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Die Ahne

Die Bäume rauschen und der Chausseestaub wolkt hoch hinauf im hellen Ostwind; und doch ist es so heiß, daß die Männer halbnackt hinter der Sense stehen und die Frauen alle Schicklichkeit beiseite setzen. Wer kann heute daran denken?! … Die Sensenstöcke werden ja so warm, daß man sie kaum halten kann, und dahinten auf Wulfen-Schulzens Plan ist gestern mittag ein Mann umgefallen, der hier am Morgen ankam und Arbeit suchte. Der Meister von Wulfens Hof, der gerade in den Krug trat, nahm ihn gleich an – in der Ernte ist jede Hand willkommen.

Ein kleiner, magerer Mensch war es; er liegt nun im Verschlag, wo sonst der Kutscher schläft, bei den Pferden … Er fiebert stark, und die alte Großmutter sitzt bei ihm und tut Eis auf seinen Kopf – der Brauer hat's dagelassen, als er morgens vorbeifuhr.

Die alte Frau ist beinahe neunzig. Ihr Enkelsohn, der den Hof hat, wird ja schon vierzig Jahre alt. Ja, sie hat manches gesehen in ihrem langen Leben! Hat vierzehn Kinder gehabt und zehne großgekriegt! Und wie viele sind ihr sonst gestorben von all den Ihrigen! Wenn sie so allein ist, dann wuseln sie um sie herum, die kleinen und die großen Schatten … und sie, sie spricht mit ihren Abgeschiedenen, wie wenn sie alle noch da wären und lebten rings um sie her … Laut sagt sie wenig, sie murmelt nur immer, die gute Alte, die noch heute mit ihrem schwachen Leibe die erste und die letzte ist bei der Arbeit … Manche im Dorfe denken wohl, sie wär' nicht mehr ganz richtig im Kopfe, Wulfen-Schulzens Großmutter; aber die sie kennen, wissen's besser … Wenn der Karren irgendwo im Dreck steckt, dann findet sie jeder! Dann redet sie auch und weiß Rat! … Was da vorkommt, das hat sie ja alles schon einmal gesehn; und was dann damals geschehen ist, das wird das Richtige auch wohl heute noch sein!

Seife vor sich hinredend, legt sie sorglich die mit kleinen Eisstücken gefüllten Tücher auf die dunkelrote Stirn, auf das rotbrennende Gesicht, dessen Augen aus dem Stalldämmer hervorstarren.

Die Schwalben kommen zwitschernd durch die niedere Tür und schießen froh wieder hinaus, neue Atzung zu fangen für ihre schreienden Jungen … Nebenan im Kuhstall brüllt die rote Schecke dem Stier zu … Der antwortet aus dem Winkel mit tiefem Gebrumm und reißt rasselnd die Ketten … Die Katze kommt in den Pferdestall und reibt ihren schwarzbunten Pelz an dem mageren Bein der Alten, die die kleine Florhaube auf dem wenigen weißen Haar trägt und auf dem Leibe nur ihr eigengewebtes Hemd und den Rock aus dem blauen Stoff, den sie vor vielen Jahren selber gesponnen, gewebt, in die Walkmühle getragen hat – meilenweit! – und den sie selber so kunstlos und einfach geschneidert und genäht hat … Als sie jung war, da kannte man auf dem Dorfe nur Arbeit; Geld war selten, und wer's hatte, der behielt's und dachte nicht dran, was auszugeben.

Und wieder will sie das Tuch mit Eisstückchen füllen, die der brennende Schädel des Kranken so schnell wegschmilzt.

Da – der Mensch sitzt aufrecht!

»Leg' di man widder hen, do!« sagt die Alte, der fast alle Zähne fehlen, undeutlich; ihre noch kräftige, arbeitsbraune Rechte möchte den Fiebernden zurückdrücken aufs Lager.

Er schüttelt den Kopf … wehrt sich …

»Sind se da?« fragt er heiser.

»Nä, dä sin all noch in de Aust,« beschwichtigte ihn die alte Frau, »un dä kamen ook all lang noch nich!«

Der Kranke sieht sich wild um, er seufzt erleichtert, fällt wieder zurück, so daß er den Kopf auf die Bettkante haut. Aber er merkt nichts, das Fieber nimmt alle Schmerzen fort und ersetzt sie durch seine Gluten.

»Wasser!« ächzt er.

Sie füllt einen Blechbecher aus dem Eiswassereimer und hält ihn dem Kranken an die rissigen Lippen … Der trinkt gierig.

»Jott sei Dank!« röchelt er, »endlich mal Ruhe!«

Wulfens Großmutter horcht kaum hin … sie ist immer bei den Ihren. … Wenn man soviel eigene hat und gehabt hat, was scheren einen da die fremden?!

Der Kranke stöhnt wieder, seine schmutzigen Hände krallen auf der Pferdedecke herum.

»Lass'n doch, Willem! … laß doch bloß!! … Mein Jott, sehste denn nich, wie der blutet! … wenn nu eener kommt! … Mensch, stieke! … Ja … ja … jleich! … So! … nu feste! … Ick halt'n ja! … Immer druff, Willem! … Det Aas! … Warum wehrt er sich denn? … Kann ja den Draht herjeben! … Laß man, Willem … ick … ick seh' schon! … Ja! … Da hat er nischt … nee, da ooch nich! … aber hier, det Portefelch … ach, um Jotteswillen, lauter Papiere! … noch nich 'n Fünfmarkschein is zwischen! … 'n Portemonneh? … Na also … sehste! … wer sagt et denn? … Du, Willem! … Der atmet ja noch! … Der lebt wieder uff! … Druff! druff! immer feste druff! … Hund, du mußt alle werden! … Sonst vamasselste uns noch de janze Tour! … Wie ville? … zweehundertvierzig Meter? … Na, det is doch wenigstens wat! … Nu man jleich Kippe machen! … Na ja, wat 'n sonst?! … Du meenst, ick leg' ma in Zraben un du türmst nachher los un machst 'n Wandersmann mit die Minzen? … Nee! … Jott, wie du aussehst! … Na, weeßte, wie de det abkrichst? … De reene Himbeersohse! …«

Der Mensch auf dem alten verschlissenen Strohsack lacht tonlos. Dann redet er mit den Lippen weiter; seine Hände, die sich auftun und zu schmierigen Krallen schließen, die sprechen ihre eigene fürchterliche Sprache.

Längst hat die alte Frau ihren hartsinnigen Kopf erhoben. Die müden Augen, die sonst nach innen schauten, sind starr auf den im Fieber Redenden gerichtet … Das war wieder so einer, wie damals vor dreißig Jahren hier im Dorf! – Sie wußte es, wie wenn's gestern gewesen wäre … Da hatte man den alten Hemmelmann, den Großvater von Beusters Trina, in seiner Stube erschlagen gefunden. Und Schandarm Späth, einer, der die ganze Hölle zuschanden ritt auf seinem Schimmel, der hatte sie eingeholt. … Da unten am Kanal in einer Heumiete hatten sie sich versteckt gehabt – 's war auch so um die Zeit herum, in der Aust! – Nu, der eine von den beiden, der ist ins Wasser gesprungen und ersoffen, den andern haben sie später einen Kopf kürzer gemacht! – – Und so einer ist der also auch, der da im Kastenbett liegt, im dämmerigen Pferdestall.

Und die Schwalben schießen heraus und herein aus der glastenden Sonne ins Dunkle und zwitschern so fröhlich, wenn sie wieder in den glühenden Julitag hinauskönnen … Die Schecke hat sich beruhigt, aber irgendwo in der Ferne sind Menschenstimmen.

Der alten Frau zittert das Herz ein bißchen … Angst hat sie eigentlich gar nicht; ihr Sterbehemd liegt ja fertig im Kasten und sie will im Sarge den Silberkranz auf dem Kopf tragen, der jetzt drüben im Hause, in ihrem Austragstübchen, unter Glas und Rahmen steht … Ja, … aber … er ist doch ein Mörder, der Mensch da! … ein Mörder!!

Und Wulfen-Schulzens Großmutter seufzt und will die Kompresse wieder mit Eisstückchen füllen … Der Doktor sollte ja auch kommen … Das wär' ihr jetzt ganz lieb, wenn er nur nicht immer gleich zwei Taler nehmen täte für jeden Gang!

»Un helpen künn hei all ook nich!«

Das Letzte hatte sie halblaut vor sich hingesagt … Nun blickte sie auf, die Kompresse in den runzligen Händen, da schaute der Mensch sie an – er war ganz wach! – so mißtrauisch! … so voller Feindschaft! … Er wußte auch gleich, daß er gesprochen hatte, denn er fragte.

»Ich weet nich,« meinte die Alte voll Ruhe, »ick hebbe nischt hürt!«

Aber er war's noch nicht zufrieden und suchte sie, mit all seiner Kraft, mit heißen, trockenen Lippen, mit fliegender Brust, in ein Gespräch zu ziehen … Er erzählte gar von sich selber, er log und redete buntes Zeug, das die alte Frau geduldig hinnahm.

»… Un denn hab' ich jelernt … in 'ne Knoppfabrik … aber's war nischt … un denn wieder weg … nach Stuttgart … un von da nach Mannheim … Da war ich in 'ne Meierei, aber da sagen se anders zu … hm … hm … na, ich weeß nich mehr … un mein Vater … der hat immer jeschrieben, ich soll doch nach Hause kommen …«

Er schwieg erschöpft.

»Wat is denn Jug Vadder?« fragte sie.

»Wat mein Vater is? … Der is Beamter … bei die Post is er … ja … anjestellter Beamter un sojar pensionsberechtigt!«

Die Alte ist wieder bei den Ihrigen … Einer von ihren Schwiegersöhnen, der Mann von der Jüngsten, der ist auch bei der Post und wohnt in Berlin … Und da sind auch so viel Kinder! … ach, du lieber Gott, das weiß sie gar nich, wie viele Enkel sie eigentlich besitzt! … Ja, von dem Postbeamten da sind zweie, die sind nicht so, wie sie sein sollten … ein Mädel und ein Junge, und beide weg von Hause … wohin? … ja, wer weiß? … sie hört auch das zehnte gar nicht, was ihr erzählt wird … aber das weiß sie, der eine Junge, der jetzt so an die zwanzig ran sein muß, der hat schon mal gesessen, im Gefängnis … gestohlen hat er …

Sie blickt auf den Kranken, der den Mund bewegt, als wollte er mehr sagen … Sie sieht ihn aufmerksam an … und über den Abendhimmel ihres Lebens zieht es wie eine dunkle Wolke.

»Ja,« sagt der Kranke, wie wenn er lachen wollte, »ja … un dann … bin … ich … bin ich hierher … jemacht … mit … noch eenen … Müller heeßt er … Müller …«

Es ist zu sehen, wie schwer ihm das Reden fällt, wie er sich Mühe gibt … Nun schweigt er wieder.

»Wie heeten Sei denn?« fragt die alte Frau absichtslos.

»Wedemeyer,« sagt er … Und schlägt sich gleich darauf vor die Stirn.

»Nee, Schulze! Schulze heiß ich! … Wedemeyer heißt meine Mutter!«

Und nun weiß Wulfen-Schulzens Großmutter alles! … Sie weiß, daß der da aus Berlin kommt, sie weiß, daß er ihr Enkel ist … Denn die Tochter heißt Wedemeyer; das ist der Name des Postbeamten, den sie geheiratet hat, in Berlin … Gestern, wie er kam, der da, hat ihr Sohn gesagt, der Mensch hieße auch Schulze … ja Schulze heißen viele! Das halbe Dorf heißt so und in Berlin noch viel mehr.

Die alte Frau tränkt ruhig wieder die Kompresse … Und legt sie dem da aufs Haupt … nur ihre alten braunen Hände zittern ein bißchen.

Der da ist ihr Enkel? – Sie kann's nicht glauben! … möchte so gerne Gewißheit haben! … Und getraut sich nicht, zu fragen.

Da sagt er:

»Ob ich woll sterben wer', Großmutter?«

Ein heißer Schreck durchfährt sie bei dem Wort. Und da sie nicht antwortet, spricht er angstvoll keuchend weiter:

»Denn müssen … Se's … meine Mutter … schreiben! …«

»Wie heet denn Jug Modder?« fragt die Alte ganz zaghaft.

»Marie … Marie Wedemeyer …« Er haucht es nur noch, dann schließen sich die trüben Augen; aber gleich reißt er sie wieder weit auf, in den grauen Lichtern flackert neue Angst.

Er starrt über sich. Das Fieber rast und raubt ihm von neuem das Bewußtsein … Nun liegt er wie tot, nur mit offenen Augen.

»Wech?! … wech! –«

Sie lauscht atemlos.

»Nee! … nee! … du! … laß mir! … laß mir … ich … ich … haaaah!«

Er brüllte laut auf in seinen blutigen Phantasien.

Der Alten graust's.

Hinter ihr kommen Schritte. Sie fährt herum! …

Der Arzt ist's.

Er fühlte dem Kranken den Puls, beklopft und horcht … dessen Körper fliegt, wie vom Sturm geschüttelt …

»Da ist nicht viel zu machen!« der Doktor spricht sehr laut, weil er glaubt, die alte Frau sei schwerhörig, »man gut, daß ich die Spritze bei mir habe … das Herz ist zu schwach!«

Und er füllt aus einem kleinen Fläschchen, das Kampherlösung enthält, die Pravazsche Spritze und sticht die Nadel in das Bein des Fiebernden.

Da fällt die Starrheit sichtlich von ihm, es ist, als dämmert er nun hin.

Dann ging der Arzt.

»Machen Sie man die Umschläge weiter, Großmutter!«

Und die alte Frau saß bei ihrem Enkel, der ein Mörder war, bis zum späten Abend, wo er hinüberschlief … Als die andern vom Felde kamen, war er tot.

Wulfen-Schulzens Großmutter ist seitdem noch wortkarger. Sie betet noch öfter als früher … Und manchmal in ihren wachen Träumen tastet die braune, zittrige Hand der Greisin, als wollte sie eine fiebernde Stirne kühlen.


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