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Das Telegramm

Der grüne Wagen fuhr in langsamem Trab die Chaussee hinunter nach der Strafanstalt. Der Kutscher auf dem Bock sah lustig in die blaue Morgenluft und selbst der Schutzmann, dessen blanker Helm durch das Gitterfenster sichtbar wurde, machte ein vergnügtes Gesicht. Der Maientag war aber auch zu schön.

Die Verbrecher, die im Wagen saßen, schwatzten miteinander durch die Holzwände, die den Wagen in zehn oder zwölf Abteilungen teilten. Nur einer saß stumm und teilnahmslos in der engen Zelle, die für seinen mächtigen Körper viel zu klein und jedenfalls sehr unbequem war. Er mußte seine Schultern seitwärts drehen, um sie nicht einzukeilen, und seine Knie preßten sich hart an das Holz der Tür, welche man nicht hatte schließen können, aber all' diese körperlichen Unbequemlichkeiten wären ihm gleichgültig gewesen – seine Seele litt Qualen, die so groß waren, daß er den leiblichen Schmerz nicht fühlte.

Martin Ackermann war zu drei Jahren Zuchthaus wegen Meineides verurteilt worden. Und er hatte in der Tat falsch geschworen. Um eine Lumperei! … Irgendein Kamerad, der Flugblätter verteilt hatte und deswegen eine kleine Geldstrafe fürchtete, hatte ihn als Zeugen benannt, daß er neben Ackermann den ganzen Tag über gestanden und gearbeitet habe. Und Martin Ackermann hatte das beschworen! … er beschwor es, weil er glaubte, es sei so! … er war der festen Überzeugung gewesen, der andere habe wirklich an jenem Tage neben ihm gestanden und gearbeitet … und obenein war es – zu seinem Unglück – ein so besonderer Tag … durch ein schnellfahrendes Automobil waren vormittags zwei von seinen Kollegen umgerissen und nicht unerheblich verletzt worden … das hatte der Staatsanwalt gut ausgenutzt! … »Meine Herren Geschworenen! Ich bitte Sie, daran zu denken, in welch einer Zeit wir leben! Der Geist der Unbotmäßigkeit schleicht durch die Lande und nur die Härte des Gesetzes hält viele Elemente vom offenen Aufruhr zurück! … In dem Angeklagten sehen Sie ein solches Element! Er hat sich hier vor Ihren Augen offen zu einer Partei bekannt, die als hauptsächliches Ziel den Umsturz der bestehenden Staatseinrichtungen sich gesetzt hat! … Diesen Leuten ist alles das verabscheuenswert und gemein, was uns das Heiligste und Erhabenste dünkt! … Sie kennen keine Religion, und unser Sittengesetz erscheint ihnen lächerlich! … Der Angeklagte besonders ist ein Mensch, der schon in der Schule durch kecke und unbotmäßige Fragen an den Lehrer und Geistlichen den Religionsunterricht oft störte. Heute sieht man die Konsequenzen dieser Handlungsweise. Sie bestehen in Meineid! … Meine Herren Geschworenen, vergegenwärtigen Sie sich das, bitte! … dieser Mensch, den Sie da stehen sehen, der uns noch soeben den ehrlichen Arbeiter so meisterhaft vorspielen konnte, dieser Mann hat, um einen anderen vor drei Mark Ordnungsstrafe zu bewahren, wissentlich falsch geschworen! … Glauben Sie ihm nicht, wenn er behauptet, irgendeine Sinnestäuschung sei ihm verhängnisvoll geworden! … So was gibt es nicht! Ich bitte Sie darüber nachzudenken, ob Sie selbst schon einmal jemand, der sonst Tag für Tag neben Ihnen arbeitete, vermißt und dann geschworen haben, er sei dagewesen?! … Das haben Sie nicht, und das hat niemand, der kein Meineidiger ist! … Dieser Mann aber ist ein Meineidiger, und ich bitte Sie, ihn des wissentlichen Meineides schuldig zu sprechen und ihm auch, in Anbetracht seiner geradezu gemeinen Handlungsweise, alle mildernden Umstände zu versagen!«

Martin machte, während er das noch einmal überdachte, eine Bewegung mit den Schultern, die das Holz des Wagens knacken ließ … Einen Augenblick kam ihm die Idee, diese paar Bretter wegzubrechen und den Schutzmann, der ihn augenblicklich allein in der Freiheit hinderte, niederzuschlagen, aber dann besann er sich … er wollte das ihm angetane Unrecht mit Würde ertragen. Er wollte gehorchen und die Leute im Gefängnis überzeugen, daß er ein braver Mensch sei, der wohl wie jeder andere eines Irrtums, aber niemals eines Verbrechens fähig sei. Nur eines machte ihm Angst, seine Mathilde, seine Braut! … O, sie war ein gutes, anständiges Mädchen, die ihm treu blieb, darauf baute er Häuser! Aber was konnte ihr sonst nicht alles passieren! Und er konnte ihr nicht helfen, wenn sie krank war oder wenn der unbarmherzige Meister, Kapital geheißen, sie eines Tages gleich so vielen anderen Leidensgefährten auf die Straße warf! Das arme Mädchen mußte für eine alte, gebrechliche Mutter mitarbeiten, und so kam sie nie dazu, einen Pfennig für weniger gute Tage zurückzulegen … Martin Ackermann seufzte tief. In all dem Dunkel war nur ein Lichtblick: die Partei glaubte an ihn! Für seine Kameraden war er nicht weniger achtungswert, wenn er das Zuchthaus verlassen würde, als vorher. Und das hielt ihn trotz der entsetzlichen Schwere seines Unglücks aufrecht, das gab ihm Mut und Kraft, auch das Furchtbarste zu ertragen.

Der Wagen hielt vor der Strafanstalt. Die Gefangenen wurden herausgetrieben, wie man die Schweine aus dem Wagen in den Hof des Schlächters hineintreibt. Und dann schloß sich die große Eisenpforte wie hinter den andern, so hinter Martin für drei lange Jahre.

Schon bei der sogenannten Einkleidung wurde die Ruhe und Gelassenheit des Mannes auf eine harte Probe gestellt. Der Aufseher, der die Kleiderkammer unter sich hatte, meinte: »Uff Riesen sind wir hier nich injerichtet, so'ne Leute sollten lieber ihre Knochen brauchen un arbeeten! … na, wenn et ooch draußen nich jejangen is, hier jetzt et, da kannste da druff verlassen!«

Martin Ackermann sagte kein Wort. Aber in seiner Brust hatte er ein Gefühl, als wäre da ein Wurm, der ihn peinigte. Doch es kam besser. Als er in dem ihm absolut nicht passenden dunkelbraunen Sträflingsanzuge dem Direktor der Anstalt vorgeführt wurde, fuhr dieser, der als früherer Offizier vor allen Dingen ein tadelloses Aussehen von seinen Leuten verlangte, den Aufseher an.

»Wie sieht denn der Mann aus! Is doch kein Anzug für ihn! … paßt ja garnich!«

Der Aufseher entschuldigte sich, es wäre kein passendes Zeug für den übergroßen Sträfling dagewesen. Doch der Direktor blätterte jetzt in den Akten. Seine Stirn zog sich kraus.

»Aha … Sozialdemokrat! … na, hör mal, Du, damit kommste hier nich weit! Den Unsinn schlag dir man aus dem Kopfe!«

Martin Ackermann lächelte kaum merklich. Seine Überzeugung, die konnte ihm doch wohl kein Mensch nehmen!

Der Direktor aber wies ihn mit harten Worten hinaus und drohte, ihn bei der geringsten Widersetzlichkeit einfach krumm schließen zu lassen!

Die Ruhe des Hünen, den die anderen Gefangenen, die ebenfalls aus diesem oder jenem Grunde »Appell« beim Direktor hatten, neugierig und verwundert ansahen, war bewundernswert. Er ging still die eisernen Treppen hinauf und an der Balustrade entlang bis zu seiner Zelle, wo ihn der Aufseher der Station, welcher Martin zugeteilt war, schon erwartete.

»Na, mein Sohn,« sagte der schon ältere Mann, »wie war's?« und da der Gefangene naturgemäß nichts erwiderte:

»Weshalb biste denn hier?«

»Wegen Meineids.«

»So … da haste also falsch geschworen?«

»Ja.«

»Wissentlich?«

»Nein.«

»Na, denn kriegt man doch kein Zuchthaus!«

»Das Gericht hat aber angenommen, daß ich wissentlich falsch geschworen hätte … ich bin Sozialdemokrat.«

»... So … so …!«

Und von diesem Augenblick an hatte Martin Ackermann im Zuchthaus jemand, der es gut mit ihm meinte und der ihm viel nützen konnte. Er fügte sich auch gern den kleinen, pedantischen Eigenheiten des Beamten, säuberte seine Zelle tadellos und machte sein Bett so, daß Laken und Kopfkissen nur eine einzige Linie bildeten, und mit solcher Akkuratesse gewann er sich das Herz seines Aufsehers vollkommen.

Wenn nur die Arbeit nicht gewesen wäre! Nicht etwa, daß sich Martin gern auf die faule Bärenhaut gelegt hätte, o nein! Aber was man ihm zu tun gab, das brachte ihn zur Verzweiflung! … Ein Mensch, der gewohnt ist, mit zwanzig Pfund schweren Granitstücken die Straßen zu pflastern, der die eiserne Ramme zehn Jahre lang gehandhabt hat, der soll nun mit einemmal Zigarren drehen! … Eine Tätigkeit, die eine leichte, feinfühlige und äußerst geschickte Hand verlangt, wie kann die jemand ausführen, der wohl ein Hufeisen zusammenzubiegen imstande ist, aber absolut keine Nadel zu halten vermag?! Und wenn er sich noch so viele Mühe gab, die Tabaksblätter zerrissen immer wieder! … und bekam er einmal eine Zigarre fertig, so preßte die nicht zu bändigende Kraft seiner Muskeln den Tabak so fest zusammen, daß der Glimmstengel keine Luft hatte. Da bekam er dann fast die ganze Arbeit von dem Arbeitsaufseher, der an sich ein galliger und unfreundlicher Mensch war, zurück und wurde obendrein jeden Tag angeschnauzt. Wäre er nun klug gewesen und hätte sich lieber anfänglich ein paarmal bestrafen lassen, die Arbeit aber trotzdem nicht erlernt, so wäre man schließlich doch wohl zu dem Entschluß gekommen, ihn anderweitig zu beschäftigen. Aber sein guter Wille wurde ihm verhängnisvoll. In der unverrückbaren Absicht, sich die Achtung und das Wohlwollen aller zu erringen, ließ er nicht nach in seinen Bemühungen und erlernte mit unsäglicher Mühe wirklich die Zigarrenmacherei. Das erkannte sogar der ewig nörgelnde Arbeitsaufseher an, der meinte:

»Nu brauchste bloß noch dein Pensum fertig kriegen, denn wirste 's hier schon aushalten!«

Martin freute sich darüber wie ein Kind, wenn nicht dieses greuliche »Du« in der Anrede gewesen wäre, hätte er sich in diesem Augenblick glücklich fühlen können, denn auch von seiner Braut hatte er günstige Nachrichten. Sie schrieb, sie verdiene jetzt mehr als früher, ihre alte Mutter hätte eine Aufwartestelle angenommen, und so käme sie nun wohl bald dazu, etwas zurückzulegen.

Nächsten Monat sollte Martin zum erstenmal sein volles Pensum vorweisen, und er sah heute schon, in der Mitte des Monats, daß ihm das nicht möglich sein würde. Seine Hände hatten das feine Zufassen, die Zartheit und die Genauigkeit der Bewegungen, welche zum Metier des Zigarrenmachers notwendig ist, endlich begriffen … aber während sie Zentner mit der größten Schnelligkeit hantierten, vermochten sie die einige Gramm wiegende Zigarre nur unendlich langsam zu formen … und soviel sich Martin auch anstrengte, ein schnelleres Tempo dafür zu gewinnen, es gelang ihm nicht! … Der Monatserste kam heran, und da er sein Pensum bei weitem nicht voll aufweisen konnte, so entzog man ihm drei Tage lang die warme Kost. Er hatte bescheiden auf seinen wirklich guten Willen und seinen Fleiß hingewiesen, aber der Arbeitsaufseher meinte mit hämischem Lächeln:

»Wenn einer eine Zijarre machen kann, denn kann er auch mehr machen! … oder er lernt es eben erst jarnich! das is bloß Faulheit!«

»Das mein' ich auch,« hatte der Direktor erwidert, der einmal den Sozialdemokraten überhaupt nicht grün war und sich außerdem darüber ärgerte, daß gerade dieser Gefangene seine Theorie von der Unbrauchbarkeit und Widersetzlichkeit der »Roten« so gründlich zunichte machte.

»Du kannst noch froh sein, daß ich dich nicht einsperre, aber das nächstemal, wenn du wieder dein Pensum nicht fertig hast, dann gibt's einfach Dunkelarrest bei Wasser und Brot.«

Und der nächste Monat kam heran, und abermals fehlten mehrere hundert Stück Zigarren an dem Pensum des Gefangenen Ackermann.

»Diesmal wer'n wir dich 'n bißchen anders anfassen,« meinte der Direktor, »fünf Tag Dunkel mit Entziehung der warmen Kost und des Bettes! … und halt mal, du schreibst ja, wie ich gesehen habe, so gerne Briefe! … das woll'n wir dir fürs erste legen … schreibt oder empfängt keine Briefe für die Dauer eines Vierteljahres … abtreten!«

Der Oberaufseher, der diese Strafen in sein Buch notierte, ein als gefühllos bekannter Mann, sagte draußen auf dem langen dunklen Gefängniskorridor ebenso schleppend, wie er ging und sich bewegte:

»Da hast du zum erstenmal Gelegenheit, auch die Kellerräumlichkeiten des Hauses zu beaugenscheinigen, und wenn du vorbeikommst, dann achte mal auf den Bock, der vor Zelle 13 steht, darauf bindet man die Widersetzlichen fest, um ihnen das Leder vollzuhauen; na, du bist ja nicht widersetzlich, was?« setzte er heuchlerisch hinzu.

Der Gefangene erwiderte nichts. Er ging ruhig hinauf in seine Zelle und ließ sich ebenso ruhig am andern Tage von seinem Aufseher in den Arrest bringen. Und dem Aufseher imponierte die stille Größe, die in dem klaglosen Dulden des einfachen Arbeiters lag; er sagte bedauernd:

»Ich wer' nu wohl in den nächsten Tagen wechkommen von Station zwölf … tut mir eigentlich recht leid … ich habe dich jerne unter meine Leute jehabt.«

Der Gefangene dankte ihm mit einem warmen Blick. Dann ging er ruhig, fast stolz, in die Kellerzelle hinein, der man mittels eiserner Läden das Licht entzogen hatte.

O, wie grauenhaft langsam vergingen hier die Minuten! Selbst diese widerwärtige Zigarrendreherei wäre hier ein Labsal gewesen! Die Zelle war bis auf eine Holzpritsche vollkommen leer. Rechts in der Ecke befand sich ein Klosett und die Wasserleitung. Er hatte das mit den Händen der Finsternis abgefühlt. Und nun nahm er den zinnernen Becher und füllte ihn langsam und vorsichtig mit Wasser, aß auch ein wenig von dem schwarzen, groben Brote, das hier gereicht wurde. Aber er hatte keinen Appetit. Daran litt er überhaupt, seitdem er sich im Gefängnis befand, ihm fehlte die schwere, gesunde Arbeit in frischer Luft. Und wenn diese verhältnismäßig kurze Zeit auch seine Kräfte nicht hatte brechen können, so fühlte er doch jetzt oft eine ihm früher völlig fremde Nervosität, die ihn schwerer ruhig bleiben ließ bei den Ungerechtigkeiten seiner Kerkermeister.

... Wie oft war er wohl schon in der Zelle hin- und hergegangen? … fünfhundertmal? … tausendmal? … sicherlich, es mußte schon nachmittag sein! … da schlug die Uhr auf der Gefängniskirche zehn. … Welch bittere, schmerzliche Enttäuschung! … Und dieses Sichirren und Enttäuschtsein wiederholte und steigerte sich zu einer tiefen, grenzenlosen Niedergeschlagenheit. Dann läutete die Mittagsglocke … und zum erstenmal heute, wo er nichts bekam, empfand er das Gefühl eines nagenden Hungers. Er versuchte wieder in das trockene, harte Brot zu beißen, aber der süßlichdumpfe Geschmack widerte ihn an … er legte es fort und begann über Parteiprobleme nachzudenken, die früher in den Diskutierabenden seines Klubs besprochen worden waren … das gelang ihm auch eine Zeitlang, dann begann das alte Leiden von vorne, eine schwere, durch nichts zu bannende Langeweile hielt ihn umklammert und steigerte seine nervöse Erregung.

Er versuchte zu schlafen. Wie oft hatte er früher über Mittag dicht neben seiner Arbeit auf dem harten Erdboden geruht … und der Schlaf war gleich gekommen und hatte ihn gestärkt und wieder frisch gemacht … jetzt auf dem Holz, das gewiß nicht viel härter war, taten ihm alle Knochen weh, es gelang ihm nicht, einzuschlafen.

Ganz, ganz allmählich fing er an böse zu werden auf seine Peiniger … er überwand dieses Gefühl wieder, aber es kehrte von neuem zurück und wurde heftiger, und mit einemmale knirschten seine Zähne, seine Augen rollten, so daß er selbst es fühlte, und alle seine Muskeln spannten sich wie im Krampf. Er warf sich vorwärts mit dumpfem Prall auf die Pritsche hin und krallte seine Nägel in das Holz, dabei dumpfe, brummende Töne ausstoßend, wie ein Bär, den der Jäger angreift … dann fing er an zu schluchzen, ohne daß Tränen seine Augen feucht machten, und sein Körper wand sich und schlug gegen die harte Mauer.

Wie lange er so gelegen hatte, wußte er nicht. Auf einmal wurde es hell. Der Arrestaufseher stand neben seiner Pritsche und sagte, wenn er seine Verrücktheiten nicht ließe, würden sie ihn in die Tobzelle bringen … Und der Gefangene besann sich und ward ganz ruhig.

So verging ein Tag und noch einer. In halb bewußtloser Mattigkeit und mit einer Trauer im Herzen, die ihm das Leben fast unerträglich scheinen ließ, wartete er das Ende seiner Strafe ab. In der Nacht lag er zusammengekrümmt auf seiner Pritsche und wurde, kaum eingeschlafen, von der empfindlichen Kälte geweckt, um wieder einzuduseln und wieder zu erwachen. Jeder Zoll Fleisch tat ihm weh und sein Rücken war wie zerbrochen.

Am Nachmittag des dritten Tages ging plötzlich die Eßklappe, der Aufseher warf etwas herein und schrie:

»Da, ein Telegramm für dich!«

... Was? … ein Telegramm?! … eine wichtige, sehr wichtige Nachricht also! … von wem denn? … doch von Mathilde! … 'n andern hatte er ja gar nicht, der an ihn schrieb! … was wollte sie denn? war sie krank? … sicher, sonst gab sie das teuere Geld gewiß nicht aus für die Depesche! … aber, wenn man ihm ein Telegramm gab, so mußte er es doch auch lesen! … hier konnte er aber doch nicht lesen, in dieser Dunkelheit! … er ging an die Zellentür, wo sich eine Klingel befand, und läutete.

Niemand kam … und auf einmal dachte er an seinen Wutanfall, den er vorgestern gehabt hatte … nein, nein, er wollte auf jeden Fall ruhig bleiben! … ruhig … nur ruhig!!! … und doch knirschten seine Zähne schon wieder aufeinander, als würde Sand zerrieben … dann klingelte er abermals. Jetzt kam jemand; der Aufseher. Die Klappe fiel.

»Was willst du?« schnauzte der Beamte.

»Licht,« sagte der Gefangene ganz ruhig.

»Wohl verrückt, was?!«

»Ich will das Telegramm lesen, das ich bekommen habe.«

»Du willst …du willst …« höhnte der Aufseher, »gib mal auf der Stelle das Telegramm her … is dir zur Kenntnisnahme übergeben worden … hast es jetzt lange genug gehabt, jibb' her!«

Damit streckte er die Hand in die Klappenöffnung.

Der Gefangene hielt das Telegramm an seine Brust gepreßt. Er stöhnte.

»Na, wird's bald?« schrie der Aufseher, »oder soll ich erst reinkommen?«

Dabei streckte er den ganzen Arm hinein, als wollte er nach dem Gefangenen greifen … ha, was war denn das, da hatte etwas seinen Arm gepackt und riß ihn unter einem dumpfen Brummen mit furchtbarer Gewalt an sich … schreiend, und weil er fürchtete, der Arm werde ihm aus dem Gelenk gerissen, nachgebend, streckte der Aufseher nun auch seinen Kopf in die Klappe.

Und da drinnen in dieser auf einmal so fürchterlichen Finsternis stand ein Mensch, in dem die Brutalität seiner Schergen die Bestie entfesselt hatte, und zog und zog.

Das Geheul des Aufsehers, der durch die wenig über einen Schuh im Geviert messende Klappe der schwer gepanzerten Tür hindurchgerissen wurde, drang in alle Räume des Hauses. Dieser Mann, dem der Brustkorb eingedrückt und dem jedes Glied seines Körpers langsam zerquetscht, zerrissen und zerbrochen wurde, schrie so fürchterlich, daß draußen, jenseits der Zuchthausmauern, wo der Direktor in dem behaglichen Arbeitszimmer seiner Villa ein Mittagsschläfchen hielt, die Luft erbebte und der Traum des Schlafenden unterbrochen wurde … Und zu all den anderen Beamten, die schon händeringend vor der Türe der Kellerzelle standen, durch deren Eisenrachen langsam der gemarterte Leib des brüllenden Aufsehers verschwand – zu all den durcheinander redenden und zum Teil mitheulenden Beamten kam nun auch der Herr Direktor selbst.

Der Angstschweiß lief ihm von der Stirn, während er durch die Zellentür sprach … er bat, er beschwor, er versprach dem Gefangenen Straferlaß, aber diese Bestie da drinnen, die er selbst hatte entfesseln helfen, hörte auf nichts mehr … zuletzt flogen die Füße des Aufsehers hindurch; man hörte einen Prall … dann war drinnen alles still.

Und als man nach langem Harren und unter allen möglichen Vorsichtsmaßregeln die Zellentür öffnete, da saß der Gefangene, dessen riesige Gestalt in dem Halbdunkel doppelt ungeheuerlich erschien, blutüberströmt neben dem Toten auf der Erde und lallte wie ein Kind. Er war wahnsinnig.


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