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Meineid

Wie anders wirkt dies Zeichen
auf mich ein!

Goethe.

Heinrich Schwartenbeck fuhr aus seinem Hindämmern empor, der Aufseher hatte mit seinem Schlüssel auf das stählerne Schloß geklopft und gerufen:

»Nummer Zweihundertunddreizehn fertig machen!«

Zuerst war der Materialwarenhändler bei solchem Anruf ruhig sitzen geblieben, aber mehrfache, sehr energische Ermahnungen aus dem Munde des »Herrn Aufsehers« hatten ihn belehrt, wie schnell man im Untersuchungsgefängnis zu gehorchen habe! … Und heute war überdies die Hauptverhandlung! Schwartenbeck war sich so recht gar nicht klar über die Wichtigkeit dieser Gerichtssitzung, man hatte so viele Verhöre und Konfrontationen mit ihm vorgenommen, manchmal zwei und drei an einem Tage! … Und der Untersuchungsrichter war ihm förmlich in die Seele hineingekrochen, freilich ohne etwas zu finden … Und dann die Angst um seine Frau, um sein Klärchen … und die Eifersucht … er wollte sich's ja nicht eingestehen, aber er war eifersüchtig! Mit ihren hellen, blauen Augen musterte sie verstohlen jeden Herrn, und wenn er ihr Vorwürfe machte, dann lachte sie so recht kindlich … aber sie tat's doch wieder …

Der Aufseher schloß die schwere, mit Stahlblech beschlagene Tür aus.

»Los!« kommandierte er.

Und, ganz ohne daß er es wollte, Takt nehmend, ging Heinrich Schwartenbeck vor ihm her … Des Kaufmanns etwas schwerfälliger Kopf war unablässig mit seinem Schicksal beschäftigt, er konnte nicht glauben, daß man ihm viel anhaben würde, denn was er getan hatte, das war doch nur ein Ausfluß seines weichen, verzeihenden Herzens und seiner großen Liebe für die kleine blonde Frau, die immer lachte, wenn er zärtlich war, und die sich seinen Umarmungen entwand mit der Entschuldigung, er kitzelte sie so! … Der Materialwarenhändler, der trotz seiner Mittelgröße fast zwei Zentner wog, trottete achtlos, mit gesenktem Kopf, wie ein Bär, den man geblendet und seiner Freiheit beraubt hat.

»Latschen Sie nich so!« brüllte ihn der Aufseher an.

Ohne Widerspruch nahm sich der Kaufmann zusammen.

Seine Zelle lag im zweiten Stockwerk des Gefängnisses, und er mußte über eiserne Galerien, schmale Wendeltreppen hinunter, dann über viele Steinstufen hinab, schließlich durch einen glasgedeckten Gang. Nun war er im Gerichtsgebäude! … Und dort brachte man ihn in das Zimmer der Angeschuldigten.

Ein großer, kahler Raum, in dem es sehr heiß war. Die Fenster konnte man nicht öffnen. Und die Luft war verpestet durch den an der Tür stehenden Urineimer … Eine furchtbare Beängstigung überkam den Materialwarenhändler; schon seit Jahren litt er an Asthma und mußte überall frische Luft haben … Das war der einzige Grund gewesen, weshalb er sich manchmal mit seiner Kläre gestritten hatte, er wollte immer bei offenem Fenster schlafen, auch im Winter, und sie konnte es nie warm genug kriegen … Aber sonst war sie doch sehr lieb, wenn sie auch 'n bißchen liederlich war und er ihr in der Wirtschaft immer nachräumen mußte … Es stand ihm noch so lebhaft vor Augen, wie sie vor zwei Jahren zum erstenmal bei ihm kaufte! … Sie arbeitete auf Schürzen mit ihrer Mutter, die eine eigene Nähstube hatte … Und dann kam sie öfter, und er schenkte ihr jedesmal 'n paar Bonbons oder ein Stück Seife … bis sie mal eines Sonntags zur Kirchzeit was holen wollte, wo der Laden zu war … Da ließ er sie hinten vom Hof aus rein … und da war das passiert … sie weinte furchtbar, und er machte sich auch die allergrößten Vorwürfe, aber es war doch nun einmal geschehen und nicht mehr zu ändern! … Am Nachmittag kam die Mutter und sagte, ihre Tochter hätte ihr alles gebeichtet; was er tun wollte? … Na, das war natürlich nicht so leicht! Er war so lange Junggeselle geblieben und hatte sich ganz wohl dabei befunden. Als Ladeninhaber hatte er das, was man so braucht, immer gehabt … und sonst war er ganz gern allein gewesen … Aber wenn man's so recht bedenkt, man wird immer älter, und im Geschäft eine Hilfe haben, das ist auch gar nicht so ohne! … So hatte er denn geheiratet … Und bis vor einem Vierteljahr war auch alles wunderschön gegangen …

»Wat hast du denn jemacht, Dicker?«

Der Materialwarenhändler war ganz erschrocken aufgefahren aus seinem Brüten. Einer von den andern Angeschuldigten hatte ihn angesprochen. Er sah sich den Mann an, ein böses Gesicht, das gewiß heute nicht zum erstenmal durch vergitterte Fenster blickte. Auch die andern, meist sich laut unterhaltend und faule Witze reißend, flößten ihm Scheu ein. Er antwortete nicht, und sie lachten ihn aus; einer sagte:

»Det is woll der dicke Eduard … du! … biste am Ende der King of Limmerick?« … Und dann fing er an einen deutsch-englischen Gassenhauer zu singen, über dessen Gemeinheit der Materialwarenhändler ganz starr war. Der Gesang wurde aber durch den Schließer unterbrochen, der einen kleinen hinkenden Menschen herausholte, welcher vollständig nach der Seite gebogen ging. Einer der Zurückbleibenden wußte von dem und erzählte:

»A hat 'n Fluchtversuch jemacht, dabei is a uff'n Hof jestürzt … nu trägt a 'n Jippskorsett, weil de Wirbelsäule entzwee is, aba det macht nischt! Vaknacken tun se'n daderwejen doch, Jerechtichkeet muß sind!«

Dem dicken Kaufmann schauderte … immer schwerer rang er nach Atem, es flimmerte ihm vor den Augen, und mit schwacher Stimme bat er seinen Banknachbar um etwas Wasser.

»Hol' da doch alleene wat!« meinte der, aber ein Blick auf den Leidenden ließ die Hilfsbereitschaft, welche unter diesen Menschen so groß ist, aufflammen, er holte den wenig appetitlichen Wasserkrug, aus dem dort jeder Dürstende trinken muß, und setzte ihn dem Materialwarenhändler an die Lippen.

»Ich kriege keine Luft!« murmelte Heinrich Schwartenbeck.

»Na, denn missen wa nach'n Uffseha klingeln!«

Das machte den Leuten Spaß, daß sie einen Anlaß hatten, den Beamten zu bemühen. Der eine klingelte gleich dreimal! Der Aufseher kam:

»Was is los?«

»Da is eena krank jeworn! … Der Mann braucht Luft!«

»Das jlaub' ich! … Warum nich jleich Jilka!« Und der Aufseher wollte schon wieder verschwinden, da belehrte ihn ein nochmaliger Blick auf den Gefangenen, daß dieser einer Ohnmacht nahe war. Er ging zu ihm hin, betrachtete ihn mit mißtrauischen Blicken und sagte, innerlich fest überzeugt, jener simuliere:

»Warum melden Se sich denn nich bei'n Arzt?«

»Das hab' ich getan, der sagt, dafür gibt's hier nichts!«

»Na also, was soll ich denn dabei tun?«

Und der Beamte wollte sich schon wieder entfernen, als es ihm doch noch einfiel, zu sagen:

»Kenn' ja die Fenster uffmachen … meintwejen … «

Er gab einem der Gefangenen den Schlüssel, und dieser öffnete eines der Fensterrechtecke. Sowie die kalte klare Winterluft hereindrang, wurde es dem Materialwarenhändler besser. Er richtete sich auf und begann schweratmend auf und nieder zu gehen. Als jetzt derselbe, der ihn vorhin gefragt, wieder herankam, war er offenherziger und sagte auf dessen Frage, weshalb er hier sei:

»Wegen Meineid!«

Aber was er für einen Meineid geleistet hatte, das wollte er doch nicht sagen! … Er konnte es doch nicht! Dazu hätte er ja seine ganzen häuslichen Verhältnisse hier bloßstellen müssen! … und besonders seine Klara! … Und er begann wieder angestrengter darüber nachzudenken, wie alles gewesen war, was er vor dem Untersuchungsrichter gesagt hatte und was er jetzt sagen sollte. Er hatte ja auch einen Verteidiger, aber komisch! er hatte zu dem Mann kein rechtes Zutrauen … Wenn ihn bloß seine scheußliche Nervosität nicht wieder überkommen wollte, wo er denn immer ganz konfus wurde und gar nicht mehr wußte, was er sagen sollte … In dem Zustand war er auch ein paarmal vor dem Untersuchungsrichter gewesen, und was sie ihm da vorgelegt hatten an Protokollen! … Er hatte ja schließlich unterschrieben, weil der ihn so anfuhr. Aber was drin stand, davon hatte er keine Ahnung! … Er hatte auch da gesagt, daß ihm nicht wohl wäre und daß er nicht folgen könne; aber darauf gaben sie ja nichts!

Warum Klärchen ihm bloß so sehr selten schrieb? … Zuerst war er fast verrückt geworden, weil vierzehn Tage lang überhaupt kein Brief von ihr kam … Ihn persönlich besuchen durfte sie ja nicht! … Während der ganzen Untersuchungshaft war ihm jeder Verkehr verboten, auch sein Anwalt durfte erst am zehnten Tag zu ihm … Nein, was er in dieser Zeit erlitten hatte! Keiner sagte ihm ein Wort, und als er in seiner Verzweiflung beim Spazierengehen auf dem Hof, wo sie immer wie verrückt rennen mußten, mit seinem Vordermann ein paar Worte wechseln wollte, da bekam er zuerst einen Verweis und 'n paar Tage drauf, wo er's wieder versuchte, wurde er bestraft mit »zwei Tagen Entziehung der warmen Kost« … Aber das hätte er alles noch gerne ertragen, wenn er nur etwas von seinem Klärchen gehört hätte! Wie sie dann endlich doch schrieb, da erfuhr er, sie wäre krank gewesen, so sehr hätte sie sich aufgeregt über seine plötzliche Verhaftung! … Heinrich Schwartenbeck küßte den Brief viele Male, aber er durfte diesen ebensowenig wie die spärlich folgenden Briefe behalten, man nahm sie ihm sofort wieder weg. Darüber zankte er sich sogar mit dem Aufseher, der ihn, wenn er ärgerlich war, immer mit »Du!« anredete, obwohl Heinrich Schwartenbeck gewiß fünf Jahre älter war, als der Beamte … Klärchen hatte dann auch Geld eingezahlt, damit er sich selbst beköstigen konnte … das war doch sehr lieb von ihr! … Das Gefängnisessen hatte Heinrich Schwartenbeck fast nie angerührt … Er war schon ganz mager geworden! Wenn er jetzt raus kam, wollte er sich doch gleich mal wiegen! … Aber wenn er nun nicht raus kam? … Ach was, Unsinn! … das war ja … Unsinn …

Die Tür war aufgegangen, Heinrich Schwartenbeck war gerufen worden. Er hatte es in seinem schweren Sinnen ganz überhört. Wie im Traum ging er über die Korridore und Treppen und fühlte sich am Ende irgendwo hineingeschoben.

Da war eine Bank, auf die setzte er sich. Unweit von ihm saß ein gefährlich aussehender Kerl mit verbundenem Kopf, der wartete auch, worauf? … Da drüben saßen Leute auf einer Bank vor einer Schranke, und hinter der Schranke waren auch Bänke, da saßen auch Leute. Ach Gott, da war ja sein Klärchen! … Sie nickte … Aber sie lachte gar nicht … Er freute sich doch, ganz warm wurde es ihm in der Brust! … Wer kam denn da? … Ach so, die Geschworenen! … Den neben ihm, den hatten sie eben schuldig gesprochen. Und das Gericht gab ihm anderthalb Jahre Gefängnis. Dem dicken Mann lief ein Schauder über den Rücken …

»Schwartenbeck!"

»Jawohl!« Der Angeklagte fuhr empor. An die achtungslose Art, ihn einfach bei seinem Namen zu nennen, war er schon so gewöhnt in seiner zweimonatigen Untersuchungshaft, daß ihm diese unvornehme Behandlungsweise kaum noch auffiel. Nun wurde er nach seinem Nationale gefragt; dann beschloß der Gerichtshof, die Öffentlichkeit auszuschließen, wegen Gefährdung der Sittlichkeit. Das war Heinrich Schwartenbeck ganz recht: so konnten wenigstens nicht alle seine Nachbarn in der Fidicinstraße in die Geschichte reinkucken!

Und freigesprochen mußte er ja doch werden!

»Erzählen Sie also den Hergang!« verlangte der Vorsitzende, in dessen Stimme auch nicht eine Spur von Milde war.

Heinrich Schwartenbeck blickte nach der Tür, durch welche seine Klara mit den andern Zeugen verschwunden war, und wieder mußte er daran denken, was für ein hübsches neues Kleid sie angehabt hatte … Wenn sie nur nicht zuviel Geld ausgab in seiner Abwesenheit … sie neigte ein bißchen dazu … und das Geschäft ging sowieso nicht besonders … die starke Konkurrenz!

»Na, woll'n Sie nu vielleicht loslegen?!« sagte der Vorsitzende mit erhobener Stimme.

Heinrich Schwartenbeck erzählte alles, wie es war. Eines Tages hatte die Budikersfrau von nebenan geklatscht: sie hätte durchs Fenster, hinter dem die Vorhänge nicht fest zugezogen waren, die junge Frau Schwartenbeck mit einem Manne im Bett liegen sehen, der nicht Herr Schwartenbeck war … Ja … das hatte die Person überall 'rumerzählt! … natürlich hätte er als Mann sich das nicht gefallen lassen können, um so mehr, als es auch nicht wahr gewesen wäre! … Denn der Mann, der da im Bette gelegen hätte, der sei er selber gewesen!

»Allerdings!« sagte der Präsident, »das haben Sie ja auch beschworen! … Aber die Anklage nimmt an, daß Sie diesen Eid in dem Zivilprozeß, den Sie gegen die Restaurateursfrau Schmedicke angestrengt haben, nur deswegen geleistet hätten, um Ihre Frau von dem Verdacht der ehelichen Untreue reinzuwaschen! … Es wird Ihnen außerdem vorgeworfen, daß Sie Ihren Hausdiener zu bestechen versucht haben, damit er aussagen sollte, Sie wären in der Tat derjenige gewesen, der mit Ihrer Frau im Bette lag … «

»Das is nich wahr! … das is … «

»Schon gut … wir werden ja die Zeugen hören!«

Die Zeugenvernehmung begann.

Da beschwor zuerst die Budikersfrau, die in dem Zivilprozeß zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden war und deshalb natürlich Rache schnob, sie hätte den Mann zwar nicht erkannt, aber nur deshalb nicht, weil sie ihn eben nicht erkannte …

»Das heißt, Sie meinen?« sagte der Vorsitzende in sanftem, nachhelfendem Ton, »Sie haben den Mann wohl gesehen, aber er ist Ihnen fremd, nicht wahr?«

»Ja, ja!« Die Budikersfrau war ganz glücklich.

Es kamen nun verschiedene Leumundszeugen, die alle beschworen, daß sie der Kaufmannsfrau diese Handlungsweise recht wohl zutrauten. Sie scherzte immer mit der Kundschaft, besonders mit der männlichen; und wenn ihr Mann nicht zu Hause wäre, dann kämen die Reisenden bis hinten in die Stube!

Heinrich Schwartenbeck bekam einen förmlichen Schwindelanfall: durften denn die sowas sagen hierin der Gerichtsverhandlung? … Das Schlimmste war ja, daß er auch schon sowas gehört hatte, von Leuten sogar, die ihm wohl wollten! … Und er hatte ja auch gar nicht an dem Tage mit seiner Frau zusammen im Bett gelegen! … Klärchen hatte geweint und geschluchzt, als er in sie drang, ihm alles zu sagen … Passiert war ja auch nichts, das hatte sie ihm zugeschworen! … Der Reisende von der Schokoladenfabrik, der freche Kerl, der wäre ihr nachgekommen, wie sie Geld geholt hätte … und da hätten sie sich rumgekabbelt. Das war alles! … Sollte er, Heinrich Schwartenbeck, seine Frau darum öffentlich an Gerichtsstelle für ein gemeines Frauenzimmer erklären lassen? … Da hatte er eben geschworen, er wär's gewesen, er hätte mit ihr im Bett gelegen!

Jetzt wurde der Reisende der Schokoladenfabrik vorgerufen, und dieser Mann – Heinrich Schwartenbeck faßte sich mit beiden Händen an den Kopf, er dachte, er sollte umsinken! – der Mann sagte aus … nein, nein! das war ja nicht wahr! das konnte nicht wahr sein!!

Der Materialwarenhändler stöhnte dumpf, der Vorsitzende machte ihn aber darauf aufmerksam, daß er sich im Gerichtssaal ruhig zu benehmen hätte.

Nach dem Reisenden kam der Hausdiener: der Angeklagte hätte zu ihm gesagt, er müßte sich doch daran erinnern können, daß er selbst an dem Vormittag zu Hause gewesen wäre … und da sei er doch auch mit seiner Frau hinten gewesen, im Schlafzimmer … und dabei hätt' er ihm 'ne Mark gegeben.

»Und Sie haben das sofort als Beeinflussung aufgefaßt?« fragte der Präsident.

Der Zeuge nickte.

»Er hat mich doch bestohlen, und da hab' ich ihn raus geschmissen!« rief der Materialwarenhändler dazwischen.

Der Vorsitzende wurde sehr böse.

»Sie haben garnichts zu reden! … Übrigens ist das ja auch ganz klar, als Ihnen der Zeuge unbequem zu werden drohte, da haben Sie sich seiner entledigt!«

Heinrich Schwartenbeck senkte sein Haupt. Zum erstenmal kam ihm die ernste Befürchtung, er werde doch nicht heute so ohne weiteres den Gerichtssaal verlassen … Aber jetzt erblickte er seine Frau, seine Klara, die der Gerichtsdiener eben hereingerufen hatte … Die würde ihm helfen! … Aber sie sah gar nicht nach ihm hin, sie ging direkt an den Zeugentisch heran, ohne daß man sie noch vorgerufen hatte, und erwiderte auf das, was der Vorsitzende zu ihr sagte, so leise, daß ihr Gatte auch nicht ein Wort hören konnte.

»Sie machen also von Ihrem Recht der Zeugnisverweigerung Gebrauch!« sagte der Präsident, und sein Gesicht hatte nichts Unfreundliches, wie er die schöne Sünderin anblickte, die gesenkten Hauptes zurückging und sich auf der Zeugenbank unweit von dem Schokoladenreisenden niederließ, der sie dreist anstarrte.

Es sollten nun die Entlastungszeugen zum Worte kommen. Der eine sagte, er kenne den Kaufmann Schwartenbeck schon seit langen Jahren und habe nie das geringste Unehrenhafte über ihn erfahren.

Der Präsident nickte, das wäre sehr schön, wollte aber für diesen Prozeß gar nichts besagen, jeder Verbrecher wäre früher einmal 'n anständiger Mensch gewesen … Und als ein zweiter Zeuge aussagte, er traute dem Materialwarenhändler einen Meineid nicht zu, da ließ ihn der Vorsitzende einfach abtreten und erklärte, er würde weitere Entlastungszeugen nicht vernehmen, denn ob irgendein beliebiger Freund des Angeklagten diesem das verbrechen zutraue oder nicht, wäre gänzlich belanglos für die Entscheidung des hohen Gerichtshofes!

Nun erhob sich der Staatsanwalt. Er sprach kurz und ohne Verständnis für die eigentliche Sachlage. Der Anwalt des beschuldigten Materialwarenhändlers schien unter der Empfindung zu stehen, daß die allgemeine Stimmung gegen seinen Klienten sei. Der Mann gab sich Mühe, aber seine Worte überzeugten niemand.

»Hat einer von den Herren Geschworenen noch eine Frage an den Angeklagten zu richten? … Nein? … Angeklagter, haben Sie selbst noch etwas zu sagen?«

Die Frage kam unendlich müde und gleichgültig von den Lippen des Allgebietenden.

Ja, ja! … Heinrich Schwartenbeck hatte noch unendlich viel zu sagen. Aber gerade weil es so sehr, sehr viel war, was er zu sagen hatte, besann er sich auf garnichts … Er stammelte hilflose Worte …

»Also schön,« sagte der Vorsitzende und begann den Geschworenen die übliche Rechtsbelehrung zu erteilen … Der Kaufmann wollte zuhören, aber den Sinn all der Worte verstand er nicht.

Die Geschworenen zogen sich zurück, auch der Gerichtshof verließ den Sitzungssaal … Heinrich Schwartenbeck aber lächelte ein irres, hilfloses Lächeln … Alle Blicke, die er zu seiner Frau hinübersandte, blieben unerwidert, und ihm kam eine Ahnung seines traurigen Schicksals.

Die Geschworenen blieben nicht allzu lange im Beratungszimmer, der Fall lag ja auch zu klar für jeden halbwegs denkenden Menschen! … Ihr Verdikt lautete: Der Materialwarenhändler sei des wissentlichen Meineides schuldig! … Von der Verleitung zum Meineid hatten sie ihn freigesprochen.

Dann zog sich der Gerichtshof zur Beratung zurück und erschien noch schneller wieder als das Volksgericht: der Angeklagte war zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt.

»Stehen Sie auf!« rief der jetzt herzutretende Schutzmann den auf die Bank Niedergesunkenen an.

Aber Heinrich Schwartenbeck konnte diesem Befehl nicht mehr nachkommen. Mitleidiger als die Menschen, hatte der Tod mit leisem Finger sein schwaches Herz berührt.


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