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13. Es muß doch Frühling werden

Der Winter ist gegangen und der Frühling ins Land gekommen. Lange, lange wollte der harte Mann in diesem Jahr nicht weichen. Der Nienhager Pastor suchte vergebens im Februar nach Schneeglöckchen, und als er traurig war, daß er keins fand, klopfte ihm sein treues Weib auf die Schulter und sagte: »Nur unverzagt und Gott vertraut, es muß doch Frühling werden!«

Und es ward Frühling! Mariechen jauchzte über die ersten grünen Blättchen, die sie im Garten entdeckte. Und als sie dann vierzehn Tage später mit den Kindern in ihr Lieblingsholz ging, da konnten sie schon Veilchen pflücken und Kränze von Anemonen winden. Die Vöglein sangen dazu und die Sonne schien so warm, daß es eine Lust und Freude war, sich draußen zu tummeln. Mariechen war so fröhlich, es war fast, als ob der alte Übermut früherer Jahre wieder über sie gekommen. War es, daß sie sich der alten Schuld ledig fühlte, oder war es die Freude auf das immer näher rückende Pfingstfest, wo sie endlich die Ihrigen wiedersehen, endlich in die geliebte Heimat reisen durfte? Es war wohl alles zusammen, was sie froh stimmte, auch daß sie sich je mehr und mehr in Birkenfelde eingelebt, mehr und mehr Einfluß auf die ihr anvertrauten Kinder gewann. Die gegenseitige Liebe wuchs, und das Vertrauen der Eltern zu der treubewährten Lehrerin ihrer Kinder ward immer größer. Die Zeit von Weihnachten bis Ostern war unter fleißigem Lernen und Arbeiten schnell vergangen.

Pastor Werner hatte sie selten gesehen, sie stand ja jetzt auf leidlichem Fuß mit ihm. Er begrüßte sie freundlich, wenn er aufs Schloß kam, fragte auch ab und zu nach ihren Eltern, aber im ganzen ging sie ihm gern aus dem Wege, ängstlich jeden Anklang auf früheren Zeiten vermeidend.

Wie und was Pastor Werner jetzt überhaupt von ihr dachte, wußte sie gar nicht. Sie war froh, daß das verzeihende Wort gesprochen war, daß er ihr nicht mehr zürnte. Therese war immer sehr liebenswürdig und freundlich. O, wenn sie doch nicht gerade die Schwester vom Pastor gewesen wäre, wie innig hätte sich dann Mariechen an sie anschließen können, sie war innerlich so gereift, hatte ein so verständiges Urteil über alles und war dabei so heiteren, fröhlichen Gemüts, daß sie für Mariechen etwas sehr Anziehendes hatte. Außer Hildegard hatte Mariechen keine Freundin in der Umgegend, und wie selten konnte sie Hildegard sprechen; jetzt wo sie schon wochenlang verreist war, gar nicht. – –

An dies alles dachte Mariechen, als sie mit den Kindern Ende April im Holz zu Birkenfelde war. Die Kinder sprangen fröhlich vor ihr her und pflückten Blumen; sie freute sich des erwachenden Frühlings und gab ihren Gedanken Audienz.

Diese kehrten wieder zu Hildegard zurück. »Arme Freundin,« dachte sie. »Du hast nicht viel Freude auf dieser Welt.« Wie traurig war es gewesen, als Mariechen sie im März das letzte Mal besuchte!

»Hast du es schon gehört?« hatte Hildegard sie gefragt und Mariechen hatte still genickt. Sie wußte ja, was die Freundin meinte, es war das, was alle Gemüter bewegte. Graf Horst, der zu Weihnachten nach Hause gereist, war nicht wieder gekommen. Er hatte auf ein weit entlegenes Gut reisen müssen, hatte dort soviel zu tun gefunden, soviel Unannehmlichkeiten abzuwickeln, daß er nicht gleich an die Heimreise denken konnte. Da – der Tag der Abreise nach Horst war schon bestimmt – erkrankte er plötzlich so heftig, daß an kein Reisen zu denken war. Einige Tage später saß die Mutter sorgenvoll an seinem Krankenlager, er hatte den Typhus, sein Leben schwebte in großer Gefahr. Der Graf und die Gräfin sprachen von all diesen Sachen bei Tische, wenig ahnend, wie tief es Hildegard erschütterte. »Die Nachrichten lauteten trüber,« hatte eines Tages der Graf gesagt. »Ich sprach den Inspektor von Horst, er sagte mir, nach den letzten Berichten sei kaum mehr an Besserung zu denken. Der arme junge Graf, das Leben lag so hoffnungsreich vor ihm – und nun soll er es schon verlassen!« Die Gräfin unterdrückte einen Seufzer, doch ihr schwermütiger Ausdruck ließ ahnen, daß sie an den eigenen Sohn dachte, der ihr in der Blüte seines Lebens entrissen worden. Was würde sie darum gegeben haben, wenn sie ihn nur hätte pflegen, ihm die Augen zudrücken können. Und Hildegard? Sie mußte alles stumm anhören; durfte mit keiner Miene verraten, wie nahe es sie anging! Als sie aber oben allein war, brach sie zusammen. »O mein Gott, mein Gott,« schluchzte sie, »er krank und elend, vielleicht sterbend, und ich kann nichts für ihn tun!« Es war ihr, als müßte sie sich aufmachen und zu ihm eilen. Dann aber wieder schüttelte sie traurig das Haupt und sagte leise: »Wie töricht! Wie stolz und kalt würde mich die Mutter behandeln, mich als Eindringling betrachten, der nicht zu ihnen gehört! Nein, ich will meinen Schmerz allein tragen, niemand soll etwas davon ahnen.« Sie vergegenwärtigte sich den Gesellschaftsabend in Klosterberg, wo er sie ganz unbeachtet gelassen. »Er will das Verhältnis lösen, seine Freude am See war nur eine vorübergehende, leidenschaftliche Erregung, er will mir nicht mehr begegnen, deshalb hat er auch ein anderes Gut zu seinem Wohnsitz erwählt, ist nicht hierher zurückgekehrt! – – Wird er wieder gesund, so mache ich ihm Platz, so weh es mir tut, meine liebe Gräfin zu verlassen. Ich muß fort, es geht nicht anders!«

»Und warum müssen Sie fort, mein liebes Kind?« ertönte eine sanfte Stimme, und die Gräfin beugte sich über Hildegard, streichelte ihr sanft die heißen Wangen.

Hildegard, ganz überwältigt, warf sich leidenschaftlich in ihre Arme und schluchzte so krampfhaft, daß die Gräfin vorderhand nichts weiter tun konnte, als sie durch sanftes Zureden zu beruhigen. Daß Hildegard einen großen, heimlichen Kummer haben mußte, war ihr jetzt klar. Sie hatte bemerkt, daß sie bei Tisch erbleichte und heftig zitterte, und wenn sie dies auch nicht in Zusammenhang bringen wollte und konnte mit dem Gespräch über Graf Horst, so machte ihr doch die Erregung Hildegards und ihr plötzliches Fortgehen solche Unruhe, daß sie ihr nachging und eben eintrat, als Hildegard die letzten Worte sprach.

Als Hildegard endlich durch den freundlichen Zuspruch der Gräfin ruhiger geworden, nahm diese sanft ihre Hand, sah sie liebevoll und besorgt an und sagte mit mütterlicher Stimme: »So, mein liebes Kind, nun fassen Sie Vertrauen zu mir, sagen Sie mir alles, was Sie drückt. Es wird Ihnen leichter, wenn Sie sich aussprechen.« Da war das Eis geschmolzen. Hildegard konnte nicht widerstehen. Sie begann zu erzählen, von ihrer ersten Begegnung an, von den Kämpfen, von dem Geständnis ihrer gegenseitigen Liebe, von dem Zorn der Eltern, von Waldemars Fortgang in die weite Welt, von den Jahren, wo sie allmählich den Kummer überwunden, und schließlich von der neuen Begegnung in Horst, einen Tag vor dem Gesellschaftsabend.

Die Gräfin hörte mit staunender Bewegung zu. »Und das alles konnten Sie so lange vor mir verbergen,« sagte sie vorwurfsvoll.

»Ein armes Mädchen, das hoffnungslos liebt, darf nicht von seiner Liebe reden, sondern muß sie aus dem Herzen reißen!« erwiderte Hildegard, sich stolz aufrichtend. »Und ich will mich nun auch nicht mehr von dieser Schwäche gefangen halten lassen. Sollte Graf Horst genesen, zu Gott hoffe ich es, sollte er hierher zurückkehren – dann, gnädige Gräfin, entbinden Sie mich meines Dienstes. Ich muß fort, Sie begreifen jetzt warum!«

»Wir wollen alles Gott anheimstellen, meine liebe Hildegard. Eine Liebe zwischen zwei im Leben ungleich gestellten Menschen bringt immer Herzeleid. Ich habe es selbst bitter erfahren, darum werde ich die letzte sein, die Hoffnung in Ihnen erweckt. Es ist schwer, sehr schwer für Sie, aber denken Sie, daß wir alle unser Kreuz haben, daß wir alle durch viel Trübsal müssen ins Reich Gottes eingehen.« Dieses und noch vieles andere sprach die fromme Gräfin zu Hildegard und wußte sie durch Erzählungen von den mancherlei Prüfungen ihres eigenen Lebens geschickt von ihrem eigenen Kummer abzulenken. Dann wurden sie durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Der Diener meldete Fräulein Rothe aus Birkenfelde, und Mariechen folgte ihm auf dem Fuße.

»Das ist das Beste, was Sie hatten tun können, mein liebes Fräulein Mariechen,« sagte die Gräfin, ihr freundlich die Hand reichend. »Plaudern Sie recht fröhlich mit Fräulein Schmidt, erzählen Sie ihr, daß die düstern Wolken von der Stirne weichen. Und nachher können Sie beide den Kaffee mit uns trinken.« Sie nickte den jungen Mädchen freundlich zu und entfernte sich.

Die Freundinnen sprachen viel und ernst zusammen. »Weißt du, Mariechen,« sagte Hildegard, »ich will ja gern auf alles verzichten – aber es tut mir so weh, daß er vielleicht meinetwegen Horst verlassen und nach Warsow übergesiedelt, wo das sumpfige, ungesunde Klima ihm die schwere Krankheit zugezogen.«

»Das ist nicht der Grund, Hildegard. Man sagte mir, der dortige Inspektor sei gestorben, und er habe schleunigst und unerwartet die Reise dorthin machen müssen.«

Hildegard atmete erleichtert auf. »Wie mag es nur jetzt gehen!« seufzte sie endlich.

»Es werden gewiß bald günstigere Nachrichten einlaufen,« tröstete Mariechen. »Hast du denn gute Nachrichten von Hause, von deinem Mütterchen?« – »Auch ziemlich lange nicht, das Ausbleiben der Briefe hat mich schon besorgt gemacht, es kommt alles zusammen, was das Herz beunruhigt.«

Als Hildegard und Mariechen später mit der Gräfin beim Kaffee saßen, brachte der Diener ein soeben eingetroffenes Telegramm.

»An wen?«

»An Fräulein Hildegard Schmidt!«

Hildegard erbleichte. Sie hatte noch nie ein Telegramm bekommen; es mußte etwas Außergewöhnliches sein. Zitternd erbrach sie das Papier, das nur die wenigen Worte enthielt:

»Mutter gefährlich erkrankt! Komme schnell. Minchen.«

»Meine Mutter!« stammelte Hildegard; »ich muß gleich abreisen.«

»Armes Kind,« sagte die Gräfin, »es kommt alles über dich!« Sie gab sofort Befehl, die nötigen Sachen zu packen, Mariechen half, wo sie konnte. Das Anspannen wurde bestellt und in einer halben Stunde rollte der Wagen vor. Hildegard nahm herzbeweglichen Abschied, vielleicht für immer – und fort rollte der Wagen, um das tiefbekümmerte Mädchen in die Ferne zu führen, zu ihrer todkranken Mutter. –

Auf Mariechen hatte dieser Tag großen Eindruck gemacht; sie war dann einmal wieder in Klosterberg gewesen, und hatte von der Gräfin gehört, daß Hildegard die Mutter zwar am Leben getroffen, doch so krank, daß wenig Hoffnung auf Besserung vorhanden sei. Mit Graf Horst hatte es sich gebessert. Herr von Ulbersdorff hatte davon gesprochen, daß er wieder auf sein Gut zurückzukehren beabsichtige. Näheres wußte sie auch nicht. Sie hielt es für ein Glück, daß Hildegard jetzt fern weilte und glaubte bestimmt, daß selbige nun ihre Stellung hier aufgeben würde, um anderswo ein Unterkommen zu suchen. –

»Fräulein Rothe, Sie pflücken ja gar nicht mit, sehen Sie nur die schönen Veilchen,« sagte Adele fröhlich, »so viele Veilchen hat es noch nie gegeben.«

»Veilchen sind meine liebsten Blumen, Ihre auch?« meinte Gretchen.

»Ich habe die Maiblumen so gern,« sagte Mariechen gedankenvoll –

»Gewiß, weil Ihr Geburtstag im Mai ist. Da bekommen Sie immer viel Maiblumen geschenkt. Nun wollen wir Ihnen tüchtig viel Kränze von Maiblumen winden!«

Adele meinte: »Sie ist ja in diesem Jahr gar nicht hier zu ihrem Geburtstag, sie will ihn ja zu Hause verleben!«

»Meinen Geburtstag verlebe ich noch hier,« sagte Mariechen, freundlich lächelnd. »Er wird am Freitag vor Pfingsten sein und erst Sonnabend beginnen die Ferien, da reise ich früh um vier Uhr ab und bin abends um zehn bei den Meinen.«

»Es ist recht schade, daß Sie fortgehen. Es wird gar nicht hübsch sein ohne Sie, es ist immer so langweilig, wenn Sie nicht da sind!«

»Aber Gretchen, du mußt dich doch freuen, wenn Fräulein Rothe ihre Eltern und Fräulein Emma wieder sieht! Sie haben sich über ein Jahr nicht gesehen!«

»Ja, ich freue mich auch,« sagte Gretchen, sich an Mariechen schmiegend, »aber am liebsten reiste ich mit!«

»Und ich freue mich am meisten auf den Tag, an dem Fräulein Rothe wiederkommt!« rief Luise. »Da wollen wir alles bekränzen und ein schönes Fest feiern!«

»Das wird schön werden,« sagte Mariechen zerstreut, ihre Gedanken waren heute gar nicht wie sonst bei den Kindern. Sie gedachte der alten Zeiten, der vorigen Jahre!

 


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