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Der Familienrat

Es ist kaum glaublich!« sagte Onkel Eduard, »und ich halte es nach meiner festesten Überzeugung für 'ne vorüberjehende jeistige Gehirnstörung!«

»Sie haben gut reden!« seufzte der Konsistorialrat Martin Hegendorf, ein wohlkonservierter Sechziger. »Sie sind ein freier Mann und brauchen keinerlei Rücksichten zu nehmen, außerdem sind Sie doch viel weitläufiger verwandt … uff,« er blieb stehen und hielt sich am Treppengeländer fest, »ich hasse diese hochgelegenen Wohnungen! … aber das ist auch solche Schrulle von meiner lieben Frau Schwester. Natürlich, wenn man solche Dusche von Mann … ja, verzeihen Sie, lieber Eduard, aber mein Schwager, so herzensgut er ist, Autorität besitzt er nicht für fünf Pfennig! Na, nu' hat er das ja auch davon!«

Sie stiegen die dritte Treppe hinauf, und währenddem lachte Onkel Eduard mit seiner für einen fünfzigjährigen unerfreulich hellen Stimme. Der Konsistorialrat, ein bißchen Asthmatiker, zuckte zusammen und dachte bei sich, weshalb man den hageren, in seiner ganzen Erscheinung etwas karikierten Mann, dem für heute nachmittag angesetzten Familienrat nicht lieber ferngehalten hätte? Dieser Onkel Eduard, der vor Jahren, selbst noch sehr jugendlich, eine sitzengebliebene Mutterschwester seines Schwagers geheiratet hatte, war bis zu diesem Zeitpunkt eine wohl ziemlich problematische Existenz gewesen. Er hatte dann das mitgeheiratete Vermögen sehr vermehrt – über das »Wie«? waren sich die Leute auch nicht einig! – und genoß jetzt nach dem Tode der Frau das Leben in einer Weise, die schon fast die Grenze des öffentlichen Ärgernisses streifte … Warum man gerade solchen Mann zur Mitberatung einer so überaus ernsten Frage heranzog? – das vermochte der Konsistorialrat nicht recht einzusehen.

Die Herren, beide in dunkeln Winterüberziehern und Zylindern, die Füße hingegen in Galoschen, des feuchten Herbstwetters wegen, standen nun in der dritten Etage des Hauses in der Frobenstraße, das ihrem Verwandten, dem Fabrikbesitzer Wilhelm Stagge, gehörte. Sie klingelten.

Ein sehr niedliches Dienstmädchen in hellem Waschkleide, ein weißes Mullhäubchen auf dem blonden Scheitel, öffnete.

»Guten Tag!« sagte Onkel Eduard überfreundlich und zwinkerte dem Konsistorialrat so auffallend zu, als wollte er sagen: »Du, sieh dir mal die an! Was sagste dazu?!« – Der Rat aber tat, als bemerkte er »diese höchst überflüssige Zeichenmacherei« nicht und fragte mit einem Ton, der seiner Würde entsprach:

»Sind die anderen Herrschaften schon da?«

»Ja,« sagte das Mädchen mit jener leisen Stimme, die guterzogene Dienstboten in Gegenwart der Herrschaften stets haben und die dem Empfang im Entree, selbst zu den lustigsten Gesellschaften, immer etwas so Feierliches gibt, »die Herrschaften sind im Eßzimmer, beim Kaffee.«

»Na, das is doch wenigstens 'was Vernünftiges!« lachte Onkel Eduard absichtlich recht ungeniert, denn er ärgerte sich im stillen »über diesen aufgeblasenen Heiligen, der so tat, wie wenn er ihn schulmeistern wollte«. Und, ungesehen von dem Konsistorialrat, kniff er das Dienstmädchen in die Backe.

Drin im Eßzimmer, einem großen, in dunkler Eiche und grünlichem Leder gehaltenen Raum, der sein Licht von einer mächtigen, in Kupfer getriebenen Hängelampe erhielt, saßen schon fünf Personen, als die Herren eintraten.

Ein großer Mann mit einem flachen Gesicht, das sehr verweint schien, und nicht weit von ihm sein etwa zwanzigjähriger Sohn, der dem Vater in allen Stücken: in der großen und doch kraftlosen Gestalt, den laschen Bewegungen und dem farb- und ausdruckslosen, aber sehr gutmütigen Gesicht durchaus ähnlich sah … Dann kam der Onkel Major, pensioniert natürlich und pekuniär vollkommen abhängig von seinem Schwager Stagge; er hatte dessen Schwester geheiratet und auch schon vor Jahren begraben. Major Brackert war der Typus des entschlossenen Mannes, den nichts überraschen kann, der jeder Situation gewachsen ist und ihr mit strengem, dräuendem Bild die Spitze bietet. Weshalb die Kellner in seinem Stammlokal den Herrn Major auch nie zu stören wagten, und wenn er selbst bis um fünf Uhr in der Frühe seinen Skat ausdehnte … Der vierte im Umkreis des runden Tisches unter der Hängelampe war Betriebsleiter und Direktor in einem großen technischen Instituts er hieß Walter Grebbe und hatte den Kopf so voll mit seinen Berechnungen und Zahlen, daß auch jetzt, wie überall, wo er sich aufhielt, ein weißer Zettel auf der Damastdecke des Kaffeetisches lag, der sich überraschend schnell mit Zahlen und Zeichen bedeckte, aus denen mit Ausnahme des Direktors niemand klug geworden wäre … So hatte es seine Nachbarin, ein feines Frauenbild mit braunem Puffenscheitel, in den sich Silberfäden mischten, mit der Unterhaltung nicht leicht. Auch sie, die Schwester des Hausherrn und nebenbei Vorsteherin einer Mädchenschule, war nicht schön, aber sie sah aus, als ob sie klug wäre und Witz besäße.

Das Mädchen kam jetzt und brachte für die beiden hinzugekommenen Herren frischen Kaffee. Auch das Auge des Konsistorialrates folgte dem graziösen Einherschreiten der hellen Gestalt, deren runde Brustlinie, wenn die prallen Arme die silberne Kanne emporhoben, so anmutig hervortrat.

Onkel Eduard hatte neben Fräulein Amalie Stagge, der Schulvorsteherin, Platz genommen. Und stets redefertig, ergriff er, kaum daß man dem Mädchen bedeutet hatte, man brauche sie vorläufig nicht und würde ihr eventuell klingeln, mit einer gewissermaßen einladenden Gebärde das Wort:

»Also, liebe Freunde, wir wollen uns doch nicht lange bei der Vorrede aufhalten, nicht wahr? – Die Tatsachen reden! Elise is weg! Was tun wir? Was hat zu geschehn? Ich meine, die Routen, die wir zu jehn haben, sind uns jenau vorjezeichnet! Natürlich kann man ja auch in solchem Falle der verschiedensten Ansicht sein, aber ich meine …«

Ein kleiner Knall ließ den Redner innehalten und zog die Augen aller auf den Onkel Ferdinand, den Major, der, wie er stets zu tun pflegte, und zwar ganz nach dem Grade seiner Gemütsbewegung in einer mehr oder minder lauten Weise, mit der Faust auf den Tisch geschlagen hatte.

»Halt!« sagte der Major, »so weit sind wir noch nicht! Es muß vorerst, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine Species facti aufgenommen werden! … Was wissen wir denn? … Wir wissen garnichts!«

»Na höre mal, lieber Ferdinand!« nahm nun der Onkel Martin, der Konsistorialrat, das Wort, »über die Art und die Größe des Affronts, der unserer Familie angetan ist durch … ja, ich muß es zu meinem tiefsten Leidwesen eingestehen: durch meine eigene Schwester angetan ist – darüber sind wir uns leider Gottes alle vollkommen klar!«

An dieser Stelle räusperte sich Tante Amalie, die Schulvorsteherin, und sagte mit ihrem feinen Lächeln:

»Einen Augenblick, lieber Martin! Ich finde es doch nicht ganz gerecht, auch besonders vom Standpunkt eines gläubigen Christen nicht in der Ordnung, daß eine Abwesende, die sich nicht verteidigen kann, so einfach in Bausch und Bogen verurteilt wird! … Du wirst mir glauben, wenn ich dir sage, daß ich persönlich keine Neigung fühle, derartige Extravaganzen gutzuheißen, aber … aber ich denke zu gerecht, als …«

»Na jewiß, selbstverständlicherweise!« Onkel Eduard, der in seiner Jugend Friseur gelernt hatte und vielleicht daher noch immer die verbindlichsten Gesten zeigte, riß jetzt, den Kopf zur Seite werfend und die Arme weit von sich streckend, das Gespräch wieder an sich, »es wird nichts so heiß gegessen, wie's gekocht wird! Und was wissen wir denn? Wir wissen, daß sie mit so 'ner Art Schriftsetzer, ach nee, pardon! Schriftsteller, wollt' ich sagen, daß se mit den abjereist is! … Wohin, das wissen wir auch nich! Und warum? Na, das kann sich ja natürlich jeder denken! Aber wissen? wissen tun wir jar nischt!« Er brachte, je mehr er in Erregung geriet, immer deutlicher und klarer das heimatliche Idiom zum Ausdruck, »ich will mal wat sagen! Wat die Frau fehlt, det weeß keener! Vielleicht bloß' 'n ornt'licher …!« Onkel Eduard machte hier eine drohende, nicht mißzuverstehende Gebärde, »aber vielleicht … vielleicht is se ooch krank un hat, wat ick Onkel Martin schon uff die Treppe jesagt habe, wat hier oben zu sitzen! … Kann man det denn wissen, heitzudage, wo sozusagen schon de halbe Welt varrickt is!«

Bei diesen Worten des sonst wegen seines allzu outrierten Benehmens und – offen gestanden! – auch seines mangelhaften Bildungsgrades wegen nicht sonderlich beliebten Onkels Eduard war es, als ginge ein Aufatmen durch die kleine Versammlung! Aber gewiß, ja, warum hatte denn daran noch sonst niemand gedacht?! … Tante Amalie nickte mit einem milden Lächeln; Onkel Martin dachte mit froher Erleichterung: »Kinder und Narren sprechen die Wahrheit!« Der Gatte der Durchgegangenen und deren Sohn horchten hoch auf, als hätte ihnen jemand zugerufen: »Mutter is bloß scheintot!« und selbst der Onkel Walter, der Betriebsleiter, gab einen Laut der Überraschung von sich, der allerdings daher rührte, daß er jetzt endlich den ganz törichten Fehler in der Berechnung des Antriebs einer elektrischen Wasserleitung gefunden hatte.

»Ja, ich glaube auch!« ließ Justus, der Sohn des Hauses, sich zum erstenmal vernehmen; aber was er glaubte, das blieb seine Schüchternheit der Gesellschaft schuldig.

»Hast du denn nicht schon vorher Anzeichen von Geistesverwirrung bei ihr bemerkt, Wilhelm?« fragte der Konsistorialrat. »Ich habe ja leider Elise in der letzten Zeit zu wenig gesehen, sonst … sonst wäre es dahin wohl nicht mit ihr gekommen!«

Die Schulvorsteherin schien den letzten Satz anmaßend zu finden. Das zeigte eine aufschnellende Bewegung ihrer weißen, schönen Hände und ein leichtes Zucken der vollen, mattroten Lippen. Aber sie beschied sich und blickte zu ihrem Bruder hinüber, dem Fabrikbesitzer, der dieser neuen Wendung in der, gerade ihn so tief treffenden Angelegenheit fassungslos gegenüberstand und absolut nicht wußte, was er antworten sollte.

Da half ihm der Major und meinte: er habe schon in der ganzen, letzten Zeit eine fortwährende Nervosität an Elise bemerkt. Wenn er sie um ein Gläschen Kognak gebeten habe, hätte sie nach Selterwasser geklingelt, und auch beim Diner hätte er sie oft zwei oder dreimal bitten müssen, sie sollte ihm den Rotwein herüberreichen! Das wären doch deutliche Zeichen einer fortschreitenden Verwirrung! …

Wie der grelle Ton einer hastig anschlagenden Glocke klang Onkel Eduards Lachen von der andern Seite des Tisches her dazwischen:

»Na, wissen Se, lieber Major, dadrin seh' ich nu noch jar nischt! Unsre jute Elise is vielleicht 'n Mäßigkeitsverein beijetreten, mit ihren Schreiber …«

»Aber ich bitte Sie, Onkel Eduard!« unterbrach ihn in offensichtlicher Mißbilligung der Konsistorialrat.

»Na ja, was denn? So 'ne Leute die sind ofte davor! Aber, wat ick sagen wollte: wenn wir darüber wat zu erfahren wünschen, dann müssen wir uns an dem Dienstmädchen halten, an der kleenen, hübschen, die vorhin die Türe uffjemacht hat … wie heetzt se doch jleich? – ach so ja, Lisette! Denn die war doch Tante Elisen ihr Faktum!«

»Sie meinen »Faktotum«!« sagte nachsichtig lächelnd der Konsistorialrat, dem es abermals schien, als habe dieser an sich fürchterliche Onkel Eduard mit seiner Bemerkung den Nagel auf den Kopf getroffen.

Einige Minuten später stand Lisette im Zimmer, ein wenig entfernt vom Kaffeetisch, in geziemender Haltung, das hübsche Köpfchen leicht gesenkt und noch halb angestrahlt vom Schimmer der Hängelampe, was das Bild doppelt reizvoll erscheinen ließ. Der Onkel Konsistorialrat hatte die Fragestellung übernommen, dem Mädchen gegenüber; denn man mußte sehr vorsichtig sein, weil dem Gesinde offiziell wenigstens noch nichts von der eigentlichen Ursache des »Unglücks« bekannt war.

»Sie wissen, Lisette,« sagte der Rat in einem sehr wohlwollenden Tone, daß die gnädige Frau, der Sie doch auch nahegestanden haben, daß Frau Stagge plötzlich fortgereist ist, nicht wahr?«

Das Mädchen nickte.

»Jawohl, Herr Konsistorialrat.«

»Nun, sehen Sie, Lisette, beim Forschen nach der Ursache dieses immerhin doch nicht leicht zu nehmenden Schrittes von seiten der gnädigen Frau sind wir auf die Idee gekommen, Sie einmal zu befragen … Sie sind stets in Gesellschaft der gnädigen Frau gewesen, Sie haben sie beobachtet, gesehen – haben Sie da vielleicht etwas bemerkt, was … nun, was auf einen veränderten Zustand schließen ließe?«

Das Dienstmädchen senkte erst den Kopf noch tiefer. Und dann – alle, selbst der eifrig rechnende Betriebsdirektor, sahen hoch auf! – dann kicherte Lisette plötzlich, steckte die Finger in den Mund und konnte sich das Lachen nicht verbeißen.

»Ha, was ist denn, Lisette? … was lachen Sie denn? … so reden Sie doch!« Er sprach jetzt streng, ja fast böse auf das Mädchen ein, der Herr Rat.

Die aber, weit davon entfernt, dadurch verschüchtert oder gar verlegen zu werden, sagte, noch immer kichernd:

»Aber ich kann das doch hier nicht so sagen, Herr Konsistorialrat!«

Jetzt dämmerte einem Mitglied des Familienrates, der Tante Amalie, etwas; sie wollte eingreifen, aber es war zu spät: gerade vor dem majestätischen Zorn des Kirchenherrn, der auf das Mädchen losdonnerte, fand dieses helle Berliner Kind seine ganze Unbefangenheit wieder. Sie stemmte die hübschen Arme auf die prallen Hüften und sagte:

»Na ja, Sie brauchen jar nich so schrein! … Und wenn Sie's denn durchaus wissen wollen: Die gnädige Frau is in andern Umständen! Darum is sie abgereist!«

Und vor den wie zu Stein erstarrten Gesichtern, die alles andere wie gescheit aussahen, sich hastig umwendend, lief Lisette spornstreichs hinaus.


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