wer trägt denn jetzt 'n Zylinder?«

Dr. Splittericht fragte, statt zu antworten:

»Hat sie sein Gesicht gesehen?«

Der Beamte schüttelte den Kopf.

»Nein, er wollte zwar erst zu ihr hin ... nach der Richtung, wo sie saß ... Aber sowie er merkte, daß er beobachtet wurde, drehte er kurz um und ging schnell fort ... Sie sagt auch, die Sonne wäre so grell gewesen ...«

»Und die Haarfarbe?«

»Die war dunkel, das hat sie gesehen, weil die helle Mütze dagegenstand.«

»Eine Reisemütze also?«

»Ja, so was war's wohl ...«

»Das haben Sie alles gut festgelegt?«

»Alles, Herr Kommissar.«

»Na, nu sehen Sie sich nochmal die Schnur hier an ... Wo, meinen Sie, stammt die her?«

Der Beamte betrachtete und prüfte die festgedrehte, aus feinster Seide bestehende und lichtblau glänzende Kordel genau, dann meinte er: »Wo sie herstammt, kann ich nicht sagen, aber mir fällt auf, daß sie an beiden Enden scharf abgeschnitten ist ... und die Schnitte sind wohl erst vor kurzer Zeit gemacht worden, wahrscheinlich, als der Mörder sie gebraucht hat ... vielleicht waren da Knoten dran ...«

»Oder seidene Quasten! ... Sehen Sie, lieber Braun, im letzten Grunde muß man doch alles selber besorgen. Ich bin gestern in ein erstes Damenmodemagazin gegangen, da haben mich die Leute darauf gebracht ... Die Schnur stammt von einem Damenschlafrock, vielleicht auch von einer sogenannten Matinee oder am Ende auch von einem Bademantel ... Der Mörder hat sie also von einem weiblichen Kleidungsstück her, hat sie am Ende seiner Geliebten fortgenommen ... Das Kleidungsstück dürfte französischen Ursprungs gewesen sein, kann aber ebensogut hier gekauft sein wie in Paris oder sonstwo ... Und ob es einer Dame oder einem Frauenzimmer gehört hat oder noch gehört, das wissen wir auch nicht ...«

Der Kommissar sah plötzlich, wie es seine Art war beim Verhör der ihm vorgeführten Missetäter, aufwärts und bemerkte das leichte Lachen, in dem sich der blonde Reiterschnurrbart des Unterbeamten hob.

»Sie meinen, lieber Braun, damit bin ich auch noch nicht weiter ... Und da haben Sie von Ihrem Standpunkt aus ganz recht ... aber ich sehe vielleicht weiter ...«

Der Kommissar sprach nicht mehr, sein Kopf senkte sich; es war, als schliefe er ein ...

Braun, der die Art seines Vorgesetzten kannte, ging auf den Zehenspitzen hinaus. Sein Kommissar dachte nach, und das war nach seiner Ueberzeugung wertvoller und mehr, als wenn zehn andere durch ganz Berlin rennen!


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