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Im »Rabenflügel«

Du, ick jloobe, er is dod!« sagte der verwachsene Philipp Neubauer, als das Geschrei im Souterrain des sogenannten »Rabenflügels« Die Abteilung des Gefängnisses, in welcher die jugendlichen Verbrecher untergebracht sind. plötzlich verstummte. Und das Flüstern im Kreise der jungen Gefangenen, die den großen Arbeitssaal füllten und sämtlich Papiertüten klebten, schien dem kleinen Buckeligen recht zu geben. Die Finger dieser vielen Hände, die so ungern arbeiteten, glitten vom Papier und Meisterpinsel, und der Aufseher mußte erst mit seiner drohenden Stimme ermahnen und mit Anzeigen drohen, ehe sie sich wieder ihrer Tätigkeit zuwandten.

Aber der Buckelige, ein notorischer Taschendieb, der seine Ausbildung an der »Puppe« Es gibt hier und dort Spitzbubenschulen, in denen besonders jugendliche Taschendiebe an einer Puppe, die frei im Ringe hängt, ausgebildet werden. Diese, wie eine Dame oder ein Herr gekleidete Puppe ist mit Glöckchen behängt und die Diebsschüler müssen der Puppe alles aus den Taschen ziehen, wobei die Glöckchen nicht erklingen dürfen. genossen hatte, verstand das Flüstern aus dem ff! Und sein Nachbar, ein ganz neuer »Zugang« Ein neu ins Gefängnis Eingelieferter., übrigens ein lang aufgeschossener blonder Bengel mit trägem, hinterhältigem Gesicht, der schon vorher in der »Fürsorge« In Fürsorgeerziehung. gewesen war, der wußte jedes Wort zu erhaschen.

»Wat er jemacht hat? Na, seinen Ollen machulle!« Tot.

»Seinen Vater?«

Der kleine Taschendieb nickte unmerklich.

»Woll! Del wa'n Soffkopp und hat imma uff seine Mutter losjedrescht un uff den Jungen ooch. Un da hat der Erich eenes scheenen Tages die Axte genommen un hat den Ollen de Kohlrübe Kopf. kurz und kleen jehackt … wat, nich jefallen lassen? … na, Mensch, det hat er doch in Schlaf jetan, der Olle pennte jrade! psst, du, der Schauter spannt Der Ausfseher guckt her.

In der Tat, so sehr der kleine Buckel sich auch vorsah, dem geschärften Gehör des Aufsehers konnte sein Erzählen auf die Dauer doch nicht entgehen. Er kam näher. Aber alle arbeiteten jetzt wie im Akkord. Der Beamte paßte eine ganze weile scharf auf, bis dann wieder ein anderer von diesen fünfzig »Raben« nicht gut tat. Und kaum veränderte der Mann in der Uniform seinen Platz, so schwatzte Neubauer weiter.

»Drei Jahre hat er … mildernde Umstände natierlich … un zwee is er schon hier … warum a' jetz' Pfeffer bezieht Schläge kriegt., det will ick dir sag'n: er hat zu den Pfaffen jesagt, der sollt'n ihm …«

Jetzt mußte der kleine Paddenklauer Taschendieb. doch nicht so recht aufgepaßt haben, der Aufseher hatte ihn sprechen sehen. Und der, ein mittelgroßer Mensch mit einem unangenehm flachen Gesicht, das schütterer Bartwuchs in blonder Franse umrahmte, zog sein Notizbuch vor und sagte mit bösem Lachen, das mehr wie Zähneknirschen klang:

»'ne Anzeige, du, Neubauer, 'ne Anzeige! wegen Sprechens bei der Arbeit! das dritte Mal, mein Junge, das dritte Mal! Da wird's woll was setzen, ja, da wird's woll was setzen!«

Und »… wird's woll was setzen!« klang es mit verstellter Stimme wie ein Echo von der anderen Seite des Saales.

Dem kleinen Buckeligen war es nicht wohl zumute, er lachte kaum mit den andern, als jetzt der Aufseher wie ein angeschossener Eber hinüberstürzte, um vergeblich nach dem Missetäter, der ihm nachgesprochen hatte, zu fahnden.

Der Polizeiinspektor, der die Hausstrafen verhängte, hatte dem Paddendrücker Taschendieb. schon das letzte Mal »Mackes« Prügel angedroht. Aber der Leichtsinn seines bei aller »Verworfenheit« doch noch so kindlichen Herzens half ihm über die Angst hinweg. Vorläufig wär's ja noch nicht so weit! Und voll Interesse starrte er mit den übrigen nach der Tür hin, wie diese jetzt aufging und ein anderer Beamter den soeben geprügelten Erich Kernstod hereinließ.

Es war ein starker Knabe, gut gewachsen, der trotz der Schmerzen, die er noch immer fühlen mochte und die seine Lippen sich zusammenpressen ließen, steif wie ein Soldat hereinmarschierte.

Als fürchte er neue Widersetzlichkeit des knapp Dreizehnjährigen, geleitete ihn der Aufseher bis an seinen Platz und dann beugte sich der Mann, der viel sympathischer als sein hier amtierender Kollege aussah, hinab zu dem Jungen und sprach leise, eindringliche Worte. Der hob den Kopf mit der schönen, freien Stirn und sah den Beamten mit seinen flammenden Augen an. Aber die Lippen, auf denen zwei Blutstropfen standen, blieben fest aufeinander; der starke, von tiefbraunem, kurzgeschorenem Haar bewachsene Kopf senkte sich und der Junge begann zu arbeiten.

»Da hat keiner hinzusehn! keiner hat was zu sehn!« schimpfte Aufseher Krüger los, als sein Kollege den Arbeitssaal verlassen hatte und alle diese jugendlichen Augen sich voller Neugierde auf den Geprügelten richteten.

»Ich melde jeden … melde jeden!«

Dann übergab er die Aufsicht einem »Alten«, der von allen gehaßt wurde, weil er seine Unglückskameraden verriet und ihnen wohl auch Vergehen andichtete, die sie gar nicht begangen hatten, nur um sich selbst bei dem Aufseher lieb Kind zu machen.

Aufseher Krüger ging inzwischen sich erkundigen, wie der »Jugendliche« Kernstock die Prüfung bestanden hatte. In ihm lebte nur Haß gegen diese »Bestien«, wie er sie am liebsten nannte. Er selbst redete sich ein, daß er aus Entrüstung über ihre Schandtaten so wütend auf sie sei. Aber die eigene unschöne Seele dieses Menschen wußte wohl, daß er, der nichts gelernt und auch zu keiner fruchtbringenden, muskelanspannenden Tätigkeit Lust hatte, in diesen Unglückskindern die Ursache seiner Mühe sah, den Grund, weswegen er früh aufstehen, sich anschnauzen lassen und doch hin und wieder Hand anlegen mußte … Und mit wollüstiger Befriedigung vernahm er, daß der Erich Kernstock zwar die ersten zehn Hiebe standhaft und kaum ein leises Stöhnen hören lassend, ertragen hätte, aber dann sei der Trotz doch gebrochen gewesen, und der Junge hätte geschrien wie jeder … Der rothaarige Aufseher, der ihm das erzählte, stärkte sich gerade durch ein Schinkenbrot und ein Glas Bier. Kauend und schmatzend sprach er seine Überzeugung aus, daß diese Strafe viel zu selten verhängt würde. Früher hätten auch die »Trotzen« drüben noch ihre Wichse gekriegt, da wäre doch noch was zu verdienen gewesen, jedesmal drei Mark, aber jetzt … na, darum würde das Gesindel auch immer frecher, und daher kämen auch die vielen Mordtaten!

Dann zündeten sich die beiden Biedermänner eine verbotene Zigarre an, öffneten aber erst das Fenster der Aufseherzelle, damit der Oberaufseher nichts röche.

Der Tag ging zur Rüste. Die Gefängnisglocke hatte längst das Zeichen zum Aufhören mit der Arbeit gegeben. Die Abendsuppe war verteilt und gegessen und die Jugendlichen stellten sich am Eingang des Arbeitsraumes in langer Reihe auf.

Wie im Traum war auch Erich Kernstock an seinen Platz getreten. Aber der Aufseher mußte ihn zweimal und beim zweiten Mal mit wütender Stimme rufen, ehe er wie die Kameraden zur Kontrolle laut seinen Namen sagte. Dann ging's hinauf in den Schlafsaal, diesen weiten, durch starke verzinkte Drahtgitter wie in lauter Vogelkäfige geteilten Raum. Und in jedes Abteil ließ der Nachtaufseher einen Gefangenen hinein wie ein Raubtier in seinen Zwinger. Der Staat vermeidet unnütze Ausgaben, aber denen, die in den Schlamm gesunken oder die darin groß geworden sind, haftet das Laster wie eine ekelhafte Krankheit an. Und diese Seuche verbreitet sich in den Gefängniszellen mit rasender Schnelligkeit, bei den Erwachsenen wie bei den Jugendlichen. Ja, es scheint, als sei die Pubertät dieser entarteten Kinder, die den Krankheiten und dem Alkoholmißbrauch ihrer Väter zum Opfer gefallen sind, der fruchtbarste Entwicklungsboden für solche Naturwidrigkeiten.

Erichs Schlafnachbarn hatten leise mit ihm plaudern, ihn fragen wollen, aber der Junge gab keine Antwort. Er wollte allein mit sich sein in dieser Dunkelheit, die er liebte, seitdem er im Gefängnis saß.

Und er dachte nach, wie an jedem Abend, über das, was die Richter sein Verbrechen nannten. Noch heute empfand er nicht eine Spur von Reue! Er hatte seiner Mutter beigestanden, der er alles verdankte! Und da war gestern der neue Pastor gekommen und hatte auch wieder angefangen von dem Unsinn, der in den Akten stand: im Schlaf sollte er den Alten … hö! … wo er ihm doch gegenübergestanden hatte, Auge in Auge! … und bloß sich und seine Mutter verteidigt hatte! Aber der Pastor ließ sich nicht davon überzeugen; was in den Akten stände, das wäre richtig! Na, und da hatte ihm Erich denn das zugerufen. Fast mußte er lächeln bei der Erinnerung. Früher, ach früher, da hatte er soviel Respekt vor jedem Erwachsenen gehabt, und nun erst vor einem Geistlichen! Aber hier verlernte man das, unter den »Raben«! Er war auch frech wie die anderen! Und wollte auch frech sein! Er war ja'n Verbrecher!

Da schien plötzlich in der tiefen Finsternis des Schlafsaales ein seltsam stilles Leuchten aufzuglimmen. Und in dem sanften Schimmer sah Erich Kernstock das Bild seiner Mutter, wie er sie stets gesehen hatte, mißhandelt, mit blauen Flecken im Gesicht und blutrünstig … Aufweinend, mit heißen Tränen, preßte er sein Gesicht auf das harte Kissen und schluchzte: »Meine liebe Mutter!«


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