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VI.

Ich bin bereits durch Herrn v. Plessow orientiert,« sagte der der Doktor-Kommissar und bat Zeinfeld, Platz zu nehmen.

Dieser suchte etwas nervös, wohin er seinen Zylinder stellen könnte, doch Dr. Splittericht nahm ihm den Hut mit einem »Gestatten Sie gütigst!« aus der Hand und stellte ihn neben sich auf den Tisch. Dann winkte er Braun, der noch im Zimmer war, sich zu entfernen.

»Der Fall ist sehr eigentümlich.« Er sprach absichtlich kühl und geschäftsmäßig, um dem anderen Gelegenheit zu geben, seine Befangenheit loszuwerden. »Ich bin überzeugt: unter dem Mannigfachen, was mir gerade in dieser Hinsicht über den Weg gelaufen ist, befindet sich nichts Aehnliches ... Denn darüber, verehrter Herr Graf, darüber müssen wir uns klar werden: absolut gegen den Willen der beteiligten Dame ist solche Entführung nicht durchzusetzen.«

Das klare graue Auge des Grafen senkte sich und über das rittermäßig geschnittene Angesicht zogen Schmerz und Unwillen. Der Kommissar sah, daß diese rätselhafte Begebenheit ihn bis ins Herz hinein traf.

»Was ich eben sagte, darf Sie nicht verletzen! Eine gewaltsame Entführung ist bei einer erwachsenen Person schwer möglich, besonders unter diesen Umständen. Selbst wenn die Dame den Menschen nicht erkannt hat, wie er ins Auto stieg, während der Fahrt muß sie ihn doch erkennen! Und dann macht sie sich entweder schon während der Fahrt bemerklich, schlägt eine Scheibe ein, schreit oder lärmt sonst irgendwie, oder aber sie wird sich doch bestimmt beim Aussteigen wehren. Und die Betäubung durch irgendein Narkotikum, die fällt ebenfalls als untunlich weg. Betäubungsmittel, die gegen den Willen des Objekts, ohne ihm Gewalt anzutun, wirksam sind, die gibt's nur in schlechten Kriminalgeschichten. Und nehmen wir selbst an, der Kerl hätte die Dame so auf diese Art betäubt, so müßte das doch der Chauffeur bemerkt haben – ein Droschkenchauffeur! Derselbe, mit dem Sie vorher gefahren sind, den Sie beim Aus- und Einsteigen mehrfach gesehen haben und den Sie zweifellos wiedererkennen ... das ist sehr unwahrscheinlich! ... Der Chauffeur könnte das Fräulein entführt haben, gewiß, möglich ist alles! Aber das wird sich, wie ich hoffe, sehr bald nachprüfen lassen ... und ... und glauben tu ich daran auch nicht ... Nein, hier muß eine ganz besondere und geheimnisvolle Verknüpfung von Umständen wirksam sein ... Wahrscheinlich eine aus früherer Zeit herrührende Bekanntschaft mit dem Entführer selbst ...«

Dem bei diesen Worten entrüstet auffahrenden Grafen legte der Kommissar begütigend die Hand auf den Arm:

»Ich bitte Sie, meine Worte rein als das zu betrachten, was sie sind, nämlich Vermutungen ... Wir Kriminalisten sind doch gewissermaßen Aerzte, die irgendeinem in seinem Regelmaß gestörten, durch Verbrecherhand zerrissenen Lebensvorgang nachspüren, ihn aufklären und eventuell wieder richtigstellen sollen – da ist jede falsche Scham, jede allzu große Rücksichtnahme vom Uebel ... Wenn ich nicht frei heraus sagen darf, was ich denke, so kann ich Ihnen auch nicht helfen. Im Gegenteil: Sie, Herr Graf, müssen mir durch eine uneingeschränkte Offenheit behilflich sein! Ihr Fall liegt so, daß meine Mühe nur dann Erfolg haben wird, wenn Sie selbst mir alles sagen, was Ihnen über das Vorleben von Fräulein Ilona Sebraczety bekannt ist ... Zuvor aber« – er drückte auf den Knopf des elektrischen Klingelapparates – »will ich mir Gewißheit zu verschaffen suchen über die Person des Autoführers, der Sie und die Dame gefahren hat ... Wo, wenn ich fragen darf, haben Sie gestern abend die Taxe gemietet?«

»Auf dem Viktoria-Luise-Platz ... ich kam dort aus einer Weinstube.«

»War es ein Elektromobil oder ein Benzinwagen?«

Der Kriminalschutzmann Braun trat wieder ins Zimmer.

»Herr Kommissar?«

Dr. Splittericht nickte: »Einen Augenblick!«

»Es war eine Benzindroschke,« sagte der Graf, »und der Chauffeur war ein Holsteiner ... ich erkannte ihn am Dialekt, weil ich selbst dort zu Hause bin.«

»Danke ... Also Sie haben gehört, Braun: der Herr Graf hat um zehn Uhr etwa ...«

»Ja, es schlug gerade zehn,« nickte der Graf.

»... also um zehn Uhr am Viktoria-Luise-Platz ein Auto genommen ... Das müssen Sie, so schnell es geht, herausfinden!«

Der Beamte stand stramm, machte kehrt und verließ das Zimmer.

»So, und nun bitte, erzählen Sie mir in aller Ausführlichkeit, was Sie über Fräulein Sebraczety wissen!«

»Das ist leider gar nicht viel, Herr Doktor ... Ich selbst kenne sie seit einem halben Jahr ... Ich war bei ihrem Debüt im Goethe-Theater, wo sie in einer ganz minderen Rolle auftrat und mit dieser Winzigkeit das Publikum und die Presse derart hinriß ... es war ja ein förmlicher Sturm damals in allen Zeitungen, sie bekam Angebote über Angebote, auch von den königlichen Theatern ... Aber vornehm und treu, wie in all ihrem Handeln, blieb sie bei ihrem Direktor ... und war dabei nicht einmal kontraktlich gebunden.«

»Verzeihung, Herr Graf, aber das interessiert mich erst in zweiter Linie ... Sie sagten, daß Sie das Fräulein seit ihrem ersten Auftreten im Goethe-Theater kennen. War Ihre Bekanntschaft nun gleich derart, daß Ihnen eine gewisse Kontrolle über die Lebensführung, über den Bekanntenkreis der Dame möglich war?«

»Aber ja! Fräulein Sebraczety war gelegentlich mit einer Kollegin zusammen, sonst widmete sie ihre freie Zeit ausschließlich mir ... mir ganz allein ... Es ist völlig ausgeschlossen, daß Ilona in diesem halben Jahr irgendeine Bekanntschaft, wie sie auch immer geartet sein sollte – nein, das ist ... das ist einfach unmöglich!«

Mit leisem Kopfnicken dachte der Kommissar nach. Dann sagte er, wie rasch mit dem Worte zupackend:

»Und vorher?«

Der Graf hob langsam die Achseln. Auf seinem feinem Gesicht prägte sich etwas wie stumme Qual aus, die zu bitten schien: ist es denn durchaus nötig, von dem zu reden, an das ich selbst nicht einmal denken mag? Dann aber wurde er sichtlich Herr über sein Gefühl – der Kommissar ließ ihm ruhig Zeit – und sagte festen Tones:

»Was ich darüber weiß, ist, wie gesagt, sehr wenig, Herr Doktor. Fräulein Sebraczety entstammt, das sagt der Name schon, einer ungarischen Adelsfamilie. Der Vater war Advokat und ist im Irrenhause gestorben. Die Mutter muß nach dem, was Ilona mir darüber erzählt hat, eine schwere Hysterikerin sein; sie lebt, aber im Unfrieden mit ihrer Tochter ... und das wirft kein gutes Licht auf den Charakter der alten Dame, denn ein sanfteres und so im tiefsten Herzen gütiges Wesen wie meine Freundin gibt es kaum zum zweiten Male ... Es waren also die unerquicklichsten Zustände, die sich denken lassen, dort im Hause ... Ilona selbst hatte und hat nur eine Leidenschaft: das Theater ... Dafür lebt und stirbt sie ... Würde sie davon lassen wollen« – der Graf dachte Sekunden lang wie über eine ihn tief schmerzende Sache nach, sein stolzes Gesicht war währenddem voll Leid und Bedauern –, »ich hätte sie längst zu meiner Frau gemacht ... sie hätte nur das Theater zu lassen brauchen ... Aber das wollte sie unter keiner Bedingung! ...«

»Also die Dame besuchte dort in ihrer Heimat ein Konservatorium?« half Dr. Splittericht dem Grafen, der sich wieder in Sinnen verlor.

»Ja, in Budapest ... Sie trat dort mit sechzehn Jahren zum ersten Male auf und entfesselte schon damals eine Begeisterung sondergleichen ... vielleicht mehr noch durch ihre Schönheit ... die wirklich unvergleichlich war. Hier, bitte, Herr Doktor, sehen Sie selber! ...«

Der Kommissar nahm das Bild, das Ilona Sebraczety im Kostüm der Esmeralda im »Glöckner von Notre-Dame« zeigte. Es war eine vollendete Schönheit, deren Gesicht einer leidenschaftlichen Madonna zu gehören schien, die selbst hier auf der jahrealten Photographie aus zwei Augen blickte, die so unergründlich schwermutsvoll, so hinreißend schön waren, daß selbst der Kommissar, trotz seiner kühlen Vorsicht allem Weiblichen gegenüber gefesselt, das Bild lange ansah.

Er gab das Bild seinem Besitzer wieder, als wollte er sich nicht länger stören lassen von solch süßer Anmut.

Dann begann er aufs neue zu fragen:

»Blieb die Dame länger in Budapest?«

»Nein,« sagte der Graf. Seine Stimme klang unsicher. »Sie wurde auch von dort entführt.«

Der Kommissar richtete sich rasch auf, bolzgerade saß er auf seinem Lederstuhl.

»Von wem, Herr Graf?«

»Das weiß ich nicht ... Ich habe, soweit mir das mein Gefühl erlaubte, geforscht, habe versucht, den Namen zu erfahren ... aber ganz umsonst ... Ilona hat dann zu weinen angefangen und immer nur gesagt, ich sollte sie nicht quälen, sie wollte lieber sterben, als davon mit mir sprechen ...«

»Hatten Sie den Eindruck, daß dieser Entschluß unerschütterlich war ... daß es vielleicht gar kein selbständiger Entschluß ... daß am Ende eine Art von Zwang da im Spiele war?«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, es ließe sich doch denken, daß die Einwirkung eines fremden Willens, eines seelischen Zwanges, meine ich, auf eine Person ausgeübt wird ... und daß dieser Willensdruck, durch jahrelange Gewohnheit vervielfacht so stark auf die empfindliche Seele einer Frau zum Beispiel einwirkt, daß diese auch nach langer Zeit noch, wenn sie dem persönlichen Einfluß ihres Bezwingers längst entrückt ist, daß sie auch dann noch der fremden Willenskraft gehorsam bleibt? ...«

Voller Interesse war der Graf dem, was der Kommissar ausführte, gefolgt, und wie in freudiger Ueberraschung sagte er:

»Mit dem, was ich eben von Ihnen gehört habe, Herr Kommissar, finde ich mich erst in Ilonas Wesen ganz zurecht! ... Ja, ganz so ist es in der Tat gewesen ... je mehr ich darüber nachdenke ... Wenn ich sie fragte, wenn ich in sie drang ... das war kein Widerstand, den sie mir entgegensetzte, kein Trotz ... das war offenbare Angst, Furcht vor etwas, was ich nicht sehen konnte und was sie, meine arme Liebste, wahrscheinlich Tag und Nacht peinigte ... Ja, heute sehe ich erst klar ... ich bin Ihnen von Herzen dankbar, Herr Kommissar! Sie geben mir den Schlüssel zu vielem, was ich damals nicht begriffen habe und für das ich vielleicht die Arme ganz unschuldig habe leiden lassen!«

Der Kommissar nickte leise:

»Haben Sie nie eine Korrespondenz, ein Bild vielleicht bei Fräulein Sebraczety gesehen?«

Der Graf schüttelte den Kopf.

»Nein, wie sollte ich ...«

»Aber wir werden jetzt ihre Korrespondenz durchsuchen müssen!«

»Ach nein ... das ... das wäre mir doch außerordentlich peinlich ...«

»Ja, es handelt sich aber um Leib und Leben der Dame, Herr Graf!«

»Sie haben recht, es gibt da wirklich keine Rücksichten ...«

Es klopfte, Braun trat ein.

»Herr Kommissar, der Chauffeur ist gefunden. Er wartet draußen.«

»Wie haben Sie das gemacht?« fragte Dr. Splittericht wohl in der Absicht, seinem Besuch ein Bildchen von der Tüchtigkeit des Beamten und diesem gleichzeitig eine kleine Genugtuung für seine prompte und sichere Arbeitsleistung zu geben.

»Das war ganz einfach, Herr Kommissar: ich habe in den umliegenden Garagen nachgefragt, wo ein Holsteiner fährt ... Und da erfuhr ich, daß der Mann Ahlers heißt, bei Samson u. Co. fährt und daß er zufällig heute vormittag vorm Polizeipräsidium ist, weil sie doch alle Monate einmal ihre Wagen vorstellen müssen, ob auch alles in Ordnung ist und der Nummern wegen ...«

»Ja,« meinte der Kommissar, »das war ja nu recht bequem! ... Na, dann lassen Sie 'n mal 'reinkommen, den Herrn Ahlers!«

Braun verschwand, und Dr. Splittericht bat den voller Erwartung nach der Tür blickenden Grafen, sich vorerst nach dem Fenster zu wenden und den Eintretenden nicht eher anzublicken, als bis der Kommissar darum bäte.

Gleich danach trat der Chauffeur ein. Er blieb, die Mütze in der Hand, an der Tür stehen und wurde vom Kommissar näher gerufen.

»Sie haben gestern abend um zehn Uhr vom Viktoria-Luise-Platz von einer Weinstube aus eine Fuhre gehabt, ja?«

Der Chauffeur nickte und betrachtete neugierig den Herrn, der ihm den Rücken zukehrte.

»Jawoll, Herr Kommissar.«

»Wo haben Sie den Herrn hingefahren?«

»Nach's Jöthetheater ... ja ... und da mußt' ich warten ... es regnete jrade ...«

»Und dann?«

»Dann? ... Denn bin ich mit se beide – eene Dame war nemlich ooch dabei; die hat der Herr abjeholt von's Theater –, da bin ich mit se in die Weinstube von Meißenbach jefahren, da ist der Herr ausjestiegen und 'reinjejangen in dis Lokal ...«

»Und Sie, was machten Sie?«

»Na, ich habe jewart', bis er wieder 'rauskam ... er kam ja jleich wieder ...«

»Und fuhr weiter mit Ihnen?«

»Na, aber ja! Er rief mir zu: Charlottenburg, Herderstraße 10, und stieg rasch ein – un denn bin ich losjefahren.«

»Und das war derselbe Herr, der vorher aus Ihrer Droschke ausgestiegen war? ... Hier – Herr Graf, bitte! –«

Graf Zeinfeld wandte sich plötzlich um.

»– ist das der Herr, den Sie gefahren haben?«

Der Chauffeur stutzte. Dann sagte er so recht aus innerer Ueberzeugung heraus:

»Ja, das is er!«

»Sie kennen ihn bestimmt wieder?«

»Janz bestimmt!«

»Und ist das auch derselbe Herr, der aus dem Weinlokal herauskam und Ihnen zurief: »Charlottenburg, Herderstraße 10«, und der dann rasch ins Auto sprang?«

Der Autolenker, überrascht durch die ihm unverständlichen Fragen, von Ungewißheit erfaßt, hob seine arbeitsharten Hände ein bißchen:

»Ja ... so jenau ... so jenau kann ich dis ja ooch nich sagen! ... Er kam so von hinten an das Auto 'ran –«

Der Kommissar nickte leise und fragte:

»Hielt dicht vorher, ich meine, ehe der Herr wieder in Ihren Wagen einstieg, ein anderes Auto in der Nähe oder vielleicht auch vor der Weinstube?«

»Ja,« sagte der Chauffeur nach kurzem Besinnen, »ja, mir is beinah' so, Herr Kommissar. Aber man acht' ja darauf nich so ...«

»Und nun fuhren Sie weiter?«

»Ja, aber in Tiergarten, jarnich weit von Kleinen Stern, da sagte der Herr durch das Sprachrohr, ich sollte anhalten, seine Dame wäre nich janz wohl un se wollten 'n Ende zu Fuß jehn ...«

»Und da stiegen die beiden aus?«

»Jawoll ... ick fragte noch, ob ich uff se warten sollte, aber der Herr zahlte und se jingen nach de andre Seite ... die Dame ... die hatte so 'ne Art Spitzenmantel an ...«

»Wie sah sie denn sonst aus, die Dame, mein' ich? ... Hörten Sie sie sprechen? ... Sagte sie etwas?«

»Nee, jeredt' hat se nischt ... bloß se schien mir wirklich krank zu sein ... se jing so'n bisken jebückt, un er stützte ihr ...«

»Und dann sind Sie fortgefahren?«

»Ja, wat sollt ick'n noch weiter machen ...«

Dr. Splittericht wandte sich an Zeinfeld.

»Möchten Sie den Mann vielleicht noch etwas fragen, Herr Graf?«

Zeinfeld schüttelte den Kopf, und der Kommissar entließ den Chauffeur.

Der Graf, ganz fassungslos, vermochte nicht zu reden. Jetzt, wo kein Zweifel mehr erlaubt war, daß ein fremder Mensch, ein Verbrecher sein Liebstes mit geheimnisvoller Gewalt entführt hatte, jetzt erst versagte sein Herz. Er war so zerbrochen in seiner Seele, daß es dem Kommissar schwer fiel, ihn aufzurichten.

»Sie dürfen sich Ihren Empfindungen nicht zu sehr hingeben, Herr Graf ... Ich brauche Ihre Hilfe und damit Ihre ganze Kraft ... Vor allen Dingen müssen wir jetzt ins Theater ... Wenn ich mich nicht ganz und gar täusche, werden wir dort mehr erfahren.«


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