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I.

Das Licht der großen Kronleuchter verglomm über dem letzten Flüstern und Räuspern des Publikums, der Theaterraum ward dunkel. Aber unter dem aufrollenden Vorhang warf die Bühne ihren hellen Schein in die ersten Reihen des Parketts, daß man von oben wie in einem goldig dunklen Nebel die Köpfe der Zuschauer schwimmen sah; in den Ecklogen zur Rechten und zur Linken war jede Figur deutlich erkennbar.

Dort drüben trat noch ein großer, schlanker Mann in die Loge Nummer eins, die sonst leer war.

Der Diamantknopf in seinem Frackhemd blitzte mit dem Einglas um die Wette, das er eben geputzt und wieder ins Auge gedrückt hatte – in dies große, von tiefen Schatten umgebene Augenrund, das dem bleichen und völlig bartlosen Gesicht seinen seltsamen, nicht leicht zu deutenden Charakter gab.

Der Herr war im Hintergrund der Loge stehengeblieben. Er betrachtete, jetzt langsam vortretend, mit großer Aufmerksamkeit die schöne Schauspielerin, deren Worte im Selbstgespräch hörbar wurden, deren sanfte und frohe Stimme allein das Publikum in freundliche und dankbare Bewegung brachte.

Es war schon der dritte Akt, der gerade begonnen hatte.

Die junge Frau war aus ihrem Liegestuhl aufgestanden, sie hatte ein bißchen mit dem Kanarienvogel geplaudert und glitt geschmeidig an die Rampe, um ihre Bedenken gegen Herrn v. Müller, mit dem sie seit einer Woche verheiratet war, kundzugeben. Sie trat noch einen Schritt weiter vor, bis an die elektrischen Lampen heran, und da stand sie und starrte wie entgeistert in die Parkettloge hinein, in der der einzelne Herr saß, dessen bleiches, völlig bartloses Gesicht mit dem großen Einglas sich unverwandt auf das Angesicht der Schauspielerin richtete.

Gottlob, daß Fritz Heerfels, der erste Liebhaber des Goethetheaters, so mit allen Hunden gehetzt war ... Er »schwamm«, aber er schwamm meisterhaft ... Er tanzte auf der Bühne hin und her, gebrauchte einmal das liebevolle Du, um gleich danach die Angebetete mit »Sie« und mit »meine Gnädige« anzureden. Und er begann schon, wie man sagt, Blut und Wasser zu schwitzen, weil er sich gar nicht erklären konnte, warum »sie« denn nicht wenigstens ein Wörtchen der Ermunterung an ihn richtete ...

Da auf einmal drehte sie sich um (mehr als man das schicklicherweise auf der Bühne sonst wohl zu tun pflegt) und sah den Spielpartner lange an. Sie sagte noch immer nichts, aber sie sah ihn doch wenigstens jetzt an ... Er dichtete rastlos Sätze und ganze Perioden in seine Rolle hinein und meinte: einmal muß sie doch noch aufwachen, die Ilona! ... Denn in der Tat: was er da vor sich sah, war das Bild einer Schlafenden, einer Frau, die in wachem Traume alles vergessen hat, was um sie her ist und was sie eigentlich hier tun und reden sollte ... Ganz allmählich wich die Erstarrung von ihr, ganz langsam fiel das Vergessen von ihr ab und dann sagte sie, ebenfalls mit verblüffend kluger Improvisation:

»Also Sie sind noch immer da, mein Freund ... ich dachte mein Schweigen sagte Ihnen deutlich genug, was ich von Ihnen erwartete ...«

Nun lenkte Heerfels geschickt in die Rolle ein, sie folgte gehorsam, und zwei Minuten später prasselten die Witzworte von beiden Seiten wie doppeltes Raketenfeuer; der dritte Akt des Lustspiels glitt launig dahin, das Publikum freute sich und spendete am Schluß den reichsten Beifall.

Natürlich hatte Fritz Heerfels vor, der unaufmerksamen Kollegin – er vermutete und konnte ja auch hinter ihrem Schweigen nichts anderes vermuten als eine Laune! – gehörig seine Ansicht zu sagen! Aber Ilona war, als der Vorhang zum letztenmal fiel, weg und verschwunden wie eine Erscheinung. Und nachlaufen mochte ihr der Schauspieler nicht; das brauchte er ja auch gar nicht! Später bei Meisenbach, wohin sie wie ihn der Gesandtschaftsattaché Juan del Galamonte für heute abend geladen hatte, da würde er ihr schon noch die Leviten lesen! ... Geschenkt blieb ihr das nicht! ... So eine Fadesse! ...

Ilona Sebraczety saß inzwischen schon in ihrer Garderobe ... Der Raum, den welkende Blumenarrangements mit einem schweren süßlichen Duft erfüllten, war helles Licht. Und die Schauspielerin, die sich hierher geflüchtet hatte, wie um Schutz zu suchen vor etwas unbegreiflich Furchtbarem, saß mit hängendem Kopf, die Arme schlaff am Körper, untätig auf dem Ruhebett, als die Garderobiere, Frau Weißgerber, eintrat.

»Aber Fräulein Ilona, jnädiges Fräulein, was is denn?«

Die Schauspielerin erwiderte nichts. Sie hob nur ihre dunklen Augen und sah die Frau an, die verblüfft vor ihr stand und sie wiederholt ansprach, ohne eine Antwort zu bekommen.

Ja, Ilona Sebraczety sah die dicke Frau, die die unentbehrliche Gehilfin und die Vertraute sämtlicher Damen am Theater war, ebenso abwesend an, wie sie vorhin den starren, ausdruckslosen Blick auf ihren Partner gerichtet hatte.

Endlich öffneten sich ihre schönen Lippen zu der Klage:

»Ach, ich bin verloren, Weißgerber, ich bin verloren! ...«

»Aber was ist denn, Fräulein? ... Was haben Se denn? So reden Se doch bloß! Sagen Se doch, was soll denn das heißen: Sie sind verloren? ...«

Ilona fing an zu weinen, leise erst, mit langsam rinnenden Tränen, und dann immer stärker, verzweiflungsvoller und todestrauriger, so als wollte sie nie mehr aufhören, als müßte ihre Seele davonfließen in diesem unstillbaren Tränenerguß, als sollte mit ihrem Leid auch ihr Leben enden.

Es klopfte.

Die Weißgerber, die neben der Künstlerin saß, sie in ihren Armen hielt und in ihrer völligen Ratlosigkeit eben angefangen hatte, mitzuschluchzen, die stand auf, um zu öffnen.

Da schrie Ilona:

»Bleib hier, Weißgerber! ... Um Gottes willen, mach' nicht auf!«

Die dicke Frau im blaugestreiften Waschkleide blieb unentschlossen stehen:

»Aber Fräulein Ilonachen, liebstes Fräuleinchen, ich muß doch ... wir müssen doch ...«

Es klopfte abermals, und eine Stimme ward hörbar:

»Ich bin's! ... Bauke! ... 'n Brief für Fräulein!«

»Na sehn Se, Bauke is es! ... Bloß Bauke ... Lassen Se mich doch los ... Ich bleibe ja hier ... ja ... ja ... gleich, Bauke, ich komme schon!«

Sie machte sich frei aus den sie umschlingenden Armen, öffnete die auf den Garderobengang hinausgehende Tür nur einen Spalt breit und nahm dem Logenschließer den Brief ab, danach dem alten Weißkopf, der neugierig hereinguckte, die Tür rasch vor der Nase zuschlagend.

Nun brachte sie ihrem Fräulein den Brief. Aber die schrie laut auf:

»Nein, nein! Ich will ihn nicht! Ich les' es nicht!« Sie schluchzte laut, und die dicke Frau hatte wieder alle Mühe, sie zu beruhigen:

»Nebenan hören sie's ja! ... Fräuleinchen! ... Ja ... ja ... lassen Sie doch! ... Sie brauchen ja nicht lesen! ...«

Aber plötzlich wurde Ilona Sebraczety kalt und hart wie Stein. Mit rauher Stimme sagte sie:

»Gib her!«

Die Weißgerber, die, seit dreißig Jahren am Theater, soviel hysterische Frauen mit ihren Leidenschaftsergüssen und wilden Tränenfluten erlebt hatte, stand hier doch vor etwas Ungekanntem; sie blieb ganz wortlos und gab den Brief. Aber als ihn Ilona Sebraczety aufbrach, konnte die Garderobiere nicht anders, sie mußte über die Schulter der gebückt Dasitzenden hineinsehen. Und in dem Brief, auf dem weißen Bogen, stand nur ein Wort geschrieben. In einer großen, bösen Schrift, die unnachahmlich und unerbittlich drohte, stand da:

»Komm!«

Nichts weiter. Keine Anrede, kein Name, nichts als dies, wie von einem Henker geschriebene Wort: »Komm!«

Und in diesem Augenblick, als wollte das Wort, das da so grausam und allein stand, als wollte das lebendig werden – klopfte es abermals, aber diesmal gebieterisch, keinen Widerstand duldend, an die Tür der Garderobe.

Die herrlichen dunkelblauen Augen der Schauspielerin wurden weit wie bei einer Todgeweihten; ihre Hände hoben sich zitternd mit offenen Fingern und der Mund, dieser süße, von so vielen begehrte Rosenmund, tat sich auf wie zu einem Schrei der Angst, des Entsetzens! ...

Aber Ilona Sebraczety schrie nicht ... Ihre Lippen bewegten sich haltlos, sie stieß einen leise jammernden Laut aus und fiel vom Ruhebett auf ihre Knie nieder ...

»Oeffne, Ilona! ... Mach auf!«

Es war, als schnitte die Stimme das harte Holz der Tür durch ... Vor dem Wort des Draußenstehenden, das fühlte selbst die dicke Frau Weißgerber, gab es weder Riegel noch Tür ...

Und es überraschte sie nicht, daß das Fräulein, sich schwer emporrichtend, zur Tür schwankte und den Drücker öffnete.

Die Weißgerber, die selbst mehr Furcht hatte, als ihr lieb war, die treue Seele folgte doch dem Fräulein zaghaft.

Sie sah, als die Tür aufging, einen großen, schlanken Herrn auf dem ziemlich dunklen Gang stehen. Sie sah ein leuchtendes Frackhemd mit blitzendem Brillanten, einen dunklen Anzug und einen Zylinderhut, der vor ein Gesicht gehalten wurde, das sie nicht sah.

Dann war jener Mann drin im Zimmer und sie selbst hinausgeschoben, ohne daß es ihr recht zu Sinne kam, wie das geschah ... Sie entrüstete sich, war wütend darüber, aber doch auch ein bißchen froh, diesem Finsternen entronnen zu sein.

Aber sie blieb an der Tür, wollte horchen ... umsonst ... nichts zu verstehen ... die dadrin sprachen laut wohl, doch in einer fremden Sprache ... sie stritten sich auch nicht ... eigentlich sprach ja nur er ... das Fräulein gab schüchtern bittende Antwort ... so ergeben, so demütig klang, was sie sagte ... Es war wirklich, wie wenn ein Herrscher zu seiner Sklavin spricht ...

Dann ging die Tür wieder auf. Und ebenso wie vorher sein Gesicht mit dem Hute deckend, schritt der Unheimliche, der übrigens tadellos, wie ein wirklicher Kavalier gekleidet war, so rasch an der Frau Weißgerber vorüber, daß sie nicht mehr von ihm sah als bei seinem Eintritt.

Das Fräulein Sebraczety aber stand mit einem starren Lächeln auf ihrem schönen Angesicht mitten im Zimmer. Sie blickte nach der Tür. Aber es war, wie wenn ihre Augen durch Mauer und Wand drängen und jenem geheimnisvollen Manne nacheilten, der, schnell an dem alten Logenschließer vorbeieilend, das Theater verließ.


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