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Nächtlicher Besuch

Es war zwei Uhr nachts, und ich saß zum ersten Male am Schreibtisch in der kleinen Wohnung, die ich mir gemietet hatte, weil ich die Menschen, selbst die, die mir am liebsten sind, nicht mehr ertragen konnte … Die Nacht hat von jeher für mich etwas Geheimnisvolles gehabt; die Gedanken kommen leichter in der Stille, und was unausgesprochen in uns lebt, findet besser den Weg an die Oberfläche … manchmal ist mir sogar, als ob das, was ungesehen und vielfach ungeahnt um uns herum lebt, dann plötzlich die Scheidewand des Unwirklichen niederbräche oder sich wenigstens Mühe gäbe, uns verständlich zu werden.

Ich saß schon eine ganze Weile und dachte an die Lebenden, die ich lieb hatte, weil sie fern sind, und so glitten meine Gedanken hinüber zu denen, die nicht mehr sind … merkwürdigerweise aber nicht zu Bekannten oder mir verwandten Toten. Es waren ganz fremde Leute, an die ich dachte … und wie man schon nicht anders kann, als den Wurzeln der Empfindungen und Ideen nachgraben, die einen quälen, so kam ich auch bald auf den Grund dieser Erscheinungen: Die kleine Wohnung hier hatte vor mir ein junges Mädchen bewohnt, die das Leben eines Tages freiwillig aufgegeben hatte. »Aus Liebesjram!« sagte mir der alte Maler, der in der Küche die Decke weißte … An der Tür hängt jetzt noch ihr Schild mit dem schwarzen Namen auf weißem Porzellan: »Anna Schmielke«. Außerdem ist da noch ein kleiner brauner Blechbriefkasten, durch dessen eingeschnittenes Gitterchen man deutlich ein weißes Briefkuvert sehen kann.

Ich habe diese Sache an ihrem Platz gelassen, aus Pietät, auch vielleicht aus Bequemlichkeit oder am Ende, weil ich es nicht wagte, mich an dem Eigentum der Unglücklichen zu vergreifen.

Natürlich, wenn man an jemand denkt, der einen interessiert, ohne daß man ihn jemals gesehen hat, so macht man sich ein Bild von ihm. Und ich dachte, diese Anna Schmielke müsse ein mittelgroßes, sehr schlankes, biegsames Geschöpf gewesen sein, mit bräunlicher Haut und dunklen Augen, die Lippen schmal und wenig nuanciert und einen tiefbrünetten Wellenscheitel über dem vergrämten, aber noch kindlichen Gesichtchen. So sah ich sie, wie sie im Zimmer umherirrte, schluchzend seinen Namen nannte, sich hinlegte, wieder aufsprang und abermals zu Boden sank, um schließlich die Giftflasche an die Lippen zu setzen und, röchelnd und heisere Schreie ausstoßend, mit dem Tode zu kämpfen, der sie bezwang.

Was mochte da alles vorhergegangen sein? Er hatte sie sitzen lassen, sicherlich!. .. Vielleicht war sie in anderen Umständen gewesen.

»Herein!« sagte ich mechanisch, denn es hatte geklopft.

Die Zimmertür ging auf – mir schien doch, als hätte ich abgeschlossen – und ein junges Mädchen in rotem Tuchkleid, das mit schwarzem Samt garniert war, trat schnell ins Zimmer.

»Sie wünschen?« fragte ich, ohne zu erschrecken, ja nicht einmal sehr verwundert.

»Ich heiße Anna Schmielke.«

Ich nickte. Ich war auf so etwas gefaßt gewesen, obwohl sie meinen Vorstellungen von ihrer Person absolut nicht entsprach. Laut sagte ich nur:

»Und womit kann ich Ihnen dienen?«

Aber sie überhörte meine Frage.

»Ich habe hier gewohnt …«

Ich nickte abermals, sie aber fügte schnell hinzu:

»Ich will Sie auch gar nicht lange stören … nur, nur … es ist so furchtbar schwer, sich von dem Ort zu trennen, wo man so viel erlitten hat …«

»Hat es denn so sehr weh getan?«

Ich dachte an ihre Todesschmerzen, sie aber dachte an ihr Lebens- und Liebesweh und schien weinen zu wollen. Doch es kam kein Tropfen in ihre großen Augen. Und diese Augen waren keineswegs schwarz, sondern ausgesprochen hellblau und mochten ehemals, bevor das Gift der Träume ihren Glanz zerstört hatte, ein paar frohe, lustig lachende Mädchenaugen gewesen sein. … Mit den blauen Augen harmonierte der blonde Kopf, in dessen Locken und Löckchen es flimmerte und leuchtete, wie ich das vorher nie auf einem menschlichen Kopf gesehen hatte … Die Formen ihres kleinen, zierlichen Körpers waren voll, und ihr rundes Gesicht sehr blaß, aber den reinweißen Teint belebte an dem süßen Kinn eine feine rosige Röte, und auch die Ohren waren so zartgefärbt, kleine, hellhörige Ohren, die beweglich schienen.

Vielleicht mißverstand sie mein Interesse an ihrem Gesicht, sie wandte sich, ging zur Chaiselongue und nahm den Eckplatz ein, bis wo das Licht meiner niedrig gestellten Arbeitslampe nur in einem bräunlichen Schimmer hindrang … Aber ich sah doch ihre kleinen Hände leuchten, die nervös zitterten und bebten.

Ich war verlegen und wußte nichts als die dumme Frage:

»Warum haben Sie denn gerade Lysol genommen?«

Der Portier hatte mir das erzählt.

»Man kriegt doch nichts anderes … und dann, sehen Sie: sich erschießen, dazu hat ein Mädchen doch den Mut nicht! … Ja, wenn man noch einen hat, der die Pistole abdrückt und womöglich selbst mitkommt! … aber ich!« sie seufzte tief auf »ich wollte ja ins Wasser gehn, aber jetzt im Winter … es is so kalt, und dann nachher, da kommt man in das Haus, Sie wissen schon! … und muß da ausgezogen liegen und jeder alte Kerl kann ein' ansehen … höchstens noch die Pulsadern aufschneiden … bloß da kriegt man nachher Angst und schreit, und dann verbinden sie einen und 'sis alles umsonst gewesen!«

Sie schwieg. Ich sah ihre klare Stirn und das seltsame Flimmern der blonden Haare wieder, und die Lust beschlich mich, mit der flachen Hand darüber hinzustreichen.

Indem erhob sie die Augen, in die etwas wie der ferne Abglanz eines Lächelns kam, und sagte:

»Es ist ja vielleicht nicht ganz passend, daß ich so des Nachts allein zu einem einzelnen Herrn komme, aber … es war doch meine Wohnung … hier …«

»O bitte, bitte sehr, Fräulein … überhaupt unter diesen Umständen …«

»Ja, wenn man tot ist!« erwiederte sie, und auf einmal kam es mir vor, als sei nicht sie es, die da sprach, sondern das Zimmer, der leere Raum, das Schweigen der Nacht selber redete eine vernehmliche, eindringliche Sprache, und dazwischen tickte die Wanduhr und mahnte an die Ewigkeit.

Das sagte ich ihr. Aber sie zeigte nicht das mindeste Verständnis. Offenbar hatten die irdischen Dinge noch volle Gewalt über sie.

»Es muß etwas da sein, was mich immer wieder hierherzieht,« meinte sie fast flüsternd, »denn ich will Ihnen nur offen gestehen, ich war gestern nacht auch schon einmal hier, aber da schliefen Sie schon.«

Zum ersten Male, seit der Besuch mein Zimmer betreten hatte, erfaßte mich ein Grauen: daß sie jetzt hier war, bei Licht, wo ich sie sah, mich über ihr Aussehen und ihre Kraft vergewissern konnte, das machte gar nichts! … Aber im Dunkeln, wahrend ich schlief – da erwürgt einen ja ein Kind!

»Ja,« fuhr sie fort, »es muß noch etwas hier sein für mich! Denn, das wissen Sie doch, solange wir nicht alle unsere Sachen richtig gemacht haben, solange hält uns die Erde nicht … kein Wurm geht eher an die Leiche … es ist gerade, als wenn ein Mensch nicht einschlafen kann, weil er etwas sehr Wichtiges zu besorgen vergessen hat … wenn er sich auch oft nicht darauf besinnen kann, was es ist.«

Das Mädchen pausierte und sah mich groß und fragend an, was mich von neuem ängstigte; dann meinte sie:

»Ich hoffte schon, mein Bräutigam wäre hierher gezogen  … es hätte ihm vielleicht keine Ruhe gelassen um mich …«

Und sie fing an zu weinen, wobei ein schluchzendes Geräusch entstand, ohne daß ich Tränen in ihrem Gesicht sah. Und wieder hatte ich das Gefühl, als weine alles um mich her, als sei meine ganze Umgebung von einer tiefen, tränenlosen Traurigkeit ergriffen, die wildaufschluchzend mich mitzureißen drohte.

Aber ich wehrte mich dagegen mit allen Kräften.

Und plötzlich fiel mir etwas ein: eine tolle Neugier, mit dem Anflug einer abscheulichen Begierde verbrämt, packte mich. Ich fragte:

»Was hätten Sie denn getan, wenn es wirklich Ihr Bräutigam gewesen wäre, der hier wohnte?«

Da zuckte ihr Mund, dieser kleine volle Mund, der so heiße, feste Küsse versprach; ich sah trotz der Dämmerung wie ihr Gesicht sich färbte, und vernahm staunend, wie sie mit einer Innigkeit sondergleichen, mit der ganzen Glut einer liebenden und wieder geliebten Frau, tief atmend sprach:

Dann wäre ich zu ihm gegangen und hätte mich ihm hingegeben.«

Und da wußte ich mit einem Male den Schmerz dieser Toten: sie war Jungfrau geblieben und bereute es im Tode.

Aber ihr Weh war noch größer, als ich dachte!

»Darum hab' ich ja fortgemußt!« rief sie klagend, »weil ich das damals durchaus nicht wollte, darum ist er gegangen! … Immer und immer hat er mich gebeten, aber nein, ich wollte nicht! Und wie er mir dann geschrieben hatte: entweder – oder! Da wollte ich erst recht nicht! Und dann kam der Ring zurück, und ich, ich konnte noch lachen, so recht trotzig: ich brauch' dich ja nicht! Geh, zu wem du willst! Aber mich laß in Frieden! … Sehen Sie, und dann kamen die Tage, wo ich anfing, unruhig zu werden. Zuerst bloß 'n bißchen, aber jeden Tag mehr. Ich wartete auf 'n Brief von ihm … Aber weil ich ihm die ersten nicht beantwortet hatte, schrieb er auch nicht mehr … Und wenn ich da noch nachgegeben hätte! … Wenn ich da wenigstens zu ihm hingegangen wäre! Aber nein, ich wollte nicht, auf keinen Fall! Zuletzt da hab' ich immerzu geweint, bloß noch einmal küssen wollte ich ihn, aber er kam nicht. Und dann hab' ich geschrieben. Und da kam ein Brief von ihm, wo er mir schrieb, nu' könnt' er nich mehr, er hätte schon 'ne andre, und die wäre lieb und gut zu ihm und täte alles, was er haben wollte … und da … und da …«

»Da sind Sie hingegangen?«

»Ja!« ihr Busen flog, sie preßte ihre beiden Hände darauf und keuchte, »da hab' ich die andre gesehn, und die war viel schöner als ich!«

»Armes Kind!« sagte ich traurig.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, jetzt nicht mehr … wenn man tot ist, hören die Schmerzen auf … bloß die Unruhe bleibt, wenn noch etwas da ist …«

Mir fiel das weiße Kuvert ein im Briefkasten.

»Warten Sie mal, Fräulein …«

Ich erhob mich, nahm die Lampe, und dabei war's mir, als schüttle ich Schlaf und Traum ab, wie einen schweren Mantel.

Dann ging ich, von einer plötzlichen Furcht ergriffen, die mir verbot, die Augen dorthin zu wenden, nach der Ecke, in der sie gesessen hatte … Und mit heimlichem Schauder vernahm ich, daß hinter mir alles still blieb, daß kein noch so leiser Tritt den Estrich berührte … Aber ich wagte nicht, mich umzudrehn. Draußen auf dem Flur stand ich still und sah die leere Treppe hinab, auf deren Holzstufen der matte Schein meiner Studierlampe schwankte, und wie gebannt war ich von der Furcht vor dem Ungewissen, vor dem, was nicht da ist, und was wir doch tausendfach fühlen.

Da … mir war's, als klappte leise das Schloß des Briefkastens … mit schwerer Überwindung wandte ich den Kopf – ich war ganz allein, außer mir war niemand auf der Treppe.

Aber der Briefkasten? – ich hielt die Lampe heran – der Kasten war leer … Der Brief, den ich noch vor zwei Stunden mit diesen meinen Augen gesehen hatte – der Brief war fort. Der Kasten war leer.

Ich weiß nicht, wie ich in mein Zimmer gekommen bin.


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