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Im Zuchthaus

Der Zugang.

Warum bist du'n hier?«

Der »Alte«, der da an der mit heller Ölfarbe gestrichenen Wand des Korridors in einem Abstand von fünf Schritt neben dem »Neuen« steht, fragt schon zum dritten Male. Aber der Nachbar antwortet ihm nicht. Mit gesenktem Kopf steht der junge Mensch da und stiert verzweifelt auf den schwarzen Asphalt des Fußbodens.

Indem kommandiert der hinzutretende Aufseher:

»Vorwärts!«

Die beiden, mit den elenden Lumpen bekleidet, die sie trugen, als man sie verhaftete, gehen in dem vorgeschriebenen Abstand den langen Korridor des Erdgeschosses entlang an den Arrestzellen, von denen etliche unbenutzt sind und offenstehen, vorbei bis zur Kleiderkammer.

Ein sehr alter Aufseher nimmt sie dort in Empfang. Ein Kalfaktor bedient und schleppt Kleider hin und her.

Der Aufseher sagt:

»Ausziehen!«

Die beiden Züchtlinge entkleiden sich, sie haben schon den Maschinengehorsam in sich aufgenommen, der hier verlangt wird und der wie eine düstere Notwendigkeit auf die Seele des Hereinkommenden fällt.

Aber das schmutzige, zerfetzte Hemd von sich zu tun, das geniert den Schlanken.

»Na, man runter,« sagt der Kalfaktor, »willste dir die Staude etwa uffheben?«

»Wäsche,« sagt der Aufseher.

Die beiden gleiten rasch in die Zuchthauswäsche. Gebadet haben sie schon vorher.

»Anzug!« sagt der Aufseher.

Der Kalfaktor gibt ihnen die Alltagskleidung aus braunem, brettähnlichem Stoff. Und die dunkleren, mehr tuchähnlichen Sonntagskleider.

Wie er sich anzieht, fängt der Schlanke plötzlich an zu schluchzen.

»Mensch, bist woll verrückt!« raunt der Kalfaktor. Der Aufseher bemerkt nichts. Er klopft mit dem Schlüssel klingend gegen eines der großen stählernen Türschlösser.

»Los!«

Die beiden marschieren ab. Jetzt kommen sie sich scheinbar näher und der Rückfällige, für den es Ehrensache ist, zu erfahren, weswegen der andere »seinen Knast schiebt«, fragt schnell:

»Na, weswejen haste denn?«

»Wegen Meineid!« schluchzt der andere.

Entrüstet und enttäuscht zugleich sagt der Ältere:

»Wat, un dadrum weenste! … Dat is doch janischt! Da seh' mir an! … Wegen schweren Inbruch fünf Jahr! … wat haste denn …«

»Abstand da vorne! … Nummer Zweihundertundsiebzehn Mund halten!« schreit der Aufseher, der ihnen folgt. Und an der Korridortreppe kommt der »Alte« hinauf, ins erste Stockwerk, der »Neue« drüben in die Parterrestation. Sie sehen sich wahrscheinlich nie wieder.

Der Herr Bankdirektor.

»Herr Levy, es kommt Revision! Der Oberaufseher! … Sie müssen sich da drüben an das kleine Schränkchen stellen! … So, sehen Sie mal … so! … wenn er fragt, wie's Ihnen denn hier gefällt, das frägt er nämlich immer, gerade bei sone Leute, wie Sie, dann sagen Sie garnichts. Übrigens bleibt er nich lange … 's doch alles in Ordnung bei Ihnen?«

Und der Aufseher, der für seine Station und deren Akkuratesse verantwortlich ist, überblickt mit geübtem Auge den dreifächerigen Inhalt des an der Wand hängenden Schränkchens.

»Allens tipp topp!« Er lacht. »Na ja, wozu haben wir denn ooch sonst unsre Kalfaktoren! … Wat jemacht wern kann, wird jemacht … Ick jeh' jetz', Herr Levy! Also wie Pröppken, vastehn Se?!«

Der Bankier, der in der Tat nierenleidend und deshalb längst von dem sogenannten »Pensum«, d. h. der täglichen Leistung einer festgesetzten Arbeitsmenge befreit ist, nimmt den Roman, in dem er gelesen hat, vom Tisch. Dann legt er die zum Kartonkleben nötigen Papierstreifen der Reihe nach hin und befeuchtet etliche mit Kleister. Seine fetten, etwas gichtigen Hände kommen damit schwer zurecht, er seufzt und kratzt den kahlen Schädel mit der Linken … Muß dieser Esel von Oberaufseher auch noch kommen und ihn in seiner Lektüre stören! Nicht mal im Zuchthause hat man Ruhe! Er lächelt. Draußen an der Börse war er bekannt und gefürchtet wegen seiner scharfen, zynischen Bemerkungen, bis … bis er hierher kam … acht Jahre!! … Durch die Glieder des alternden Mannes geht ein Schauder. … Ob er wohl noch lebend rauskommt? … vier Jahre noch!

Die Schlüssel rasseln.

Der Oberaufseher, eine große, breitbrustige, aufrechte Gestalt mit unerträglichem Beamtengesicht und einer kleinen, lächerlichen Stimme:

»Na, was machst du?«

Der dicke, etwas asthmatische Bankier mit dem fetten Wachsgesicht starrt blöde in die Luft, hinter der Stahlbrille sind die sonst so listigen, dunklen Augen wie erloschen.

»Gefällt dir wohl nicht hier, was?«

Dabei überfliegt das Auge des alten Pedanten die ganze Zelle, aber es ist alles, wie der im Rücken des Vorgesetzten stehende Aufseher vorhin sagte: »Tipp Topp!«

»Dann adieu! … Sei man recht fleißig! Hörst du!«

Die beiden Beamten gehen. Die schwere Zellentür fliegt zu, das Schloß schnappt ein. Herr Levy sieht dem »Alten« nach, seine Augen leben wieder, er murmelt: »Gott, was für'n Ekel! … Der Schlag soll'n treffen!«

Fünf Minuten später ist »sein« Aufseher wieder bei ihm.

»Nu is er weg, Herr Levy! … Gott sei Dank! … Er bildet sich ein, 's geht nich ohne ihn! … Aber was soll man machen! … Ja, und was ich sagen wollte: haben Sie vielleicht noch 'n Wunsch, Herr Levy? Meine Frau fährt morgen in die Stadt … Also: Zigarren, von der kleinen zu 35 Pfennig, ja … und, nee warten Sie mal, ich wer' mir das lieber aufschreiben: Gänseleberpastete! Englische Kakes! Lacrimae Christi – die letzte Flasche hatte nicht lange gereicht, Herr Levy! – Sardinen in Tomatensauce und Mixed picles … ja … sonst nichts? … Na, wird besorgt, Herr Levy, auf Wiederseh'n! …«

Lebenslänglich.

Der Schlüssel des Aufsehers klopft klirrend aufs Türschloß.

»Spazierengehen!«

Der da drin Glasballons mit Weidenruten beflicht, ist ein großer, starker Mann, rasiert und kahl geschoren wie die anderen, aber von so starkem Haarwuchs, daß Kinn und Kopfhaut dunkelblau gefärbt erscheinen.

Er stellt den Glasballon vorsichtig auf die Erde. Geht an das Spind, unter dem die ledernen Halbschuhe stehen, und wechselt die Pantoffel gegen diese.

Dann stellt er sich an der Tür auf. Er hört den Aufseher auf der eisernen Galerie, die sich außerhalb der Zelle entlang zieht, näher kommen, und wieder, wie schon so manchmal, glimmt der Gedanke in ihm auf:

»Du rennst den Kerl über den Haufen un denn los!«

Aber er unterläßt das, diesmal wie immer: zwanzig Eisengitter und ebenso viele bewaffnete Beamte stehen auf dem Wege, der ins Freie führt, und überwindet man sie auch sämtlich, so sind draußen die hohen Mauern und Soldaten mit scharfgeladenen Gewehren! … Es hat eine Zeit gegeben, wo Nr. 28 an all' solche Dinge nicht dachte, wenn die Wut ihn packte … Vor zehn Jahren als er hierher kam … Aber da steht unten im Keller ein langer Lederbock, auf dem werden die Widerspenstigen festgeschnallt und geschlagen.

Nr. 28 knirscht mit dem festen Wolfsgebiß, er denkt immer an Flucht, er muß ja daran denken, das ist für ihn die einzige Möglichkeit, die Welt da draußen jemals wiederzusehen … Zweimal ist er ausgebrochen, nun hat man ihn in die feste Zelle gesteckt … es ist fast unmöglich, da was zu machen!

Die Zellentür geht auf. Nr. 28 tritt hinaus und in die Reihe. Die Galerie entlang geht's, immer im gemessenen Abstand, und die eisernen Wendeltreppen hinab ins Parterre. Von dort durch das kleine Tor in den Spazierhof. Das ist ein Fächer, dessen einzelne Stäbe Mauern sind, die Rundbogen sind starke Eisengitter. Und jedes Fächerteil ist fünfzehn Schritt lang und oben an seiner stärksten Stelle sechs Schritt breit. Durch das Gitter sieht jeder Züchtling ein Stück von dem Garten des Direktors.

Nr. 28 hat vor seinem Käfig ein paar Rosen, die er leidenschaftlich liebt. Er sehnt sich danach, diese Blumen ein einziges Mal an sein Gesicht zu drücken, ihren Duft wollüstig einzuatmen und sie zu küssen. Die Blumen hauchen mit ihrem zarten Geruch, den er zu spüren meint, die Erinnerung des Lebens in sein Herz. Und das Leben ist für den Gefangenen, solange seine Kraft noch nicht gebrochen ist, die Liebe! … das Weib! …

Nr. 28 ist fünfunddreißig Jahre alt. Mit fünfundzwanzig ist er wegen Gattenmordes zum Tode verurteilt und dann zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt worden. Er leugnet heute wie vor zehn Jahren, die Tat begangen zu haben. Aber jeder traut sie ihm zu. Er hat das Unglück, ein »Verbrechergesicht« zu besitzen … Einmal hat er einen Mitgefangenen fast erschlagen, der ihm zugerufen hatte: »Gattenmörder!« … Danach kam er wegen seiner »Gemeingefährlichkeit« wieder in Einzelhaft.

Der große Züchtling mit dem schwarzschimmernden, kahlgeschorenen Kopf steht an das Eisengitter gepreßt. Seine weit ausgestreckten Fäuste umkrampfen zwei Eisenstäbe, als wollte er sie verbiegen. Und seine großen Augen, die vor innerer Qual halb geschlossen sind, blicken sehnsüchtig nach den Rosen …


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