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Der Koprolale

Wie man die ältliche Frau fand, mit leicht gesenktem Kopf, in ihrem Sessel in der Nähe des Ofens sitzend, da hätte man glauben können, sie sei nach einer reichlichen Mahlzeit, einem guten Glase Wein, das sie sehr liebte, ein bißchen eingenickt … Voll von den Schatten der Dämmerung, die eben hereinbrach, sah das Wohnzimmer der Rentiere an diesem Herbstabend so traulich aus mit seinen alten Mahagonimöbeln, daß man die Lampe erwartete, die messingne Stehlampe, deren schöne helle Flamme einer friedlichen Nacht voranleuchten sollte.

Ein paar Hausbewohner, der Portier, seine Frau, die hielten scheu die Tür besetzt. Nur der Schutzmann, ein junger blonder Mensch, mußte sein Grauen überwinden; aber er rief im Befehlshaberton, der in heimlicher Furcht stolperte:

»Bring Se doch mal Licht her! … Man sieht ja nichts! … Sie! … Sie! …« er machte sich Mut im Anrufen der Toten, »Sie!! …«

Aber die Toten haben keinen Respekt vor der Obrigkeit. Frau Amalie Dobmann oder das, was nun noch von ihr übrig war, hob den Kopf nicht, sprach auch kein Wort und nötigte den Schutzmann, dem jetzt jemand eine Küchenlampe in die Hand gab, noch näher heranzugehen und in das grausam entstellte Angesicht hinein zu leuchten … Die Lampe schwankte und flatterte, aber die Faust des ehemaligen Bauernknechtes hielt doch fest … Nur hatte sich des Beamten Stimme ganz verändert, war viel tiefer und heiser geworden, als er jetzt sagte:

»Die is ja tot! … Da … da …« Das Entsetzen der andern, dem er selbst nicht Raum geben durfte, reizte den Mann in der Uniform, »na, so halt' doch mal einer die Lampe! … was soll ich denn noch alles?!«

Die an der Tür besahen sich gegenseitig, schließlich schlich der Portier näher. Und argwöhnisch auf den armen Leichnam schielend, als säße noch der Mörder hinter dem Lehnstuhl, nahm er die Lampe.

Denn der Polizist hatte jetzt die Schnur entdeckt, mit der die Frau erwürgt und geschickt so an den Sessel gebunden war, daß der Körper aufrecht blieb.

»Ekelhaft,« sagte der Schutzmann mit starkem Schlucken, »ekelhaft!« und wandte sich ab.

 

Zwei Stunden später hallte der Raum von vielen Schritten … »Raubmord,« meinte der Chef der Kriminalpolizei, »sicher Raubmord! …« Und Dr. Splittericht, der wenig sprach, wenn er bei seiner blutigen Spezialität nachdachte, sah den hohen Vorgesetzten an, nickte mehrmals mit dem Kopf und sagte dann zu Weigandt, dem zweiten Kommissar in der Mordkommission: »... Das Gesicht …« Das übrige sagte er noch leiser.

Der andere nickte ebenfalls, wandte sich aber rasch dem Geheimen Oberregierungsrat zu und murmelte respektvoll:

»Der Kollege glaubt, nach seiner physiognomischen Kenntnis, das Gesicht der Frau deute auf ein bewegtes Leben …«

»So, meinen Sie?«

»Darf ich höflichst bitten, jetzt ein wenig zurückzutreten!« Kriminalinspektor Dorndorf, Leiter des Erkennungsdienstes, verbeugte sich vor dem obersten Beamten, »darf ich bitten, Herr Oberregierungsrat …«

»Aber ja, bitte sehr, lieber Inspektor, sonst komm ich am Ende mit auf die Platte!«

Viele Schritte, gerade, harte, soldatische und andere, die behutsam, schleichend, immer vorsichtig sich entfernten … Vor dem Anastigmat blitzte die grelle Flamme, einen Augenblick war alles weiß und blendend.

Und Männer in grauen Kitteln mit einer Bahre, Beamte der Morgue … Polizisten dazwischen … hin und her, kalt, gehorsam, gleichgültig, auch beim Lösen der Leiche aus der Schnur, die die Kommissare in Empfang nahmen. Die Furcht war fort, wie ein Dunst, der die Sinne lähmte. Der Körper der Erwürgten, den eben feste Griffe auf die Bahre brachten, der unter dem grauen Laken der Morguediener verschwand, das er bauschte und blähte – dieses kalte, schon in der Verwesung begriffene Gerichtsobjekt flößte kein Entsetzen, keine Angst mehr ein und war nichts als ein schwaches Hilfsmittel für die, die das Rätsel dieser Untat lösen sollten.

»Zuviel Füße!« murrte Dr. Splittericht, der alles mögliche studiert hatte, ehe er Kriminalkommissar wurde.

Aber dieser Füße wurden immer weniger. Ins offne Fenster hinein knatterte das Auto, das den Chef davonführte. Noch Minuten, und die beiden Spezialisten waren allein in der Wohnung, deren Eingangstür Schutzleute flankierten.

»Die Briefe,« sagte der kleine Doktor-Kommissar mit den hellen Augen, der so wenig Haare auf dem mageren Schädel mehr hatte, »die Briefe …«

Und er öffnete, den Schlüssel am Bund gleich findend (wie ein alter Einbrecher), das Zylinderbureau – sein Kollege hatte einer Truhe Deckel aufgehoben: Kleider, Stoffreste, im Lampenlicht aufblinkende Seidenfarben, alte Handtaschen, Pompadours, schäbig und verbraucht, auch Bonbonnièren – alles flog auf den Teppich … und da … Kästen … Pappkartons … ah! … voller Briefe … Briefe … Briefe …

»Wie so ein Hirn beschaffen sein muß!« dachte Dr. Splittericht, »vielleicht hab' ich früher nicht darauf geachtet, aber son' … ausgesprochener Fall von Koprolalie ist mir jedenfalls nicht vorgekommen …« Er blätterte in den Briefen, die nach den nirgends vergessenen Daten sortiert waren, »der Mann ist Kaufmann … zweifellos! … Bureauangestellter oder Lagerist oder so was … kein Beamter … der schreibt nicht so … man kann sich ja da sonst manchmal irren … aber … hier … der Schwung der großen Buchstaben, der flotte Strich bei allen Langbuchstaben … nicht zu verkennen … Monomane natürlich … wühlt förmlich mit seinen Worten in menschlichen Exkrementen … muß auch 'ne merkwürdige Frau gewesen sein, die solche Koseworte hinnahm …« Er drückte, ohne hinzublicken, auf den elektrischen Knopf an der Pultseite.

Und zu der Ordonnanz, die er in das kalte, helle Zimmer stramm hereinschreiten hörte, sagte er, ohne sich umzusehen:

»Schon Meldungen in meiner Sache?«

Die Polizistenstimme antwortete:

»Nein, Herr Kommissar.«

»Gut.«

Der Männerschritt hinter ihm verklang im Türgerausch … Die Telephonklingel ging, sanft, ein paarmal. Der Beamte nahm den Hörer.

»Ja … Kollege Weigandt? … Was? … der Sache … na, habe doch jefragt … ich komme … wie? … Sie kommen? … ja! … sehr nett … bitte! … « Und er verglich und las weiter in diesen Ergüssen einer von Schmutz und Kot berauschten Menschenseele … Gab es in solchem Herzen auch Neigung, Sympathie und Liebe? … Eine rätselhafte Zärtlichkeit jedenfalls, die ihren Gegenstand derart besudelt und ihn zuletzt mit einer Zuckerschnur erdrosselt.

 

»Es ist kaum zu glauben!« meinte Weigandt, dessen breitschultriger Typ so deutlich sprach, als wenn er Uniform getragen hätte, »daß das kein Raubmord war, wenigstens kein gewöhnlicher, das sah man ja gleich, wenn auch die paar Scheine fehlten … aber … aber … was kann der bloß davon haben? versteh' das gar nicht …«

Der kleine Doktor-Kommissar zuckte die Achseln. Dann sagte er, widerwillig förmlich gegen seine eigenen Worte:

»Ich habe einen Irrenarzt gekannt … der schrieb auch so … solche Briefe …«

»Ach nee?«

»Ja, die Psychiater haben manchmal so einen Stich ins Grüne.«

»Hm … « Weigandt kaute an seinem braunen Schnurrbart, »'s gibt wirklich mehr Dinge … haha! … « Er lachte kurz auf, »mein Gott, man lernt doch wirklich nicht aus! … also Koprolalen nennt man die Kerls! … nettes Wort übrigens!« Er lachte wieder, »und Sie meinen?«

»Ja,« nickte der am Pult Sitzende, »ich bin sofort in die nächsten Bedürfnisanstalten gegangen … und ganz in der Nähe von der Straße … «

»Haben Sie die Schrift gefunden? … dieselbe Schrift?«

»Dieselben Worte sogar … wie hier … « Dr. Splittericht zeigte auf einen seitwärts liegenden Brief, »nettes Gedicht, was?«

Immer mit seinem kurzen Auflachen sagte Weigandt:

»Aber ob er noch einmal dahinkommt … dieser anrüchige Schriftsteller? … ja? … meinen Sie wirklich? … se tun's ja manchmal, die Herren Mörder … das is auch so 'ne unerklärliche Sache … sonderbare Geschichte! … wirklich, wenn's nich so gräßlich schauderhaft wäre, man müßte lachen!«

Und er lachte in der Tat.

 

»Glauben Sie's wirklich, Berger, daß er's war?«

»Ja, Herr Kommissar, wie ich reinkam, in die Bude, hatte er schon 'n paar Worte geschrieben … er zuckte ordentlich zusammen, denn ich war ganz leise … und fuhr mit der Hand in die Tasche … Da hatt' er natürlich den Bleistift drin … Ich habe mich aber ganz ruhig an die andre Seite gestellt und so getan, wie wenn mich das nichts anginge.«

Der Kommissar bewegte nur den Kopf, auf dem der kleine schwarze, weiche Filzhut etwas nach vorn saß.

»Und später haben Sie dann die Schrift verglichen?«

»Ja, aber erst bin ich ihm nachgegangen … bis er auf die Elektrische stieg … ich nahm das Auto, das hatte ich hinterher fahren lassen … an der Hußstraße stieg er aus, Ecke Pilotenstraße … und Nr. 22 ist er rein … und da wohnt er auch!«

»Wieso?«

»Er machte 's Fenster auf … so nach zehn Minuten … und kuckte überall rum …«

»Und Sie?«

»Ich saß schräg gegenüber bei dem Magistratsbeamten Eichler, den kenn' ich … in der zweiten Etage …«

»Kam er wieder runter?«

»Nein … ich war zwei Stunden da … er wohnt da … Sablé heißt er, wenigstens steht's so auf de' Visitenkarte an de' Tür … bei eine Putzmacherin …«

»Wirklich?«

Der Unterbeamte wiegte den borstigen Schädel.

»Wenigstens, eingeschrieben ist sie nicht bei uns, Herr Kommissar.«

»Er hat nichts gemerkt, glauben Sie?«

»Absolut nicht!«

»Aber er sah doch aus dem Fenster?!«

Der Beamte schwieg. Er ging neben seinem Vorgesetzten, der ruhig, im Schlenderschritt des Spaziergängers und ohne mehr zu fragen, vorwärts kam, die Straße hinauf; man sah schon den Platz in der kühlen, sonnenlosen Herbstluft sich breiten. Zwischen Büschen, durch die blätterlosen Zweige sichtbar, lag die Bedürfnisanstalt, wie eine große, an beiden Seiten aufgerollte Karte aus graugestrichenem Eisen.

Er war schon daran vorbei, der Kommissar, da drehte er sich um, als nötige es ihn plötzlich, und ging vor dem Schutzmann hinein … Als er heraustrat, nickte er befriedigt.

»Stimmt … ich wußte, daß ich mich auf Sie verlassen kann.«

Der Mann glänzte vor Stolz, er wagte zu fragen:

»Wollen wir'n gleich festnehmen, Herr Kommissar?«

»Natürlich!«

Ein über mittelgroßer Mensch, scheinbar nicht sehr kräftig in den Muskeln, mit einem weichlich blonden Gesicht, in dem blaue Augen trübe schimmerten, ging hin und her in dem kleinen Zimmer – es ließ ihm gerade Platz dazu … Mit einem Zucken, als empfinde er plötzlichen Schmerz, hielt er an … blickte sich erschrocken um, wiewohl alles still war … dann lächelte er, lachte ein bißchen … die sonst gleichgültigen Züge wurden dabei nichtswürdig, gemein.

Da klopfte es an der verschlossenen Tür.

»Herr Sablé!«

»Ja …«

»Es will Sie jemand sprechen!«

»Wer denn? … wer?«

Der Mensch flog an allen Gliedern.

»Zwei Herren!«

»Zwei … Herren … ?« Er stotterte, das Gesicht verzog sich zum Weinen; die fließenden Augen irrten ans Fenster, das offen stand.

»Ja, wer denn? …« sagte er noch einmal, jetzt im Schluchzen.

Da donnerte es gegen die Tür!

»Aufmachen! … sofort! … wir treten die Tür ein!«

»Gleich! …« würgte der Mensch heraus, »gleich, meine … Herren … ich zieh' mir bloß die Hose an.«

»Aufmachen!«

Unter wuchtigem Tritt schütterte das Holz.

Die Hände des Schlotternden hielten die Wasserflasche … gossen … daneben … ins Glas … ein Gläschen kam aus der Westentasche … es floß etwas in das Wasser hinein … er trank … trank bis zum letzten Tropfen …

Die Tür flog auf.

Der Kommissar herein, als erster! … Da hielt er inne, vor dem fahlen, verzerrten Gesicht des Menschen, der sich mit gekrümmtem Leib auf den Tisch stützte.

»Was haben Sie genommen?« sagte der Kommissar.

Indem fiel der Mörder, krampfhafte Schlingbewegungen in Kinn und Kiefern, gurgelnd, schnaufend, röchelnd.

Der Kriminalschutzmann faßte ihn, trug ihn aufs Bett. Da lag er mit rollenden Augen, schon der Sprache beraubt und noch gepeinigt von dem fürchterlichen Gift, das ihm wie der Blitz in Herz und Hirn gesprungen war. Er verzuckte.

»Besser so …« murmelte der Kommissar, »telephonieren Sie an einen Arzt, Berger! … 's is umsonst … aber wir müssen unsre Pflicht tun.«


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